Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2002. In der FAZ erinnert sich Peter Wapnewski an die Bombennächte in Berlin. Die NZZ hat den estnischen Schriftsteller Jaan Kross besucht. In der FR denkt Horst Kurnitzky über den Zusammenhang zwischen Märtyrern und den nackten Brüsten der Justitia nach. Die taz bewundert die Heldin Alice Schwarzer. In der SZ würdigt Hans Mommsen den Holocaust-Forscher Raul Hilberg.

FAZ, 03.12.2002

Nachdem Jörg Friedrich sein Buch "Der Brand" veröffentlicht hat, erinnert sich jetzt auch Peter Wapnewski an die Bombennächte von Berlin. Hier der Anfang: "Anderthalb Jahre unter Bomben auf Berlin. Vergeblich werden wir einst, so sagten wir damals, den Kindern und Enkeln dieses Geräusch nahezubringen versuchen, dieses grausame, Luft und Mauern und den Atem zerschneidende Jaulen der Luftschutzsirenen, das An- und Abschwellen dieses mörderischen Tons, einer heulenden Wolfsmeute gleich, der schlagartig das Lebensgetriebe lähmte, es verwandelte und den Menschen ihren jeweiligen Ort, ihr jeweiliges Tun zu verlassen befahl und sie in den Schutzraum drängte. Das heißt in den Keller unter den Häusern, nicht als Zufluchtsraum gebaut, allenfalls Schirmung versprechend, wenn die Bombe nicht direkt zuschlug..." (Warum aber stellt die FAZ den Text unter die vorwurfsvoll klingende Unterzeile "Bomben auf uns: Wir haben geschwiegen, jetzt müssen wir reden". Hat das vorher jemand verboten?).

Weitere Artikel: Eva Menasse ärgert sich über den angeberischen Auftritt eines Werbers (Menasse nennt ihn nicht mit Namen), der mit Claudia Schiffer für das Holocaust-Mahnmal werben soll. Wolfgang Schneider hatte wenig Freude an der Tagung der Kleist-Gesellschaft in Berlin - bis Martin Mosebach sich für seinen Kleistpreis bedankte: " Wie der eine versprengte Husar in der Anekdote ("... aus dem letzten preußischen Kriege") die ganze preußische Armee rettet, so rettete Mosebach an diesem Abend die Kleist-Tage gegen die feindlichen Truppen der Routine und Langeweile." Rose-Maria Gropp schickt Alice Schwarzer einen etwas griesgrämigen Gruß zum sechzigsten Geburtstag. Walter Hinck gratuliert dem Verleger und Schriftsteller Helmut Kindler zum Neunzigsten. Gerhard R. Koch gratuliert Sven Nykvist, Ingmar Bergmanns Kameramann, zum Achtzigsten. Apl. schreibt den Nachruf auf den großen belgischen Comicverleger Charles Dupuis ("Spirou", mehr hier).

Auf der Medienseite berichtet Michael Ludwig von einem polnischen Fernsehfilm, der über den erzreaktionären katholischen Radiosender "Radio Maryja" und das undurchsichtige Geschäftsgebaren seines Leiters, des Redemptoristenpaters und erbitterten EU-Gegners Tadeusz Rydzyk aufklären sollte. Leider war der Film schlecht gemacht und könnte darum den EU-Gegnern eher Auftrieb geben, meint Ludwig.

Auf der letzten Seite reist Tobias Rüther auf den Spuren Jonathan Franzens durch St. Louis. Gina Thomas porträtiert Graham Greene, dessen Roman "The Quiet American" in der Verfilmung von Philip Noyce gerade Triumphe feiert. Und Stefanie Peters erzählt, wie Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" in Polen aufgenommen wird.

Besprochen werden die Francis-Picabia-Retrospektive im Musee de la Ville in Paris, neue Choreografien vom Nederlans Dans Theater in Den Haag und von Rosas in Brüssel, die Aufführung eines Interviews, das Sam Shepard 1987 mit Bob Dylan geführt hatte, im Schauspiel Bochum, Andreas Kriegenburgers Inszenierung der "Orestie" in den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter Mo Yans Roman "Die Schnapsstadt" (Leseprobe) und Sachbücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Zu melden ist noch, dass die FAZ heute ihre dritte Herbst-Literaturbeilage präsentiert: den Aufmacher widmet Ingo Schulze dem russischen Schrifsteller Daniil Charms.

