Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2003. Sowohl die SZ als auch die FAZ finden Edmund Stoibers Parallele zwischen Schröder und Wilhelm II. leider recht zutreffend. In der NZZ zieht der israelische Historiker Shlomo Avineri zugleich eine Parallele zwischen Saddam und Hitler. In der taz erklärt der algerische Autor Boualem Sansal, warum die islamische Welt keinen Begriff von Opposition hat. Die FR bedauert den Niedergang des Trip Hop zur Fahrstuhlmusik. FAZ, SZ und NZZ kommentieren zudem die nie da gewesene Konzentration im Verlagswesen.

SZ, 12.02.2003

Ein außenpolitisch enthemmter Kanzler, ein hysterischer, von persönlicher Not getriebener Außenminister - Gustav Seibt sorgt sich ernsthaft um die Grundfesten der Diplomatie, die im Gegensatz zur Mediendemokratie nur auf Schwachstrom laufen dürfe. Den Vergleich Schröders mit Wilhelm II. findet er deshalb auch gar nicht so abwegig: "Wilhelm II. war der erste Stimmungspolitiker an der Spitze Deutschlands. Er lebte im Beifall wie in einer Nährlösung und verfiel auch physisch mit dem Schwinden der Zuneigung seines Volkes im Ersten Weltkrieg. 1918 verließ er als kranker Mann seinen Thron. Schon diese sich bis in die Körperlichkeit abzeichnende Abhängigkeit von öffentlicher Zustimmung lässt Gerhard Schröder als einen gespenstischen Wiedergänger des lange Zeit populärsten deutschen Monarchen erscheinen. So grau und fahrig hat man den Kanzler noch nie gesehen wie in den Wochen nach der Wahl, als sich die öffentliche Meinung fast ruckartig gegen ihn richtete. Von diesem Trauma ist sein Agieren bis heute geprägt, und der beispiellose Zusammenbruch diplomatischer Professionalität, der am Wochenende kulminierte, hat hier seine wichtigste Ursache."

Wolf Lepenies bemerkt einen fatalen Realitätsverlust in der französischen Integrationspolitik, die keine Minderheiten kennt, sondern nur Franzosen oder Fremde: "Frankreich teilt das Problem mangelnder Integration mit anderen europäischen Ländern. Typisch für Frankreich ist die spezifische Form, in der dieses Problem verschleiert wird. Die Franzosen werden zur Identitätssucht erzogen; sie haben an die Unteilbarkeit der Republik zu glauben. Frankreich ist daher, so sagt Roger Fauroux nicht ohne Spott, das einzige Land in Europa, das keine Minoritäten kennt. Frankreich ist das selbst ernannte Paradies der Laizität und zugleich die Hölle der Statistik: Immigranten werden naturalisiert und verschwinden in der Anonymität."

Ijoma Mangold meldet den Kauf von Ullstein Heyne List durch die Bertelsmann AG, die damit auf dem Büchermarkt einen Anteil von elf Prozent bekommt, bei den Taschenbüchern sogar einen von vierzig Prozent. "Sollten die Wettbewerbshüter allerdings ihre Zustimmung mit Auflagen verknüpfen, könnte der Verlagsgruppe der Verkauf oder die Schließung einzelner Verlagsbereiche drohen."

Weitere Artikel: Fritz Göttler kommentiert die Oscar-Nominierungen, nach denen "Chicago" bereits 13:9 gegen "Gangs of New York" führt. Außerdem gratuliert er dem italienischen Regisseur Franco Zeffirelli zum Achtzigsten. Dirk Peitz berichtet vom Pozess gegen den Musiker R. Kelly, der wegen Pädophilie vor Gericht steht. Alexander Kissler blickt auf die wachsende Fremdheit zwischen Union und Kirche und würdigt in einem weiteren Text den liberalen Rabbiner Tovia Ben-Chorin, der für einen Neuanfang im jüdisch-christlichen Dialog plädiert. Gemeldet wird außerdem, dass die bayrischen Kulturmanager Hans Zehetmairs Abschied aus der Kulturpolitik bedauern. Von der Berlinale berichtet Anke Sterneborg über Patrice Chereaus Wettbewerbsfilm "Son Frere", Fritz Göttler widmet sich den Kleinigkeiten am Rande und Ralph Hammerthaler hat sich angesehen, wie Dennis Hopper auf dem Berlinale Campus jungen Talenten das Weinen lehrte.

