Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2003. In der SZ erklärt Jacques Derrida, was ein Etat voyou ist. In der FAZ wirft Hans-Ulrich Klose dem Bundeskanzler "folgenlose Rhetorik" vor. Die NZZ fragt: Was sollen die Vergleiche? Die FR sieht in Peter Handke einen Kriegsgegner sui generis. Die taz liebt Massive Attack, zumindest im rein musikalischen Sinne.

SZ, 14.02.2003

Highlight in der SZ ist heute ein Auszug aus Jacques Derridas Buch "Voyous", in dem er die USA zu einem Schurkenstaat erklärt: "Die universelle Demokratie jenseits des Nationalstaats, jenseits der Staatsbürgerschaft verlangt in der Tat nach einer Supersouveränität, die unweigerlich Verrat an ihr übt. Der Machtmissbrauch, zum Beispiel der des Sicherheitsrats oder jener Supermächte, die dessen ständige Mitglieder sind, ist ein ursprünglicher, noch vor diesem oder jenem benennbaren und sekundären Missbrauch. Machtmissbrauch ist die Grundlage aller Souveränität. Was bedeutet das in Hinblick auf die Schurkenstaaten (rogue states)? Es bedeutet ganz einfach, dass die Staaten, die in der Lage sind, solche Staaten anzuprangern, sie der Rechtsverletzungen und Rechtsverstöße, der Perversionen und Verirrungen zu bezichtigen, deren sich dieser oder jener von ihnen schuldig gemacht hat - dass diese Vereinigten Staaten, die als Garanten des Völkerrechts auftreten und über Krieg, Polizeioperationen oder Friedenserhaltung beschließen, weil sie die Macht dazu haben - dass die Vereinigten Staaten und die Staaten, die sich ihren Aktionen anschließen, als Souveräne selbst zuallererst Schurkenstaaten sind." Dazu gibt es einen Artikel von Sonja Asal, in dem sie den politischen Gehalt von Derridas Dekonstruktivismus klärt (mehr hier).

Weitere Artikel: Slavenka Drakulic wundert sich darüber, dass die osteuropäischen Länder immer nur nach Westen schauen: "Wir nehmen den Widerspruch nicht wahr, der darin liegt, in einer Einheit mit Italien und Österreich leben zu wollen, aber nicht mit Bosnien oder Mazedonien." Jens Bisky kommentiert die Berliner Entscheidung, den sowjetischen Generaloberst Nicolai Bersarin zum Ehrenbürger zu machen und auch Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als solchen zu belassen, ganz positiv: Wer so entscheide, "hat wohl begriffen, dass Geschichte keine Kuschelecke für zufriedene Bundesbürger ist und Erinnerung kein Mittel der moralischen Mobilmachung sein sollte. Ein versöhnlicher Reinhard J. Brembeck gibt Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair zum Abschied einmal ausnahmsweise Recht. Der soll nämlich gesagt haben: "Es gibt schlimmere Typen als mich".

Willi Winkler meldet erfreut, dass sich 86 Städte und Gemeinden in den USA gegen einen Irak-Krieg ausgesprochen haben, darunter Chicago, San Francisco, Cleveland und sogar die texanische Hauptstadt Austin. Ulrich Baer war dabei, als amerikanischen Dichter - Laura Bush zum Trotz - in der Bibliothek der New Yorker Universität Antikriegslyrik lasen. Tariq Ali fürchtet nicht weniger als den Untergang der UN, sollte der Sicherheitsrat grünes Licht für einen Krieg gegen den Irak geben. "midt" hält uns auf dem Laufenden darüber, was englische Medien so alles über Deutsche und Franzosen schreiben ("Achse der Drückeberger"). Helmut Schödel berichtet, wie österreichische Politiker gegen die Filme von Elisabeth Spira wettern. Gemeldet wird eine Bitte der Freien Universität Berlin an alle Besitzer von Handschriften Gustav Landauers, für eine geplante Edition von Landauers Briefen Fotokopien zur Verfügung zu stellen.

Von der Berlinale berichtet Tobias Kniebe über die beiden Wettbewerbsfilme "Petites Coupures" von Pascal Bonitzer und "25th Hour" von Spike Lee und sieht beide als Variationen des Godard-Zitats: "Das Kino sollte uns erzählen, warum Männer Feiglinge und Frauen wunderschön sind." Martina Knoben schreibt über das filmische Gipfeltreffen von Oliver Stone und Fidel Castro. Hans Schifferle betrachtet Alltag und Katastrophen in den Filmen des Panoramas und Forums.

