Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.03.2003. In der taz kritisiert der Sprecher von Amnesty International die Medien und die Politik, die sich in einen Kriegszustand hineinreden und dabei die Menschenrechte opfern. In der FAZ erklärt Martin Amis, warum man Krieg gegen den Irak führt: weil das Land keine Atombomben hat. In der Zeit hält Christoph Dieckmann Äquidistanz zu USA und UdSSR. Die FR fragt, ob die Gruppe 47 nicht doch antisemitisch war. Die NZZ erinnert an die geschickte Berner Bündnispolitik vom 6. März 1353.

Zeit, 06.03.2003

Christoph Dieckmann ist bei der Zeit zuständig für ostdeutsche Befindlichkeiten. Zum Jahrestag der "Reichskristallnacht" vor anderthalb Jahren meditierte er in seiner Eigenschaft als Ossi über "Israels Erwählungshybris". Heute denkt er über das Verhältnis der Ostdeutschen zu Amerika nach. "Der Anti-Allende-Putsch von 1973, vom CIA angezettelt, hat für Ostdeutsche meiner Generation Amerika als moralische Größe genauso ruiniert wie 1968 der Prager Frühling die Sowjetunion. Ich rechne nicht auf. Ich rede vom gleichgewichtigen Ende der Illusionen."

Weitere Artikel: Auf den Seiten zwei und drei des Feuilletons wird die Vitalität des "alten Europas" gleich mit neun Theaterrezensionen unterstrichen. Es geht unter anderem um Albert Ostermaiers "Katakomben" in Frankfurt, Pascal Dusapins Oper "Perela" in Paris, Smetanas "Verkaufte Braut" in Stuttgart und Tschechows "Drei Schwestern" am Deutschen Theater Berlin. Michael Mönniger hat das kritische Buch über die französische Zeitung Le Monde von Pierre Pean und Philippe Cohen (mehr hier) gelesen und teilt dessen Kritik am wirtschaftlichen Gebaren der Zeitung, aber nicht den republikanischen Fundamentalismus der Autoren. Thomas E. Schmidt denkt über das "Superstar"-Spektakel nach.

Besprochen werden Steven Soderberghs "Solaris"-Verfilmung und die Ausstellung "Painting Pictures - Malerei und Medien im digitalen Zeitalter" in Wolfsburg.

Aufmacher des Literaturteils ist Jens Jessens Besprechung von Philip Roth' Roman "Das sterbende Tier".

Im politischen Teil finden wir einen Essay von Ronald D. Asmus (mehr hier), einem ehemaligen Berater Madeleine Albrights, der fordert, dass die USA den Nahen Osten demokratisieren sollen - "notfalls militärisch" (Antreten zum Demokratisieren! Yes, Sir, yes) Im Leben porträtiert Jörg Lau den amerikanischen Philosphen Michael Walzer, der gegen einen Krieg mit dem Irak plädiert, obwohl er auch die langjährige Appeasement-Politik der Deutschen, Franzosen und Russen scharf attackiert (einen Essay von Walzer zur Frage publiziert die neue New York Review of Books).

SZ, 06.03.2003

"Vor Kriegen herrscht eine multiple Zeit." Der Göttinger Soziologe und Terrorismusforscher Wolfgang Sofsky präsentiert einen kurzen Abriss über die verschiedenen Arten des Zeitvergehens vor dem Krieg: "Die Zeit der Diplomatie verläuft anders als die Zeit der Mobilmachung, die Zeit der Soldaten ist eine andere als die der Zivilisten. Die Hektik erfasst vor allem den Beobachter, der die Lage nicht überschaut. Er hat alle Mühe, auf der Höhe der Zeit zu sein. Zu Unrecht hält er den Wechsel der Meldungen für den Rhythmus der Politik ... Zeit ist für die Diplomatie ein Trumpf im Machtspiel. Unterhändler sind Virtuosen der Zeitpolitik. Verzögerung, Vertröstung oder überraschende Seitenwechsel gehören zu den taktischen Finessen der Verhandlungskunst. Wer eine missliebige Entscheidung verhindern will, spielt auf Zeit. Er fordert weitere Expertisen an, dehnt die Untersuchungszeit aus, um Wochen, um Monate, bis der Konflikt seine Brisanz verloren hat."

