Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2003. In der FR schildert der Exil-Iraker Faleh A. Jabar die irakischen Hoffnungen auf Befreiung von Saddam Hussein. In der FAZ glaubt Herfried Münkler nicht, dass sich die USA noch zurückziehen können - es wäre ein Triumph für Saddam. In der NZZ wirft Bogdan Musial einen Blick auf die polnische Kollaboration mit den Nazis. In der SZ freut sich Daniel Libeskind über den Hiroshima Friedenspreis. Und alle Zeitungen begrüßen die Entscheidung für Libeskind in New York.

NZZ, 28.02.2003

Der polnische Historiker Bogdan Musial, der einst durch seine Kritik an der Wehrmachtsausstellung bekannt wurde, befasst sich auch mit unschönen Kapiteln in der Geschichte des eigenen Landes. Er schildert die polnische Kollaboration zur Zeit der deutschen und russischen Besatzung nach 1939. Zwar wollten sowohl Stalin als auch Hitler Polen auslöschen und akzeptierten keine offizielle Kollaboration, aber das heißt eben nicht dass es keine Kollaborateure gab: "Nicht wenige.. dienten sich den deutschen Besatzern eifrig an. Sie beteiligten sich an den Razzien auf Zwangsarbeiter, der Bekämpfung des Widerstandes und an der Judenverfolgung. Auch das Denunziantentum war, wie in jedem anderen besetzten Land, ein weit verbreitetes Phänomen."

Der Zürcher Politologe Dieter Ruloff analysiert die gegenwärtige Lage im Irak-Konflikt aus kriegstheoretischer Sicht und schließt, dass ein "Zwischenfall" bevorstehen könnte: "Zwischenfälle hat die Kontrolle der Flugverbotszone über dem Süd- und dem Nordirak in den letzten Jahren mehrfach geliefert; solche sind auch in nächster Zeit nicht ausgeschlossen. Ebenfalls würde ein größerer terroristischer Anschlag die Kriegsmaschinerie in Gang bringen."

Besprochen werden eine Thomas-Struth-Werkschau im Metropolitan Museum, das Stück "Helges Leben" von Sibylle Berg am Theater Basel und ein Konzert mit dem polnischen Dirigenten Stanislaw Skrowaczewski in der Tonhalle Zürich.

Auf der Filmseite werden unter anderem der ethnografische Dokumentarfilm "Mounted by the Gods" von Alberto Venzago, Lukas Moodyssons Film "Lilja 4-ever" und das isländische Familiendrama "The Sea" von Baltasar Kormakur besprochen.

Einige interessante Hintergrundberichte finden sich wie stets auf der freitäglichen Medien- und Informatikseite. Steffan Heuer sieht die New York Times auf Expansionskurs. Die etwas behäbigen europäischen Qualitätsblätter sollten sich zumal vor der International Herald Tribune vorsehen, die heute allein der NY Times gehört. Aber "der Vorstoß nach Europa ist nicht das einzige Gebiet, auf dem die New York Times Company (Jahresumsatz: 3,1 Milliarden Dollar) aggressiv investiert, seitdem Gründer-Erbe Arthur Ochs Sulzberger Jr. den Verwaltungsrat leitet. Ende März geht ein Kabelkanal auf Sendung, in den das Unternehmen 100 Millionen Dollar steckt. Der Discovery Times Channel wird in vorerst 25 Millionen Haushalten ausgestrahlt und ist nach dem Aufkauf von acht Lokalsendern der erste Brückenkopf der Times im landesweiten Fernsehgeschäft."

Einen zweiten Hintergrundartikel aus den USA bringt Christa Piotrowski, die von Bestrebungen berichtet, ein linkes Radionetz aufzubauen und mit linken Talkmastern ihren so erfolgreichen rechten Konkurrenten Konkurrenz zu machen.