Auf der Medien-Seite staunen Hans-Jürgen Jakobs und Hans Leyendecker die fulminante Rolle rückwärts von Bertelsmann-Senior Reinhard Mohn, der mit seinen ehemaligen Spitzenmanagern abrechnet, als hätten sie nicht sein Vermögen gemehrt, sondern das Tafelsilber gefipst. "Durch 'mehrfache Enttäuschungen' sei das Haus Bertelsmann darüber belehrt worden, 'dass Manager gelegentlich in ihrem Zielverständnis anders reagieren als Unternehmer', sagt Mohn und spricht offen von 'Systemversagen'. Deshalb werde wieder die Familie das Kommando übernehmen - seine Frau Liz wache fortan über Bertelsmann."

Besprochen werden die Malewitsch-Ausstellung in der Deutschen Guggenheim Berlin, Jewgenij Kissins Klavierabend in der Philharmonie München, Wolfgang Rihms Musiktheater-Stück "Oedipus" in Mönchengladbach, Ariel Dorfmans Stück "Purgatory" an den Hamburger Kammerspielen, eine Aufführung von Gombrowicz? "Yvonne, die Burgunderprinzessin" im Theater Ingolstadt sowie Reginald Hudlins Film "Serving Sara".

Und Bücher, darunter Philip Meinholds Roman "Apachenfreiheit", Dara Horns "raffinierter" Roman "Ausgelöscht sei der Tag", Christian Zivie-Coches Geschichte der "Sphinx" sowie Thomas Haurys Studie "Antisemitismus von links" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 12.02.2003

Auf den Tagesthemen gibt es ein interessantes Gespräch mit dem algerischen Schriftsteller Boualem Sansal (mehr hier) über sein Leben als Spitzenbeamter, seine Bücher auf Französisch und die politische Situation in den arabischen Ländern: "Wenn wir uns in der arabischen Welt umschauen, gibt es nirgends eine Opposition im eigentlichen Sinne. Das vom Islam beeinflusste Gesellschaftsmodell kennt nur den Rais, den Chef, und das Volk im Basar. Eine Opposition ist nicht vorgesehen. Denn Opposition bedeutet nicht nur Opposition gegenüber dem Regime, sondern auch gegenüber den Gesetzen, dem Propheten und selbst gegenüber Gott. Opposition ist Opposition gegenüber allem. So etwas kann es in der arabisch-muslimischen Welt nicht geben. Die Opposition hier in Algerien ist keine richtige Opposition, sie will nur ihr Stück vom Kuchen aushandeln. Vor diesem Problem einer fehlenden echten Opposition werden auch die USA im Irak stehen. Wer soll dort Saddam Hussein ersetzen?"

Besprochen werden die Ausstellung "Lasst uns Grosny sein Museum zurückgeben" in der Moskauer Tretjakow-Galerie (die offenbar viel über die Missverständnisse und die imperiale Praxis der "kulturellen Beziehungen" verrät), die Ausstellung "kulisseweimar" in der ACC Galerie Weimar sowie das Berliner Konzert der Red Hot Chili Peppers.

Auf der Medien-Seite kündigt Silke Burmeister die Frauenzeitschrift für den Mann an: Amico heißt das neue Blatt aus dem Milchstraßen-Verlag. Und auf den Berlinale-Seiten der taz gibt es unter anderem einen Bericht von Jan Distelmeyer über ein Podiumsgespräch zwischen Wim Wenders und Dennis Hopper.

Und schließlich Tom.

FR, 12.02.2003

Elke Buhr verkündet mit den neuen Alben von Massive Attack und Beth Gibbons das Ende des TripHop, des "Soundtracks für das urbane Lebensgefühl der Neunziger". "Schnell waberte er durch jede Bar, jeder kopierte den Sound - und bald legte auch der letzte Fernsehjournalist nicht mehr Debussy unter seinen Kulturmagazin-Beitrag, sondern Massive Attack oder Portishead. Was den Zauber des Trip Hop ausmachte, die filmmusikartige Flächigkeit und sein programmatischer Verzicht auf Härte und Tempo, wurde sein Verhängnis. Selten ist ein Sound so schnell in den Mainstream abgesunken wie diese Fusion von Elektronik, HipHop, Soul und Dub. Dank Trip Hop ist die Fahrstuhlmusik der westlichen Welt heute eine ganze Ecke cooler."

