Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.12.2002. In der SZ plädiert Dieter Oberndörfer für die Aufnahme der Türkei in die EU und erinnert die Kollegen Winkler und Wehler daran, dass die Deutschen auch nur unter Zwang demokratisch wurden. Die NZZ stellt iranische online-Magazine vor. Die FR war auf einer Tagung in Japan, die taz besuchte drei Kunstausstellungen in China. Und die FAZ rechnet mit Roland Koch ab.

SZ, 04.12.2002

Dieter Oberndörfer, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg, plädiert für eine Aufnahme der Türkei in die EU. Heinrich August Winklers Einschätzung nennt er "selbstgerecht" und "pauschalisierend" (siehe hier), Hans-Ulrich Wehlers Stellungnahme "einfältig" und "ahnungslos polemisch" (siehe hier). Man solle sich bei dieser Frage lieber an die eigene Vergangenheit erinnern, bevor man voreilige und leichtfertige Urteile fälle. "Nicht nur in der Türkei ist es bekannt, dass die heutige Demokratie Deutschlands geschichtlich nichts Naturwüchsiges war, sondern letztlich durch die Alliierten ermöglicht wurde. In ihrem eigenen Kampf um Freiheit der Religion und Weltanschauung müssen die türkischen Demokraten es als Hohn empfinden, dass ihnen nun der Völkermord an den Armeniern und dessen mangelnde politisch-historische Aufarbeitung ausgerechnet von einem deutschen Historiker vorgehalten wird."

Weitere Artikel: Sonja Asal berichtet, dass die französische Rechte eine "intellektuelle Neudefinition" vollzogen hat und nicht mehr vor "linken Themen" zurückschreckt. Christopher Schmidt ist darüber besorgt, dass sich die Spielpläne des krisengeschüttelten deutschen Theater wie eine lange Liste "ausgemotteter", geschmackssicherer Stücke lesen. In der Kolumne stellt sich Willi Winkler vor, wie die erste deutsche Popakademie aussehen könnte, die tatsächlich nächstes Jahr in Mannheim eröffnet wird. "Ukü" meldet den Tod des Kulturphilosophen Ivan Illich. Und ein Nachruf: Ralf Dombrowski zum Tod des Jazzpianisten Mal Waldron.

Auf der Musikseite diesmal: Reinhard J. Brembeck freut sich über das "Münchner Requiem", nämlich Karl Valentins komplette Tonauffnahmen auf CD. Im Gespräch mit Kristina Maidt-Zinke erklärt Konrad Junghänel, der Leiter des erfolgreichen Vokalensembles Cantus Cölln, dass Basisdemokratie und Chor nicht zusammenpassen. Besprochene CDs sind unter anderem das Beethoven-Violinkonzert der genialischen Ginette Neveu, Pfitzners Oper "Der arme Heinrich" und eine Manfred-Krug-CD mit Weihachtsliedern.

Besprochen werden Tobias Kniebes Film "Führer Ex", Jürgen Kruses Bochumer Inszenierung von Sam Shephards "True Dylan", die Ausstellung "Rapture" über Gegenwartskunst im Londoner Barbican, das Münchner Konzert der Pianistin Mitsuko Uchida und Bücher - Keto von Waberers Roman "Schwester", Schillers Briefe, ein Sammelband über deutsche Geschichtsdeutung nach 1945 und Linda Colleys englischsprachige Studie zur britischen Kolonialgeschichte (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 04.12.2002

Früher wurden die websites über den Iran im Exil gebastelt. Mittlereweile, berichtet Reingard Dirscherl, sind websites "made im Iran" ein Markenzeichen geworden. "Jeden Monat trifft sich das Team von 'Tehran Avenue' samt Laptop in einem der vielen In-Coffeeshops. Es riecht nach türkischem Kaffee und Espresso, wo es Tradition und viel billiger wäre, Tee zu trinken. Und es riecht nach Subversion und Aufbruch. Die meist jugendlichen Mitarbeiter orientieren sich an den Dimensionen des globalen Zeitalters und pflegen einen gewagt laxen Umgang mit den traditionellen Verhaltensnormen." Die Geistlichkeit hat noch keinen Weg gefunden, die online-Magazine zu konntrollieren. So steht die verbotene Zeitung "Noruz" jetzt als "Ruydad" - unbehelligt - im Netz. Masha Shekarloo hat in den USA Politikwissenschaften studiert, ist nach Teheran zurückgekehrt und schreibt jetzt in "Badjen" gegen die Verschleierung, aber auch gegen ein falsches Bild des Irans im Westen.
Reingard Dirscherl hat am Ende ihres Artikels eine kleine Linkliste von iranischen websites zusammengestellt. Wir verweisen zusätzlich noch auf unseren Link des Tages vom Oktober 2001, der die iranische website iranian.com vorstellt.

