Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.12.2002. In der FAZ komplimentiert Otfried Höffe die Türkei als "Übermorgenland" aus der EU. Edmund Stoiber findet sie in der SZ schlicht zu teuer. In der FR schildert Anatolij Koroljow Putins Suche nach einer neuen Sprache. Die NZZ hört Klassik auf dem Plattenteller ihres PCs. Die taz sucht mit Patricia Cornwall nach Jack the Ripper.

FAZ, 11.12.2002

Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe findet für die Türkei die originelle Bezeichnung "Übermorgenland", womit er allerdings mit Blick auf die starke Stellung des Militärs und die schwach ausgeprägte Zivilgesellschaft meint, dass sie frühestens in zwei Generationen europäisch sein wird. Und da sich die EU nicht nur - wie eh schon - finanziell, sondern auch politisch, gesellschaftlich und kulturell mit einer Erweiterung bis zur irakischen Grenze übernehmen würde, sieht er für die türkische Zukunft eine ganz andere Option: "Warum sollte die Türkei, einmal zu einer rundum verlässlichen rechtsstaatlichen Demokratie geworden, nicht die Initiative zu einer vorderasiatischen Union ergreifen? Sie mag wirtschaftlich beginnen, sollte aber vor allem der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zur verlässlichen Wirklichkeit verhelfen. Gelingt der Türkei die Symbiose einer mehrheitlich islamischen Gesellschaft mit einem demokratischen Rechtsstaat, so könnte sich ihr Vorbild nach dem Muster 'Kommet und seht!' rasch ausbreiten."

Paul Ingendaay verzweifelt über die "entschlossene Handlungsverweigerung" von Spaniens Ministerpräsidenten Aznar, der sich auch vier Wochen nach dem Tankerunglück noch immer nicht in Galizien hat blicken lassen. Aber wen wundere das schon: "Zu den Besonderheiten der politischen Sphäre in Spanien zählt das grundsätzliche Misstrauen des Volkes gegenüber den Amtsinhabern, eine Haltung, die sich im Lauf der Jahrhunderte oft als begründet erwiesen hat. Die spiegelbildliche Entsprechung auf seiten der Politiker besteht in gelegentlich selbstherrlicher Amtsführung", schreibt Ingendaay. "Von der Verpflichtung, dem Wähler Rechenschaft abzulegen, kann bei spanischen Politikern ohnehin keine Rede sein. Das Unglück bringt auch Defizite des iberischen Gemeinwesens an den Tag, nämlich ein Übermaß an Schlamperei und einen alarmierenden Mangel an Verantwortungsbereitschaft."

Weitere Artikel: Eine evangelische Antwort gibt Rolf Koppe von der EKD dem Großscheich der Kairoer Al Azhar, Sajid Mohammed Tantawi, der die palästinesischen Attentate gegen "Uunschuldige" verurteilt hatte, Angriffe gegen israelische Militärs und Siedler aber als Taten von Märtyrern gerechtfertigt hatte (siehe unsere Feuilletonrundschau vom 30.11.02). Dietmar Polaczek berichtet, wie Italien seine Schule kaputtspart. Joachim Willeitner würdigt das hundertjährige Bestehen des Ägyptischen Museums in Kairo. Dietmar Dath warnt davor, über den kalifornischen Yeti "Bigfoot" vorschnell zu lachen. Gerhard Stadelmaier schafft es, in einer Kurzmeldung zum Streit um die Aufführungsrechte des Nibelungen-Stückes von Moritz Rinke einen kleinen Rundumschlag gegen Worms, den Autor und das Freiburger Stadtheater unterzubringen.

Auf der Medien-Seite porträtiert Eberhard Rathgeb die tunesische Journalistin Sihem Bensedrine, der wegen angeblicher Diffamierung ihres Landes der Prozess gemacht wird. Zhou Derong erzählt, wie Chinas Regime eine Internet-Aktivistin drangsaliert.