Weitere Artikel: Marcia Pally fragt sich, warum der Film "Max" nicht auf der Berlinale zu sehen ist, wo er doch als Geschichte von Hitlers jugendlichem Scheitern als Kunststudent hätte einschlagen können. Yvonne Strecke stellt die Filme aus dem Berlinale-Forum vor. Judith Hermann hat in Berlin ihre Erzählungen "Nichts als Gespenster" vorgestellt und Ursula März wundert sich gar nicht über die einzigartige "Atmosphäre gemeinsamer Wellenlänge" zwischen Publikum und Autorin. Harry Nutt verabschiedet Antonio Skarmeta, der seinen Job als Botschafter in Berlin aufgibt und nach Chile zurückkehrt. Und Times mager erschließt uns die Vorteile der Kontakt-Börsen im Internet.

Besprochen werden die Uraufführung von Ariel Dorfmans "Purgatory" in Hamburg, John Osbornes Stück "Entertainer" in Wien, Wolfgang Rihms Opus "Oedipus" in Mönchengladbach. Und Bücher, darunter Jerome Charyns Erinnerungen an die Bronx "Der Schwarze Schwan", Alan Islers Roman "Klerikale Irrtümer" sowie Paulus Hochgatterers Roman "Über Raben" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 12.02.2003

Der israelische Politikwissenschaftler Shlomo Avineri (Institut für europäische Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem) sieht "manche Parallele" zwischen Saddam Hussein und dem Hitler des Jahres 1936. Dabei stehe Saddam heute "in der Bilanz wesentlich schlechter da als Hitler 1936. Er hat zwei Länder angegriffen (Iran und Kuwait) sowie Raketenangriffe gegen zwei weitere Länder geführt (Israel und Saudiarabien). Er hat Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt; Zehntausende von Menschen sind auf seinen Befehl hin ermordet oder ins Gefängnis gesteckt worden. Darüber hinaus hat Saddam 12 Jahre lang internationale Abkommen missachtet und (gemäß dem Sicherheitsratsbeschluss 1441) materiell gegen mehr als ein Dutzend verbindliche Uno-Resolutionen verstossen. So absurd es im Blick zurück auch tönen mag: Saddam hat seine kurdische Bevölkerung schlechter behandelt als Hitler die deutschen Juden im Jahr 1936." Europa scheine aus seinem "moralischen Versagen" in den dreißiger Jahren nichts gelernt zu haben. "Die Duckmäuserei des heutigen Europa - besonders manifest in der Weigerung der deutschen Regierung, selbst mit einem Uno-Mandat an einem Krieg teilzunehmen - erzeugt bei den Israeli den Eindruck eines Deja-vu".

Der Verkauf der Springer Verlage an Bertelsmann hat im Konzentrationsprozess unter den deutschen Publikumsverlagen einen "Qualitätssprung" bewirkt, befürchtet Joachim Güntner. Blicke man nur "auf den Bereich Taschenbuch, so käme Random House künftig auf satte vierzig Prozent Marktanteil - der Machtzuwachs gegenüber dem Buchhandel wäre gravierend. Noch steht die Transaktion unter dem Vorbehalt, dass ihr das Kartellamt zustimmt. Sollten die Wettbewerbshüter positiv entscheiden, werden sich einige auch für die Literatur unerfreuliche Trends verschärfen. Random House wird noch leichter als früher über Rabatte Marktanteile kaufen, Regalmeter in den Buchhandlungen belegen und das Sortiment zur Bevorratung vordringlich seiner Titel veranlassen können. Auch werden noch weniger wichtige Buchrechte offen angeboten werden, sondern gleich von Random House USA ins Programm von Random House Deutschland fliessen. Für die Konkurrenz heisst das: Die Präsenz ihrer Bücher schwindet."

Weitere Artikel: Lilo Weber meldet, dass Sean Doran der neue Direktor der English National Opera ist. Markus Hladek gratuliert dem Enfant terrible in der deutschsprachigen Theaterlandschaft, dem Institut für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, zum zwanzigsten Geburtstag.