Hartmut Regitz fragt sich, ob mit den Berliner Ballettkompanien noch zu rechnen ist und sucht nach Beweisen für ein Konzept für die Zukunft: "Leicht ist der Beweis nicht, schon gar nicht in einem Berlin, in dem sich keine der drei Ballettkompanien in den letzten Jahren als Impulsgeber hat profilieren können. Wie auch? Um die Hälfte seiner Mitglieder amputiert, tanzt beispielsweise das Ensemble der Deutschen Oper seit Jahren über seine Verhältnisse."

Besprochen werden die Ausstellung "Les annees 70 - l'art en cause" im CapcMusee d'art in Bordeaux, der Auftritt der Basler Madrigalisten in der Zürcher Tonhalle und mehrere Bücher, darunter eine bisher nur auf Englisch erschienene Studie von Jonathan Wright über Gustav Stresemann und Saids Hörspiel über Hölderlin (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 04.12.2002

Brigitte Werneburg ist nach China gereist, um drei große Kunstausstellungen in Guangzhou, Schanghai und Shenzhen zu sehen. Die Ausstellung in Guangzhou "stellte den Begriff des Experiments gegen den der Avantgarde", schreibt sie. Doch zunächst einmal musste Werneburg selbst experimentieren und sich "ihren Reim darauf machen, wie jetzt Kunst und Leben zu sortieren seien, Selbst und Umwelt, Globales und Lokales": "Xu Bing etwa malte drei hübsche, äußerst lebendige Esel zu Zebras um. Ich hätte sie als solche durchgehen lassen, wäre ich nicht auf den Umstand aufmerksam gemacht worden. Wer weiß schon, wie ein Zebra wirklich aussieht? Das hatten sich vor einigen Jahren auch die chinesische Bauern in der Provinz gedacht, von denen Xu Bing die Idee hat ... Diese Bauern mochten nun die Arbeiter sein, die am Rand des Museumsareals ihre Unterkünfte errichtet hatten. Kleine Hütten, die teils aus Stein, teils aus Holz bestehen ... Fälschlicherweise hielt ich diese wildwüchsigen Verschläge zunächst für künstlerische Installationen ..."

Weitere Artikel: Tobias Rapp erklärt, was es mit dem in New York omnipräsenten Kürzel SUV auf sich hat. Auf der Medienseite stellt Steffen Grimberg fest, dass ein Verbot der Tabakwerbung sich verheerend auf die schon angeschlagene Gesundheit der deutschen Presselandschaft auswirken könnte. Besprochen werden drei Bücher, die den Zusammenhang zwischen Computerspielen und Jugendgewalt beleuchten, und Andreas Kriegenburgs "verschenkte" Inszenierung der "Orestie" an den Münchner Kammerspielen.

Und schließlich TOM, über starke Männer und starken Kaffee.

FR, 04.12.2002

Irmela Hijiya-Kirschnereit berichtet, dass man sich in Kyoto auf einer Tagung über das "Demokratiepotenzial in den ostasiatischen Gesellschaften - aus der Sicht der Kritischen Theorie" nicht einig war, ob der Konfuzianismus die Demokratisierung der asiatischen Länder behindert oder nicht. Doch warum ausgerechnet Ostasien - und warum ausgerechnet Kritische Theorie? Johann Arnason von der La Trobe Universität in Melbourne "erinnerte daran, dass die Frankfurter Schule sich mit dem sozialistischen Modell als konkurrierender Spielart der Moderne auseinandergesetzt habe. Nach dem Fall des Sowjetstaats habe sich die Konkurrenz der Spielarten nirgends so zugespitzt wie in Ostasien zwischen China und Japan. Es bleibt zudem eine weltgeschichtliche Tatsache, dass Ostasien unter den Hochkulturen der Alten Welt das eigentlich Andere des Westens darstelle. Und, so Arnason, in keinem anderen Teil der Welt würde die westliche Moderne auf so vielfältige und folgenreiche Weise 'neu erfunden'."