In einem Artikel über die Verbrüderung von Krieg und Werbung und den Einfluss des Pentagon auf Hollywoodproduktionen erzählt Willi Winkler eine schön ausgedachte Anekdote über Bruce Willis, der angeblich am 11. September 2001 in einem Lokal in Manhattan saß. "Aus dem Fernseher kamen die Bilder vom brennenden World Trade Center, Panik wallte durchs Lokal, und mit einem Mal wandten sich alle Blicke dem Helden zu, der es in drei 'Die Hard'-Filmen mit allen Widrigkeiten aufgenommen und am Ende immer gesiegt hatte. Willis hob entschuldigend die Schultern."

Weitere Artikel: Robert Gernhardt hat George W. Bush beim Beten belauscht. Friedrich Wilhelm Graf ist froh, dass die Körperwelten-Ausstellung des Chefnekromanen dieser Republik, Gunther von Hagen, in München nicht verboten wurde: "Freiheit ist auch die Freiheit zu Obszönität und Geschmacklosigkeit." Lothar Müller schließlich teilt mit, dass es manche Staaten als Beleidigung empfinden, wenn ihre New Yorker UN-Botschaften NICHT von den USA abgehört werden. "cjos" berichtet von Wiener Querelen um einen österreichischen Arisierungsbericht. Außerdem gibt es ein Interview mit Solaris-Regisseur Steven Soderbergh.

Besprochen werden Julie Taymors Film "Frida", Kirby Dicks Masochistenfilm "Sick", Joachim Schlömers Inszenierung der Debussy-Oper "Pelleas und Melisande" am Theater Basel, Klaus Schumachers Uraufführung von Kristo Sagors Jugendstück "FSK 16" am Bremer MOKS-Theater und Bücher, darunter Stewart O'Nans "Der Zirkusbrand" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

TAZ, 06.03.2003

Auf der Meinungsseite sieht der Historiker und Sprecher von amnesty international, Dawid Danilo Bartelt, seit dem 11. September nicht nur "bei den üblichen Verdächtigen" menschenrechtliche Standards aufweichen, sondern auch in rechtstaatlichen Demokratien. "Die Regierungen in Washington, London oder Berlin segnen Russlands schwere Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien als 'Antiterrormaßnahme' ab....Auch die jetzige Debatte um Folter gehört in diesen Zeitgeist. Politik und Medien operieren unter einem permanenten diskursiven Kriegszustand. Dieser Diskurs erklärt den Ausnahmezustand zur Normalität und macht geltend, dass angesichts völlig neuer Herausforderungen menschenrechtliche Grundsätze nicht immer zu halten seien.....Menschenrechte brauchen Schutz. Sie brauchen VerteidigerInnen. Es reicht nicht, wenn Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international das tun. Polizei(vize)präsidenten, Ministerpräsidenten, Justizministerinnen, Richterbundvorsitzende müssen sich unzweideutig zu den Grundlagen des Rechtsstaates bekennen, den sie repräsentieren - gerade, wenn eine Stimmungslage diese Grundlagen anzweifelt."

Hakeem Jimo war beim gößten Filmfestival Afrikas, dem Fespaco in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos. Wohin bewegt sich das afrikanische Kino, hat er einige Filmemacher gefragt. "Alain Oyoue, Cineast aus Gabun, bringt den Zustand des afrikanischen Films so auf den Punkt: 'Im afrikanischen Spielfilm gibt es Bilder ohne Geschichten oder Geschichten ohne Bilder.' Ein Bruch müsse her - vor allem bei den dominierenden frankophonen Filmen. Weg von dem Einfluss der Filmkultur Frankreichs, wo die meisten der Filmemacher leben."

Besprochen werden: Wayne Wangs Film "Manhattan Love Story" mit Jennifer Lopez, Salma Hayeks (und Julie Taymors) Film "Frida", Maria Ripolls Komödie "Tortilla Soup" und Slavoj Zizeks (mehr hier) Richard-Wagner-Essay "Der zweite Tod der Oper".