FR, 28.02.2003

Die Mehrheit der irakischen Bevölkerung sehne den Sturz Saddam Husseins herbei, meint der Soziologe und Exil-Iraker Faleh A. Jabar und fasst Ängste und Hoffnungen in Bagdad so: "Die neue Entschiedenheit der USA, Saddam Hussein zu stürzen, hat die Iraker zunächst nicht weiter beeindruckt. Als die herrschende Elite und ihre Geschäftspartner jedoch anfingen, Gold zu kaufen (ein schlechtes Omen) und damit Zeichen echter Sorge verrieten, realisierten immer mehr Menschen, dass die 'Republik der Angst' sich vielleicht doch endlich als egalitär erweisen würde. Mit dem Anschwellen der Kriegsrhetorik begann man, sich vorsichtig aus der Starre ewiger Skepsis zu lösen und Hoffnung zu schöpfen - auch wenn kaum jemand ernsthaft erwartete, das Einparteien- und Ein-Stammes-System könnte wirklich am Ende sein und sie selbst tatsächlich frei werden."

Weitere Artikel: Claus Leggewie donnert gegen die "ungesetzliche und unverhältnismäßige" neo-imperiale Strategie der USA und verabschiedet zugleich auch die "Legende von der absoluten Übermacht" der USA. Eva Schweitzer und Christian Thomas kommentieren die gewaltige PR-Schlacht um den Neubau des World Trade Centers, die letztlich Daniel Libeskind dank guter Performance verdient gewonnen hat: "Der New Yorker Pioniergeist hat den Turmbau auf Ground Zero stets auch deshalb als einen Extremsport angesehen, um seine eigene Gegenwartsfixierung transzendieren zu können."

Zu lesen ist außerdem ein kurzer Auszug aus dem Roman "Shita' bila Matar" (Winter ohne Regen) des irakischen Autors Mahdi Issa al-Saqrs. Times Mager gibt uns Sicherheit in ungefähren Zeiten, die Bestenliste von Roth und Tetzlaff: "Der beste Roman ever written ist Anna Karenina (von Tolstoi), die beste Oper der Bettelstudent (der halt leider eine Operette ist), die beste Platte Rated R von Queens Of The Stone Age (Einspruch: Es ist Hat von Mike Keneally)."

Besprochen werden die Christian-Schad-Ausstellung im Pariser Musee Maillol, Barbara Beyers Händel-Oper "Xerxes" in Aachen, der Film "Jackass" der Knoxville-Truppe von MTV. Und Bücher, darunter William Peppers Studie "Die Hinrichtung des Martin Luther King" und Robert Kagans Band "Macht und Ohnmacht" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 28.02.2003

Der Politologe Herfried Münkler, Autor des Buchs "Die neuen Kriege", zitiert einige historische Erfahrungen um darzulegen, dass ein Rückzug der amerikanischen Truppen aus dem Aufmarschgebiet um den Irak nicht mehr möglich sei - Hussein würde dann als Sieger im Widerstand gegen den amerikanischen Imperialismus dastehen. "Gestützt auf dieses Renommee, würde er seine expansive Hegemonialpolitik, mit der er 1991 in Kuweit gescheitert war, wiederaufnehmen, und dann würde ihm widerstandslos in die Hände fallen, was ihm zuvor mit Gewaltmitteln nicht gelungen war. Die Bedrohung Israels würde dadurch auf mittlere Sicht dramatisch ansteigen, und man wird davon ausgehen können, dass Israel darauf mit Präventivschlägen reagieren würde. Spätestens dann wären auch die Vereinigten Staaten wieder im Spiel - und der dann zu gewärtigende Krieg im Vorderen Orient würde den aktuell drohenden Krieg an Intensität und Folgen weit übertreffen."

Dieter Bartetzko attestiert der Architektur Daniel Libeskinds, der jetzt das neue World Trade Center bauen kann, zwar rhetorischen Charakter, ist aber mit der Entscheidung zufrieden: "Die Art.., in der Libeskind den schartigen Krater, der einmal das Fundament des World Trade Centers gewesen ist, für aller Augen sichtbar lässt und einige seiner schrundigen Betonränder mittels gläserner facettierter Bauten wie in Edelstein fasst, die ihrerseits in der kristallinen Riesenschatulle einer Gedenkhalle gebündelt werden - das alles ist vom gleichen tragischen Ernst, den der Architekt beim Bau des Berliner Jüdischen Museums Gestalt werden ließ."