Christian Broecking schreibt einen Nachruf auf den Jazzpianisten Mal Waldon. Auf der Medienseite berichtet Karl-Otto Sattler aus Straßburg, dass man sich im Europarat um die "wachsende Bedrohung der Medienfreiheit" in Russland sorgt.

Besprochen werden die große Pariser Matisse-Picasso-Ausstellung (mehr hier) im Grand Palais, die Ausstellung "Future Cinema" im Karlsruher ZKM und die Uraufführung von Ulrike Syhas Stück "Autofahren in Deutschland" in Hamburg.

FAZ, 04.12.2002

"Roland Koch ist der wahre Erbe von Helmut Kohl", erklärt ein ziemlich gnadenloser Patrick Bahners zum geplanten Untersuchungsausschuss der Union. Wie schon beim Theater im Bundesrat um das Einwanderungsgesetz sieht Bahners auch hinter diesem Streich den Versuch einer Verfassungsrevolution, die vor allem das Ansehen der Institutionen untergraben soll. "Es ist kein Zufall, dass Koch als Betreiber des Ausschussprojektes gilt. Wie er im Februar den Ansehensverlust des Bundesrates in Kauf nahm, so scheint ihm heute gleichgültig, dass nach Schließung der Wahlbetrugsakte niemand mehr glauben wird, dass ein Untersuchungsausschuss der Wahrheitsfindung dienen könne. Soll mit solcher Instrumentalisierung der Institutionen die bürgerliche Revolution in Deutschland beginnen? Ein Konservativer wird Koch oft genannt, doch konservativ wäre ein Gefühl dafür, dass nicht jedes Mittel recht ist. Schon einmal brachte es ein Ministerpräsident zum Bundeskanzler, der seine Verachtung von Formen und Üblichkeiten nicht verhehlte."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier stellt den schwäbischen Crichton vor, den Software-Entwickler Andreas Eschbach, nach dessen Romanvorlage der Film "Das Jesus Video" gedreht wurde. Henning Ritter schreibt einen Nachruf auf den früheren Priester und Philosophen Ivan Illich. Kerstin Holm wirft einen Blick auf die wenigen Lichtblicke in der Moskauer Theaterszene. Eberhard Rathgeb freut sich, dass in Greifswald das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg eröffnet wurde. Michael Gassmann führt in das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen, das Briefe, Erinnerungen, Haus- und Hofbücher von allen sammelt, die weder Rang noch Namen haben. Felicitas von Lovenberg zeichnet ein kurzes Porträt von Wolfgang Ferchl, der von Eichborn an die Spitze des Piper Verlags wechselt. Und Monika Osberghaus meldet, dass - welch glücklicher Zufall - ein verschollener Text von Astrid Lindgren entdeckt wurde: "Pippi feiert Weihnachten".

Auf der Medien-Seite sieht Michael Hanfeld die Intendanten der ARD vor tausend tolle Fragen gestellt: Dürfen Sportreporter Politiker werden? Dürfen Politiker Moderatoren werden? Und wer entscheidet? Sandra Kegel plaudert mit Spiegel-Verlagschef Fried von Bismarck über wahre und falsche Vornamen.

Auf der Stil-Seite betrachtet Ilona Lehnhart anlässlich einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin das politische System hinter dem Tafelzeremoniell. Jürgen Dollase sieht die Dekonstruktion in die spanische Küche Einzug halten.

Besprochen werden zwei Ausstellungen über den "unenträtselbaren" Grünewald in Aschaffenburg, der neue Disneys-Film "Der Schatzplanet", ein Konzert mit Bebop von Till Brönners und den Non-Songs von Nils Landgren. Und Bücher: Milton Hatoums Roman "Zwei Brüder" sowie eine Studie zur Rechtsstellung der Diözesanbischöfe (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).