FR, 06.03.2003

Hanno Loewy denkt über die ablehnenden Reaktionen auf Klaus Brieglebs Streitschrift "Missachtung und Tabu" - Wie antisemitisch war die Gruppe 47? - nach und zieht einige bittere Schlüsse: "Mancher geht dabei so weit, Brieglebs Argumente zu pathologisieren. Reinhard Baumgart vergleicht ihn schließlich gar mit David Irving. Nun ja - als Paul Celan 1952 auf der 47er Tagung in Niendorf ausgelacht wurde, da hätte sein "pathetischer" Vortragsstil die 47er, wie Walter Jens sich ganz arglos äußerte, an Joseph Goebbels erinnert. Man ist also selbst nicht zimperlich, wenn der Spaß aufhört. Die interessante Frage aber ist, warum eigentlich der Spaß gerade hier aufhört. Ist Brieglebs Streitschrift am Ende doch nicht Ausdruck einer 'Anti-Richter (-Walser, -Grass, -Raddatz, -Kaiser)-Obsession' ... sondern etwas Einfacheres: Ausdruck einer Wut? ... Ist Brieglebs Wut eine zwar nicht kluge, aber verständliche Reaktion auf ein Phänomen, dessen Gestalt wir im Verhalten eines Raddatz, eines Jens oder Baumgart erneut, sozusagen frisch studieren können?" Für Loewy erweist sich die Gruppe 47 als "ein Projekt, das Antisemitismus aus sich heraus neu schafft - jederzeit bereit, sich hinter Schulterzucken und Arglosigkeit zurückzuziehen."

Weitere Themen: in der Kolumne Times Mager versteckt sich ein Glückwunsch an Gabriel Garcia Marquez, der heute Geburtstag hat. Michael Braun berichtet, dass nach der Gründung der BuchBasel in der kleinen Schweiz neben dem Salon du Livre in Genf demnächst also zwei Buchmessen um die literarische Hegemonie konkurrieren werden.

Besprochen werden: Rupert Lummers Inszenierung von Alfredo Catalanis seltener Oper "Loreley" am Theater in Regensburg, Steven Soderberghs Neuverfilmung des Science-Fiction-Klassikers "Solaris" und Julie Taymors Kahlo-Film "Frida" (der Sascha Westphal ziemlich begeistert hat) und Nikolaus Müller-Schölls Heiner-Müller-Buch "Das Theater des 'konstruktiven Defaitismus'. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller, das für den Kritiker allein wegen einer "bahnbrechende Relektüre des Müller-Stückes 'Lohndrücker' Mühe und Ausdauer wert waren (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 06.03.2003

Die Schweiz feiert mal wieder eines jener Jubiläen aus der Urgeschichte der Eidgenossenschaft, um die sie der Rest der Welt beneidet: "Berns Bündnis vom 6. März 1353 mit Uri, Schwyz und Unterwalden", so erinnert Thomas Maissen, "setzte ein Gegengewicht zu den Habsburgern, an dem auch Luzern und Zürich interessiert waren, die indirekt über Beibriefe einbezogen wurden. Gerade wegen der Vielzahl von Bündnissen, über die Bern verfügte, befand es sich bei solchen Verhandlungen in einer recht starken Position - anders etwa als Zürich 1351, das aus seiner Isolation in den Vertrag mit den Innerschweizern flüchtete."

Sonst dominieren, wie immer am Donnerstag, die Buchbesprechungen. Vorgestellt werden unter anderem Per Olov Enquists "kühnster Roman" "Lewis Reise" (mehr hier), Dieter Meichsners Roman "Die Studenten von Berlin", Hannah Arendts "Denktagebuch" (mehr hier) und Erzählungen von Gregor Sander (mehr hier).

Besprochen werden auch die Oper "Il Prigioniero" von Luigi Dallapiccola in Wien, ein Album des kubanischen Musikers Ibrahim Ferrer (mehr hier) und eine CD der tot geglaubten Neue-Welle-Band Deutsch-Amerikanische Freundschaft.