Besprochen werden die Ausstellung zu Roland Barthes im Pariser Centre Pompidou, bei der es den intellektuellen Charme des Autors zu entdecken gibt, eine Schau mit neuen Bildern von Sigmar Polke in Dallas, Nicolas Stemanns Inszenierung der "Dreigroschenoper" in Hannover, "La Boheme" als Broadway-Stück von Baz Luhrmanns in New York, Konzerte von Supergrass und den Foo Fighters in Berlin, Zacharias Kunuks Inuit-Film "Atanarjuat". Und Bücher: Dai Sijes Roman "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" und ein Kochbuch von Alexandre Dumas (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 11.12.2002

In einem herrlichen Artikel beschreibt der Schriftsteller Anatolij Koroljow, wie die russische Regierung seit jeher mit Sprache umgeht: "Wenn in Russland die Macht wechselt, erklärt sie als Erstes die Sprache für veraltet und beginnt, eine neue, zeitgemäße Sprache zu formulieren. Manchmal gelingt dies. Manchmal auch nicht, etwa, als die Bolschewiken bei der Auslöschung des Zarenreiches die Losung 'Religion ist Opium für das Volk!' ausgaben. Der größte Teil des Volkes wusste nicht, was Opium war und hielt es für Medizin. Also musste die Losung umgeschrieben werden: 'Religion ist Gift für die sowjetischen Kinder!' Auch dieser Slogan war kein großer Erfolg, schon deshalb nicht, weil die meisten sowjetischen Kinder nicht lesen konnten." Auch das "neue Russland" geht jetzt diesen den alten Weg, erklärt Koroljow: "Zum Beispiel wurden die Schlüsselwörter Kapitalismus und Kapitalist aus dem Sprachgebrauch praktisch verbannt: An ihnen hing zu viel roter Lack sowjetischer Propaganda." Die Probe aufs Exempel: Koroljow hat die Tageszeitungen nach den Worten "Ideal, wohltätig, Moral, Ehrlichkeit, Anständigkeit, Arbeitsliebe und Verpflichtung" abgesucht. Und nichts gefunden - außer im Werbeteil.

Rudolf Walther zeichnet die jüngste Debatte um die "neuen Reaktionäre" nach, die sich um Daniel Lindenbergs Buch "Le rappel a l'ordre" entsponnen hat, und beobachtet, dass "der Ton in der französischen Intellektuellenszene derzeit immer schroffer" wird. (Mehr über den Streit mit weiterführenden Links hier.) Erwartungsgemäß haben die von Lindenberg des konservativen Reaktionismus angeklagten Intellektuellen zurückgeschlagen - in einem Manifest für ein freies Denken, das die Wochenzeitung L'Express vor knapp zwei Wochen veröffentlicht hat. Überhaupt, kommentiert Walther, könne man "die französischen Medienintellektuellen geradezu als Manifeste unterschreibende Klasse definieren". Das Problem solcher Manifeste liege jedoch in der Aufblähung des "gemeinsamen Nenners". In diesem Manifest sieht Walther jedenfalls einen "völlig ungebremster Hang zum Ja-Sagen", was den "Verdacht" nahe lege, "dass die Debatte unter den selbstgewissen Allround-Demokraten für beendet gilt, bevor sie begonnen hat".

Weitere Artikel: Klaus Bachmann berichtet, dass aus dem 1947 in Amsterdam gefundenen Archivmaterial über die Deportation der Juden unter deutscher Besatzung nun ein Buch gemacht wurde, dass in den Niederlanden heftig diskutiert wird. Laut dpa wird gemeldet, dass dass Moritz Rinkes Freiburger "Nibelungen" per einstweiliger Verfügung gestoppt wurde, der Saxofonist Bob Berg bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und auch der Wiener Volksschauspieler Kurt Heintel gestorben ist.

Auf der Medienseite meldet Karl-Heinz Baum, dass die Kündigung eines "Berliner Kurier"-Journalisten, der sich weigerte für einen Artikel ein Gespräch zu erfinden, vom Gericht für unzulässig erklärt wurde. Weiterhin meldet "sa", dass der diesjährige Menschenrechtspreis von "Reporter ohne Grenzen" an den inhaftierten russischen Journalisten Grigori Pasko geht.

Besprochen werden Martin Scorseses neuer Film "Gangs of New York" und Jonathan Meeses Ausstellung "Revolution" in der Kestner Gesellschaft Hannover.

TAZ, 11.12.2002

Das Rätsel um Jack The Ripper, über dessen Identität noch immer spekuliert wird, könnte ein Ende nehmen, berichtet Ralf Sotscheck. "Wenn es nach der US-amerikanischen Bestsellerautorin Patricia Cornwell geht, kann die Akte nun geschlossen werden: Cornwell behauptet, sie habe lückenlose Beweise. Der in München geborene impressionistische Maler Walter Sickert soll der Mann sein, der die fünf Prostituierten im Herbst 1888 auf der berüchtigten Viertelmeile im Londoner East End grausam ermordet hat." Die Indizien? Ein Brief des Malers mit dem "seltenen Wasserzeichen", das auch die Ripper-Briefe tragen, und Ähnlichkeiten zwischen seinen Gemälden und den Fotos der Kriminalpolizei. Sein Motiv? "Der Maler habe an einer Penisverformung gelitten, weshalb aus seinen drei Ehen kein Kind hervorgegangen sei. Sollte Impotenz einen Serienkiller gezeugt haben?"