Weitere Artikel: Auf der ersten Feuilletonseite ist ein Gedichtzyklus von Hans Magnus Enzensberger abgedruckt (aus dem demnächst erscheinenden Suhrkamp-Band): "Die Geschichte der Wolken". Gerhard Rohde berichtet vom Pariser Festival Presences, das eine Hommage auf Hans Werner Henze darbrachte. Verena Lueken meldet, dass das New Yorker Metropolitan Museum hundert Werke aus der privaten Sammlung von Pierre Matisse erhält (hier auch die NY Times zum Thema mit einigen Illustrationen). Gerd Roellecke resümiert eine Tagung des Frankfurter Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, wo es auch um das bis heute umstrittene "Lüth-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts von 1958 ging. Joseph Hanimann tritt einen letzten Gang durch das berühmte Pariser Musee de l'Homme an, das zugunsten des von Jacques Chirac gewünschten Museums der Urkunst aufgelöst wird. Eine Doppelseite ist Hinweisen auf Veranstaltungen im März gewidmet.

Auf der letzten Seite stellt Christian Schwägerl den Bio-Künstler Joe Davis vor, der am MIT künstlerische Genmanipulationen betreibt. "Ein.. eigenhändig von ihm manipulierter Bakterienstamm verschlüsselt in sich Piktogramme, die weibliche Geschlechtsorgane darstellen. Mit der Arbeit will er gegen die Prüderie der amerikanischen Raumfahrtbehörde Nasa demonstrieren, sagt er. Diese habe mit der Voyager-Sonde Darstellungen des Menschen in den Makrokosmos geschickt, auf denen die Geschlechtsorgane fehlten." Das nennen wir Kunst im Dienste der Aufklärung! Hier ein langes Porträt des Künstlers aus dem Scientific American mit Illustrationen. Joseph Hanimann porträtiert denSchauspieler Bakary Sangare, dessen "Weg vom südmalischen Dorf ins Ensemble der Comedie Française" nicht gerade war. Und Siegfried Stadler informiert uns über den neuesten Stand im Streit um die Leipziger Universitätskirche.

Auf der Medienseite berichtet Dietmar Polaczek von Querelen bei der staatlichen Anstalt RAI, von denen Silvio Berlusconis sowohl als Unternehmer als auch als Politiker kräftig profitiert.

Außer einer Rezension von Ulrike Kolbs Roman "Diese eine Nacht" haben wir keine Besprechungen gefunden.

TAZ, 28.02.2003

So imposant Daniel Libeskinds Entwurf für das neue World Trade Center auch sein mag, Tobias Rapp hält es für "eher unwahrscheinlich", dass er auch realisiert wird: "Das liegt zum einen daran, dass niemand weiß, welche Pläne der Immobilienmogul Larry Silverstein verfolgt, der Pächter des World Trade Centers. Zumindest auf dem Papier hat er immer noch das Recht, die alten Türme genauso aufzubauen, wie sie einmal standen. Ihm wird auch die Versicherungssumme für die zerstörten Türme ausgezahlt werden - Geld, das in den Bau der neuen Gebäude fließen wird. Seine Ablehnung aller Wettbewerbsentwürfe ist bekannt, welche Ziele er hat, ist dagegen eher unklar."

Im Feuilleton erforscht Thomas Winkler den Neo-Folk der Bands Cat Power und Folk Implosion. Martina Seeber begutachtet anlässlich des Stockholmer New Music Festivals Schwedens Versuche, nach 500 Jahren endlich einmal einen Musiker von Weltrang hervorzubringen. Christiane Kühl berichtet vom New Yorker Netzwerk "Theaters against War", das den 2. März zum "Action Day" erklärt hat. Auf der Meinungsseite stört sich Michael Lerner, Herausgeber des Magazins Tikkun, an den antisemitischen Tendenzen der amerikanischen Friedensbewegung. Besprochen werden das Album "Higher Planes" des Finnen Jimi Tenor und Bücher, darunter Nick McDonells Roman "Zwölf" sowie Elisabeth Bronfens und Barbara Straumann Geschichte der Bewunderung "Diva" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Und schließlich Tom.