Zitiert wird ein Aufruf iranischer Exilautoren an die internationale Friedensbewegung: "Die Tatsache, dass weltweit Millionen Menschen auf die Strassen gehen, um gegen Krieg und Vernichtung zu protestieren, verdient große Achtung... Das Regime Saddams ist jedoch bestrebt, auch daraus Nutzen zu ziehen. Wir sind besorgt darüber, dass dabei die Verbrechen von Saddam in Vergessenheit geraten."

FAZ, 06.03.2003

In nicht weniger als in ein neues Zeitalter werden wir mit dem Krieg gegen den Irak eintreten, glaubt der britische Schriftsteller Martin Amis (mehr hier), und zwar in das "Zeitalter der Proliferation". Was uns dabei erwartet, wird an der seltsamen Logik deutlich, die Amis für den Irak-Krieg so skizziert: "Sobald ein Land das riskante, abscheuliche Werk der Beschaffung von Massenvernichtungswaffen verrichtet hat, wird es unangreifbar. Eine einzelne, noch nicht getestete Atombombe kann fatal für ein Land sein. Fünf oder sechs Atombomben sorgen für Abschreckung. Daraus folgt, dass wir gegen den Irak in den Krieg ziehen, weil er keine Massenvernichtungswaffen besitzt. Oder jedenfalls nicht viele. Wenn wir genau wissen wollen, was der Irak besitzt, brauchen wir ihn nur anzugreifen... Das Pentagon ist offenbar davon überzeugt, dass Saddams Massenvernichtungswaffen unterhalb einer bestimmten kritischen Menge bleiben. Sonst könnte man ihn nicht angreifen."


Weitere Artikel: Patrick Bahners bedauert, dass der Biochemiker Ernst-Ludwig Winnacker den Nationalen Ethikrat vor einem Monat verlassen hat. Hannes Hintermeier verabschiedet mit einem ausgesprochen wohlmeinenden Porträt Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair. Gina Thomas kündigt an, dass der englische Penguin Verlag seine Klassiker in ganz neuem Gewande herausgeben wird. Andreas Platthaus berichtet, dass die Urheberrechte an Micky Maus zur Freude Disneys um zwanzig Jahre verlängert werden. Tilman Spreckelsen bereitet auf eine neue Runde im Streit um die Autorengehälter vor. Im Vorabdruck ist ab heute der Roman "Die Schwalben von Kabul" von Yasmina Khadra (mehr hier) zu lesen, die eigentlich Mohammed Moulessehoul heißt und als Offizier in der algerischen Armee diente.

Steven Soverberghs Film "Solaris" findet Andreas Kilb ebenso faszinierend wie gescheitert: "Es gibt keinen Ausrutscher, keine Peinlichkeit, keine dunkle Stelle, die man dem Film vorwerfen kann, nur eben dies: dass er keinen Ausrutscher und keine dunkle Stelle riskiert. Er meißelt das Weltall in Marmor." Außerdem empfiehlt Kilb die HBO-Serie "Band of Brothers" auf DVD oder Video. Michael Althen erklärt, warum das Kino sich so schwer mit Verfilmungen von Georges Simenon getan hat.

Für die Medien-Seite hat Frank Pergande in der einzigen überlebenden DDR-Kinderzeitschrift Frösi ("Fröhlich sein und Singen") geblättert. Früher habe sie ihren Zweck immer prima erfüllt, meint Pergande, sie wurde gern gelesen, war kaum zu bekommen und inszenierte schön bunt ihre Botschaft, nach der niemand zu klein sei, um ein Kämpfer zu sein.

Besprochen werden Saburo Teshigawaras Choreografie zu John Cages "Air" in Paris, eine Schau von Hans-Peter Feldmanns Bildern im Kölner Museum Ludwig und Bücher: Schillers "Historische Schriften", Shirin Kumms Roman "Royadesara" und Bazon Brocks Schriften "Der Barbar als Kulturheld" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).