Besprochen werden außerdem die Werkschau des Fotografen Peter Lindbergh in Oberhausen, Fritz Baumanns Film "Anansi - Der Traum von Europa" ein Konzert des "Tilman Rossmy Quartett". Und Bücher, darunter Wolf Haas' neuer Krimi "Das ewige Leben", ein Sammelband zu "Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte" und Ulrike Langbeins Studie zu Erbschaftsangelegenheiten "Geerbte Dinge" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 14.02.2003

Max Dax erzählt die Geschichte von Massive Attack, die als The Wild Bunch starteten, das "einflussreichste DJ-Kollektiv der vergangenen Dekade" wurden und so ausgesprochen denkwürdig mit dem Irak-Konflikt verbunden sind. Andreas Busche bedauert, dass sich japanische Horror-Filme wie etwa Hideo Nakatas "The Ring" so schwer auf andere Märkte übertragen lassen. "The Ring" kommt jetzt als US-Remake von Gore Verbinski ins Kino. Andreas Merkel widmet sich "Zwischen den Rillen" der Welt der Go Betweens und ihrem neuen Album "Bright yellow bright orange". Andreas Becker stellt Peter Radszuhn vor, den Promi-Chauffeur der Berlinale.

Auf der Medien-Seite regt sich Steffen Grimberg über die Financial Times Deutschland auf, die zum Krieg rüstet und im Leitartikel erklärt hat, dass Schröder politisch am Ende sei.

Auf den Berlinale-Seiten werden Oskar Roehlers Wettbewerbsfilm "Der alte Affe Angst" besprochen, Scorseses Abschlussfilm "Gangs of New York", Yoji Yamadas Samurai-Drama "Tasogare Seibei", Vincent Dieutres Film "Mon voyage d'hiver", die Dokumentation zur Kulturrevolution "Morning Sun" sowie israelische Filme.

Schließlich Tom.

FR, 14.02.2003

Nicht alle Kriegsgegner sind gleich, hat Ina Hartwig bemerkt und beschreibt die feinen Unterschiede so: "Rotwein, die schmauchende Pfeife und die Partei - das sind die Insignien einer geschlossenen Welt der Verlautbarungen; vorhersehbar, gutgemeint, trotzdem nicht ohne Eitelkeit: Gruppe eins. Gruppe zwei: sowieso nicht uneitel, im Gegenteil: Glamour, große Welt. Dichter, Schauspieler und Universitätsgelehrte gegen den Krieg. Globaler Hedonismus plus kritisches Bewusstsein als Programm; Selbstbeobachtung, Statements, Pressekonferenzen, Interviews, dann Sushi-Essen und Rollläden runterlassen. Gruppe drei: Peter Handke."

Weitere Artikel: In Österreich bahnt sich eine in Europa einmalige schwarz-grüne Regierungskoalition an, staunt Stephan Hilpold, und ein ganzes Land weiß nicht, was es denken soll. "Die Leitartikler mosern und die Intellektuellen schweigen". Steffen Richter war zu Besuch bei Comiczeichner Gerhard Seyfried, seit kurzem auch der Romancier des Herero-Aufstands. Times Mager hat sich Dennis Hoppers Workshop auf der Berlinale angesehen.

Besprochen werden Spike Lees Film "25th Hour" auf der Berlinale sowie einige der Panorama-Filme, die Romanze "Ein Chef zum Verlieben" mit Sandra Bullock und Hugh Grant, die Ausstellung "Fotograf Che Guevara" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, eine Präsentation junger Video-Kunst im Neuen Berliner Kunstverein und das Album "Loktown Hi-Life" der Sam Ragga Band.

NZZ, 14.02.2003

Maja Turowskaja beschließt ihre lesenswerte Reihe "Russland, persönlich" mit einem Porträt über Juri Arabow, den Drehbuchautor Alexander Sokurows: "Juri Arabow ist Schriftsteller aus Berufung: Dichter und Prosaist von betont russischer Prägung. Der technogenen Zivilisation begegnet er mit Misstrauen. Vor diesem Hintergrund wird auch seine Einstellung zum Film als etwas nicht sonderlich Ethischem verständlich, gefährlich für die Zuschauer wie für die Macher selbst, die in Hektik auf- und oftmals auch untergehen."

Schröder ist mit Brüning verglichen worden, Schröder ist mit Wilhelm II. verglichen worden, aber warum überhaupt die Vergleicherei, fragt Joachim Güntner. Nun, der Vergleich "warnt vor einem schlimmen Ende mit der Autorität dessen, der dieses Ende bereits kennt. Wir wissen ja, wie es mit Wilhelm II. weiterging und wohin die Dinge sich nach Brüning entwickelten." Stimmen müssen die Vergleiche dabei nicht, "weil die Freunde von Analogien alle paar Tage eine neue Idee durchs Feuilleton treiben".

Weitere Artikel: Marianne Zelger-Vogt schreibt ein langes Porträt über den Straßburger Operndirektor Rudolf Berger, der nun die Leitung der Wiener Volksoper übernimmt. Besprochen werden Becketts "Glückliche Tage" in Biel, neue Nummern der Zeitschriften Manuskripte und neue deutsche literatur und eine Ausstellung des Malers Antonin Prochazka in Prag.

Auf der Filmseite würdigt Christoph Egger einen Dokumentarfilm Matthias von Guntens über den Lieblingszeitvertreib des Sennen: "nämlich am Sonntagmorgen auf der Alp die Nase des Zusenns ins Sägemehl zu drücken". Das Leben auf der Alp, so der zuversichtliche Kritiker, sei damit vom Schweizer Kino vollständig durchdokumentiert. (Kann jemand einer Hamburgerin verraten, was ein Zusenn ist?) Marc Zitzmann schreibt zum Tod Daniel Toscan du Plantiers. Besprochen wird unter anderem Roberto Benignis "Pinocchio".