SZ, 28.02.2003

Jörg Häntzschel kommentiert die Entscheidung, Daniel Libeskind das neue World Trade Center bauen zu lassen (mehr zum Wettbewerb hier): "Was von Libeskinds Plan bleiben wird, sind spektakuläre städtische Plätze, wie sie in Manhattan völlig unbekannt sind, eine erhebende Skyline und das intelligenteste Denkmal, das man den Opfern des 11. September errichten konnte. Was auch immer in 10 oder 12 Jahren über der leeren, umzäunten Brache von Ground Zero stehen wird: New York hat schon jetzt gewonnen. Zum ersten Mal fand in der Stadt der monomanischen Developer eine öffentliche Diskussion über Architektur statt. Sie hätte leidenschaftlicher und anspruchsvoller kaum sein können. Von jetzt an wird jeder banale Bau, jede kitschige Fassade als solche entlarvt werden."

Im Interview erklärt der selbstbewusste Libeskind, wie seine Symbolik funktioniert: "Wie die Mathematik, die einer Bachschen Fuge zu Grunde liegt: Selbst wenn Sie nichts über ihre Prinzipien wissen, können sie die Musik genießen." Und noch ein Auszig: "SZ: 'Der Kritiker Herbert Muschamp (von der New York Times) nannte Sie einen Kriegstreiber. Sie würden den Zustand nach der Attacke für immer festhalten - ein Akt der Aggression.' Libeskind: 'Es hat schon eine gewisse Ironie: Ich habe dieses Jahr als erster Architekt den Hiroshima Friedenspreis für Kunst erhalten.''

Nicht nur Tony Blair und sein unbeirrbarer Kriegskurs sind dem britischen Schriftsteller Lawrence Norfolk (mehr hier) ein Rätsel, sondern auch die Millionen Demonstranten, die dagegegn protestieren: "Wirklicher Protest entsteht aus Leidenschaft, und wenn eine Million Menschen sich in Leidenschaft vereint, dann müsste wenigstens eine erhebliche Zahl von Verhaftungen dabei herauskommen. Am 16. Februar wurden drei Menschen festgenommen... Sogar die Anarchisten waren höflich. Ich fürchte, dass dieser Anti-Kriegs-Marsch demselben Muster gehorcht wie einige andere Massenproteste der jüngeren Zeit, ein Muster, das mit der nationalen, aber schalen Trauer für Lady Diana entstand. Dass es ihr an Inhalt fehlte, ist vielleicht das Beste, was man über dieses Ereignis sagen kann."

Weitere Artikel: Joachim Hentschel weiß, warum Anti-Kriegslieder nicht diplomatisch sein müssen. Thomas Meyer berichtet von der Jahrestagung des Leipziger Simon-Dubnow-Instituts, auf der der Historiker Dan Diner die Kollegen mit einem Vortrag über "sekundäre Konversionen" reizte.

Die Sonde Pioneer 10 sendet nicht mehr, Fritz Göttler hält einen Moment inne, um des Vorreiters interstellarer Einsamkeit zu gedenken. "klüv." meldet, dass Luigi Malerba den Papst als menschliches Schutzschild nach Bagdad komplimentieren möchte. Holger Wormer feiert die "schlichte Schönheit" des Geburtstagsmoleküls DNS. Johannes Riedner erinnert daran, dass Siefried Kracauer heute vor siebzig Jahren aus Berlin flüchtete. Ulrich Raulff liefert den Nachruf auf den britischen Historiker Christopher Hill.

Besprochen werden Johannes Holzhausens offenbar beeindruckender Film "Auf allen Meeren" über die Verschrottung des mächtigsten Kriegsschiffs der Sowjetunion, der "Kiew", Thomas Langhoffs Inszenierung von Hauptmanns Künstlerdrama "Michael Kramer" in Berlin und Bücher, darunter etliche Bände zur Entschlüsselung des Erbmoleküls vor fünfzig Jahren sowie Franz Innerhofers Roman-Trilogie "Schöne Tage", "Schattseite" und "Die großen Wörter" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).