Besprochen werden die Ausstellung von Albrecht Dürers grafischem Werk im Britischen Museum und Bücher, darunter Christina Viraghs Roman "Pilatus" und die Breslau-Biografie von Norman Davies und Roger Moorhouse (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 12.02.2003

Frank Schirrmacher greift eine Bemerkung Edmund Stoibers auf und vergleicht Gerhard Schröders Außenpolitik mit der Wilhelms II. "Jetzt hat er seine Daily Telegraph-Affäre. Jetzt hat er einen Grad an Verantwortungslosigkeit erreicht, der aus seiner Regierung ein Regiment und aus seinem Stil einen persönlichen macht." Wie genau Schröder weltpolitische Initiativen ergreift, malt Schirrmacher auch aus: "Er lässt, wie der Tagesspiegel weiß, am Donnerstagabend im Bundeskanzleramt Rotwein auffahren. Er tafelt mit Redakteuren des Spiegels. Ob er einfach nur redet oder ob ihm die Spiegel-Redakteure die Zunge lösen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Jedenfalls ist der Chef der Regierung die Hauptquelle jener Nachricht, die Carsten Voigt am Abend im Fernsehen 'Indiskretion' nennen wird." Ein echter Profi eben. Zu all dem passt ein Vorschlag der FAZ-Karikaturisten Greser & Lenz.

Hannes Hintermeier kommentiert den Kauf der Buchverlage des Springerkonzerns durch Bertelsmann als nie da gewesene Konzentration, zitiert Stimmen der Konkurrenz, die nach dem Kartellamt rufen, und macht auf folgende Umstände der Transaktion aufmerksam: "Die neue Gruppe wird weit über vierzig Verlage und Imprints ihr eigen nennen; dirigiert wird sie bis auf weiteres ohne akute Personalrochaden oder spektakuläre Zu- oder Abgänge. Joerg Pfuhl bleibt Vorstandsvorsitzender, Klaus Eck Verleger und Christian Strasser geschäftsführender Verleger bei Ullstein Heyne List... Über den Kaufpreis ist Stillschweigen vereinbart worden, er dürfte jedoch weit unter einem Jahresumsatz der ASV-Verlage gelegen haben. Bertelsmann hat nicht nur die Verpflichtung übernommen, im Falle einer Ablehnung durch das Kartellamt einen neuen Käufer zu suchen, Bertelsmann muss auch die Kosten für Abfindungen und Sozialpläne einkalkulieren." Zum Verkauf steht nun noch die der FAZ gehörende Deutsche Verlagsanstalt.

Weitere Artikel: Niklas Maak besucht einige Ausstellungen, die dem zu früh verstorbenen Maler Martin Kippenberger gewidmet sind (mehr hier und hier und hier). Gerhard R. Koch gratuliert dem Regisseur Franco Zeffirelli zum Achtzigsten. Jürg Altwegg berichtet über einen "Krieg der Buchmessen" in der Schweiz. Wolfgang Schneider resümiert eine Weimarer Tagung zu Goethes Sammlungen.

Auf der Berlinale-Seite schreibt Bert Rebhandl über asiatische Filme in Forum und Panorama, während Michael Althen Wettbewerbsfilme von Patrice Chereau und Isabel Coixet bespricht.

Auf der letzten Seite begibt sich Dieter Bartetzko auf die Spuren jüdischer Vergangenheit in Erfurt, das im Mittelalter eine der berühmtesten jüdischen Gemeinden Europas hatte - 1998 hat man eine mittelalterliche Synagoge wiederentdeckt, deren denkmalpflegerische Zukunft leider ungewiss ist. Lorenz Jäger schreibt ein Profil über den Kirchenhistoriker Gerhard Besier, den neuen Direktor des Hannah-Arendt-Instituts an der Uni Dresden. Und Joseph Hanimann berichtet über Pariser Proteste gegen den Putin-Besuch - die allenthalben so viel gescholtenen französischen Intellektuellen gehören zu den wenigen, die auf Putins mörderische Tschetschenienpolitik aufmerksam machen (hier zum Beispiel ein flammender Artikel von Andre Glucksmann in Le Monde, der es durchaus verdient hätte, von einer deutschen Zeitung übernommen zu werden).

Auf der Medienseite berichtet Michael Ludwig über die "Rywin-Affäre", ein Korruptionsskandal, in den höchste Kreise aus Politik und Medien verstrickt sind. Jose Oehrlein schildert die Rolle der Medien bei den Auseinandersetzungen in Venezuela. Dietmar Dath schildert, "wie amerikanische Serien von 'Angel' bis 'Akte X' vom Internet für die Ewigkeit präpariert werden". Auf der Stilseite liefert Klaus Ungerer eine Kulturgeschichte der Kriegsvorwände. Und Ingeborg Harms gratuliert dem Modeschöpfer Emanuel Ungaro zum Siebzigsten.

Besprochen wird eine Ausstellung mit selbstverfertigten Fotografien des großen Che Guevara in Hamburg.