Auf der Meinungsseite erkennt Klaus Kreimeier in der Haltung der westlichen Regierungen zum bevorstehenden Irak-Krieg jene "sture Systematik, die Kleinkinder auf die Zerstörung ihres Spielzeugs anwenden. Hoch konzentriert - als gelte es, ein Rennauto zielgenau gegen den Brückenpfeiler zu steuern".

Weitere Artikel: Madeleine Bernstorff war auf der Hamburger Tagung "Re-educate Germany by film! Wie werde ich Demokrat", die sich der Umerziehung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg widmete, und hat festgestellt, dass damals "der Glaube an das aufklärerische Potenzial des Mediums Film noch unerschütterlich war". Barbara Oertl hofft, dass der Menschenrechtspreis von "Reporter ohne Grenzen", der dem inhaftierten russischen Journalisten Grigori Pasko verliehen wurde, etwas an dessen Lage ändern wird. Es sei aber "eher unwahrscheinlich". In den Themen des Tages erklärt Ralph Bollmann, das deutsche Theater müsse sich "aus der ewigen Opferrolle befreien".

Besprochen werden Bill Paxtons Film "Dämonisch" und Bücher, James Lasduns Roman "Die Jagd auf das Einhorn", Jonathan Cullers Literaturtheorie, Peter Rehbergs Erzählband "Play. Geschichten aus New York", "Schwester Mitternacht" - ein Roman von Barbara Kirchner und Dietmar Dath - und Genevieve Castrees Comic "Die Fabrik" (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und schließlich TOM.

NZZ, 11.12.2002

Marcus Stäbler begrüßt die "maßstabssetzende" Erweiterung des Internetmagazins für klassische Musik Andante (zur Website hier): "Im Mittelpunkt des Internetauftritts von Andante steht nicht das umfangreiche Informationsangebot, sondern der sogenannte 'Music-Room' - eine Art virtueller Diskothek, in dessen stetig wachsendem Angebot der Besucher herumstöbern und sich die gefundenen Schätze auf den imaginären Plattenteller des PC legen soll. Das umfangreiche Angebot speist sich aus dem Fundus der Kooperationspartner von Andante: Die Wiener Philharmoniker, das London Symphony, das Philadelphia Orchestra und das Concertgebouworkest sowie die Wigmore Hall und die Salzburger Festspiele (demnächst kommt noch die Mailänder Scala hinzu) haben ihre Archive geöffnet und für die Internetseite eine große Zahl interessanter, teilweise bisher unveröffentlichter Aufnahmen zur Verfügung gestellt".

Das Basler Literaturhaus und das Tabakskollegium hatten 2001 einen Wettbewerb ausgeschrieben für einen Stadtroman, den Eberhard Petschinka gewonnen hatte. Nun, so berichtet "rbl", ist der Roman fertig, die Öffentlichkeit ist teilweise angewidert, teilweise empört. Der Romancier bekam weder Blumenstrauß noch Preisgeld und "eine für den vergangenen Montag anberaumte Lesung im Literaturhaus artete in eine wüste Auseinandersetzung aus".

Ein Loblied auf den Rowohlt-Verleger Alexander Fest singt Joachim Güntner. Fest sorge nicht nur für eine Reliterarisierung des Hauses Rowohlt. Der Mann hat auch wunderbare Manieren, weiß Güntner und erzählt: "Kertesz war gerade als neuer Nobelpreisträger bekanntgegeben worden, wir standen bei Suhrkamp, da erschien Fest und ging auf Verlagsleiter Günter Berg zu: Das ZDF habe ihn, so Fest, als Kertesz-Verleger zum Interview gebeten, aber es gehe nicht an, dass er da allein vor den Fernsehkameras öffentliche Aufmerksamkeit einheimse, wo doch Kertesz nun auch bei Suhrkamp sei, Berg müsse mitkommen, auf der Stelle. Und so konnte man denn die beiden jungen Chefs zweier bedeutender Verlage in kollegialer Eintracht zum Interview ziehen sehen."