Auf der Medien- und Informatikseite greift "H. Sf." einen Bericht der Zeitschrift Menschen machen Medien der Gewerkschaft Verdi über einen Jounalistenkongress auf, der mutig von den Amerikanern Meinungsfreiheit forderte, aber nichts dabei fand, dass er in Havanna stattfand. Und Stephan Russ-Mohl stellt eine publikationswissenschaftliche Studie über die Professionalität deutscher Parlamentsberichterstattung vor.

FAZ, 14.02.2003

Es ist doch interessant, dass die politische Debatte in Deutschland oft vom Feuilleton ausgeht. Der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, attackiert hier Schröders Irakpolitik: "Die Schwäche der amerikanischen Position ist, dass bisher eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und Al Qaida nicht sicher nachgewiesen ist. Die Schwäche der europäischen und deutschen Politik liegt darin, dass sie die potenzielle Gefahr, die von Saddam Hussein ausgeht..., unterschätzt und keine Antwort geben kann auf die höchst aktuelle Frage, wie denn der Irak anders als durch militärischen Druck zur Abrüstung gezwungen werden kann. Wenn der Kanzler sagt, er 'kämpfe' für eine friedliche Lösung, dann klingt das gut, ist aber in Wahrheit folgenlose Rhetorik, die mehr auf die Stimmungslage der deutschen Bevölkerung reagiert als auf die tatsächliche Bedrohungslage."

Jeffrey Eugenides, Autor des viel gefeierten Romans "Middlesex" (lange Leseprobe), erklärt, warum er gegen den Valentinstag ist: "Meine Frau ist strikt gegen den Valentinstag. Ja, ich weiß: Da kann ich mich glücklich schätzen. Ich darf also triumphierend wiederholen: Meine Frau hält die jährliche Visite Amors für einen aufgelegten Schwindel. Sie behauptet, er sei eine Erfindung der Grußkarten-Firma Hallmark."

Weitere Artikel: Patrick Bahners analysiert die gestrigen Reden Gerhard Schröders und Angela Merkels. "Baz" fragt in einer sprachkritischen Leitglosse: "Was hat es .. zu bedeuten, wenn die Nachrichtensprecherin von BundesKANZleramt spricht und der Auslandskorrespondent von MassenverNICHtungswaffen? ... Steht der Kanzler über dem Bund und die Vernichtung über den Massen?" Richard Kämmerlings stellt den Roman "Mann und Frau den Mond betrachtend" der Französin Cecile Wajsbrot vor, der ab heute im Feuilleton vorabgedruckt wird. Gemeldet wird, dass Peter Handke in einem Interview mit dem österreichischen Magazin News eine Entwaffnung Amerikas fordert. Ilona Lehnart kommentiert ein gemeinsames Papier der deutschen Kulturministerin Christina Weiss und ihres französischen Kollegen Jean-Jacques Aillagon, das die kulturelle Vielfalt gegen den Markt verteidigt (mehr dazu hier). Oliver Tolmein freut sich über ein Gerichtsurteil, wonach Pflegeheime nicht gezwungen werden können, bei Komapatienten die künstliche Ernährung abzuschalten und somit ihren Tod herbeizuführen. Wolfgang Sandner gratuliert dem Saxofonisten Maceo Parker zum Sechzigsten.

Auf der Berlinale-Seite stellt Hans-Jörg Rother Michail Braschinskijs Film "Gololed" (Glatteis) vor. Peter Körte resümiert den gestrigen Wettbewerbstag. Bert Rebhandl bespricht Filme von Christoph Hochhäusler und Christian Petzold.

Auf der letzten Seite schreibt Verena Lueken ein kleines Profil über Spike Lee, der mit seinem Film "25th Hour" im Berlinale-Wettbewerb vertreten ist. Elisabeth Hamel erzählt, wie drei Briten, deren Vorfahren in Jamaica lebten, "mithilfe ihres Gen-Codes ihre afrikanischen Wurzeln" entdeckten. Und Andreas Rosenfelder fragt, wie Wilhelm II. wirklich war.

Auf der Medienseite äußert sich Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur des Tagesspiegels, im Interview zur Drohung des Holtzbrinck-Verlags, den Tagesspiegel einzustellen, falls es keine Ministererlaubnis für den Erwerb der Berliner Zeitung durch den Verlag gibt. Heinrich Wefing erzählt in einer Medienschau, dass die Amerikaner sich noch mehr über die Franzosen ("cheese-eating surrender monkeys") als über die Deutschen ärgern. Und Jörg Bremer teilt mit, dass sich auch die israelischen Medien auf den Krieg vorbereiten.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Ernst Ludwig Kirchners plastischem Werk (Bild) in Davos, Installationen von Pierre Huyghes im New Yorker Guggenheim-Museum, eine Ausstellung zum achtzigsten Geburtstag des Fotografen Rudolf Holtappel in Oberhausen und das Eclat-Festival für Neue Musik in Stuttgart.