Weitere Artikel: Andrea Köhler berichtet über die vom amerikanischen Außenministerium herausgegebene Anthologie "Writers on America": "Die Broschüre wird zunächst in einer Auflage von mehr als 30 000 englischsprachigen Exemplaren verteilt, Übersetzungen in Arabisch, Französisch, Spanisch und Russisch sollen folgen." Richard Merz verteidigt den Tänzer Harald Kreutzberg zu seinem hundertsten Geburtstag. Kreutzberg wird seit einiger Zeit wegen seiner abwartenden Haltung im Dritten Reich kritisiert. Marc Zitzmann berichtet über die Wiedereröffnung des Matisse-Museum in dessen Geburtstadt Le Cateau-Cambresis. Claudia Schwartz widmet sich noch einmal dem Berliner Vorhaben, der Flick Collection mit einem Nutzungsvertrag für die Rieck-Halle eine Unterkunft zu bieten. Peter Stücheli huldigt dem Zürcher Kulturförderer Heinz Hertach, der mit der Geschäftsführung der Kulturstiftung Landis & Gyr und dem Präsidium des Verwaltungsrats des Opernhauses Zürich seine wichtigsten Ämter niedergelegt hat.

Besprochen werden eine CD mit Madrigalen von Claudio Monteverdi, eingespielt und geleitet von Rene Jacobs, eine Ausstellung der Fotografien von Lucien Harve in den Hamburger Deichtorhallen und Bücher, darunter Franz Maciejewskis Studie über jüdische Beschneidungen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 11.12.2002

Für Edmund Stoiber entscheidet eine EU-Mitgliedschaft der Türkei "über den weiteren Weg der EU". Und so warnt er inständig vor den Konsequenzen eines türkischen Beitritts, der "die Integrationskraft Europas sprengen und die Akzeptanz der Bevölkerung überfordern" würde. Außerdem wäre es schlicht zu teuer: "Dazu nur im Vergleich: Spanien erhält im Zeitraum 2000 - 2006 EU-Struktur- und Kohäsionstransfers von rund 56 Milliarden Euro. Spanien ist aber nur halb so groß wie die Türkei und hat deren vierfache Wirtschaftskraft." Schließlich unterscheide sich auch der "historische und geistesgeschichtliche Hintergrund" der Türkei "erheblich" von dem der EU. "Die Türkei nahm nicht teil an der Aufklärung und am Ringen der Völker Europas um Freiheit, Eigenverantwortung und Solidarität. Dies ist aber Grundlage der europäischen Identität und Werteordnung. Die Vision einer engen Politischen Union hat in einer so enorm erweiterten und wesentlich heterogeneren EU keinen Raum mehr." Stoiber plädiert statt dessen dafür, der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft" anzubieten.

Weitere Artikel: Gerhard Fischer hat gefallen, wie Imre Kertesz im Stockholmer Goethe-Institut sein Verhältnis zur deutschen Sprache beschrieben und dabei eine "Vor-Auschwitz-Sprache" und eine "Nach-Auschwitz-Sprache" unterschieden hat . Alexander Kissler berichtet, dass die Deutsche Bank davon ausgeht, dass dem Irak im Januar der Krieg erklärt wird. Petra Steinberger war auf der ersten israelisch-palästinensisch-deutschen Plattform zum Thema "Gewalt, Gedächtnis, Verständigung" und findet, dass sich sowohl Israelis als auch Palästinenser etwas zu gut in der Opferrolle gefielen. Stefan Koldehoff berichtet, dass in Gotha ein Manifest verabschiedet wurde, das die Richtlinien der Restitutionspolitik in Sachen unrechtmäßig enteigneter Kulturgüter vorgibt.

Arnd Wesemann hat auf der Berliner Tanznacht (mehr hier) festgestellt, dass man den "virtuellen Tanz" erfunden hat. Christian Jostmann war auf einer bewegten Historiker-Tagung in Bielefeld, zum Thema Politika in der Vormoderne. In der Kolumne sinniert "egge" über abnehmende staatliche Kulturförderung und wachsende Besucherströme in Museen. Und zwei Meldungen: Die umstrittene Freiburger Aufführung von Moritz Rinkes "Nibelungen" wurde gerichtlich untersagt und Dirigent James Levine mit dem Kennedy Center Honors Award ausgezeichnet.

Besprochen werden Baz Luhrmanns Broadway-Inszenierung von Puccinis "Boheme", die Doppelpremiere von Lars Norens "Tricks and Treats" und Hanns-Josef Ortheils "Der Stadtschreiber" am Mainzer Staatstheater, Hilary Hahns Geigenrecital im Münchner Herkulessaal, Paul Virilios Unfall-Ausstellung "Ce qui arrive" in der Pariser Fondation Cartier und Bücher - Dieter M. Gräfs Gedichtband "Westrand", Jens Jensens Biografie des Windjammers "Pamir", eine Studie über Bevölkerungs- und Ehepolitik (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).