NZZ, 03.12.2002

Cord Aschenbrenner war zum Werkstattbesuch bei dem estnischen Schriftsteller Jaan Kross (mehr hier), der laut Aschenbrenner nicht nur eine imposante Zahl historischer Romane geschrieben habe, sondern auf eine ebenso beeindruckende eigene Geschichte zurückblicken kann. "Kommt man in Tallinn als ausländischer Besucher auf Jaan Kross zu sprechen, sagen die Gesprächspartner ziemlich gewiss sehr bald: 'Er soll jetzt seine Memoiren schreiben.' Dann folgt ein rascher Blick auf den Fremden. Hat der auch richtig verstanden, was man gesagt hat? Kross, der Schriftsteller der kleinen Nation und ihre moralische Autorität in den Zeiten der Unterdrückung, er schreibt noch. Aber er ist bei seinen Erinnerungen angelangt. Bei unserem Besuch auf Seite 162, um genau zu sein. Seite 162, das ist irgendwann nach dem Abzug der deutschen Wehrmacht 1944, die Rote Armee hat das Land zum zweiten Mal besetzt, und der junge Mann, der später Schriftsteller werden wird, ist erst einmal Juradozent in Tartu. Der junge Mann ist da 24, geboren ist er im selben Jahr, sogar im selben Monat, in dem der estnische Staat gegründet wurde."

Der österreichische Schriftsteller Friedrich Achleitner (mehr hier) erzählt einige seiner Einschlafgeschichte, die Geschichte über Zürich etwa geht - ganz leicht gekürzt - so: "in zürich fallen sogar die blätter ordentlicher vom baum als in anderen städten, sie decken den boden ästhetischer, verteilen sich nach bestimmten mustern, ja ornamental, wenn nicht gar nach texturalen oder strukturalen prinzipien. in zürich wäre es ein vergnügen, über oder durch herbstblätter zu wandern, über teppiche natürlicher kunst, über auf den boden locker verteilte harmonien, wenn sie nicht sofort von herbstblätterentsorgungskolonnen weggeräumt würden."

Ansonsten gibt es jede Menge Rezensionen. Besprochen werden eine Kafka-Ausstellung im New Yorker Jewish Museum, die Schau "Territoires partages, l'archipel metropolitain" in und über Paris im Pavillon de l'Arsenal, eine Präsentation des Leipziger Bach-Archivs, eine Retrospektive zu Louis Soutter im Basler Kunstmuseum, Samuel Schwarz' Inszenierung der "Miss Sara Sampson" am Theater Basel, eine Aufführung der "Glut" nach Sandor Marai im Berner Stadttheater. Und Bücher: etwa eine Studie zur Körperwahrnehmung oder Sammelbände über Theologen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 03.12.2002

In einem Essay denkt Horst Kurnitzky ("Die unzivilisierte Zivilisation") über "Viktimismus und Märtyrertum" nach. "Die Figur des Märtyrers haben die Moslems von den Christen übernommen, die damit einmal Heiden zu beeindrucken und die eigenen Leute durch Opfer zu binden versuchten." Allerdings habe nach "dem Verschwinden der Ideologien des 20. Jahrhunderts der Glaube an Gott und Wunder" vor allem auch in "god's own country" wieder "Hochkonjunktur": "Während der Justizminister Ashcroft im Ministerium zum Montagsgebet ruft und wie ein amerikanischer Taliban die nackten Brüste der Justitia im Ministerium durch ein Tuch verhüllen lässt, wurde die zentrale Gedenkfeier für die Opfer des Terroranschlags in New York als Gottesdienst zelebriert. Ein religiöses Bekenntnis verschleiert die realen Interessen an den Energiequellen der Welt".

In einem Interview gibt der Holocaust-Forscher Raul Hilberg ("Die Vernichtung der europäischen Juden"), der gestern in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, Auskunft über seine Arbeit und sein neues Buch "Die Quellen des Holocaust": "Alle, die sich in den ersten Jahren nach 1945 mit dem Nationalsozialismus beschäftigten, waren Politologen. Das war ja noch fast Gegenwart! Es war nicht sicher, ob sich der Holocaust wiederholen kann. Die Historiker befassten sich damit selten oder überhaupt nicht. Sie meinten, um etwas historisch erklären zu können, brauche man mehr zeitliche Distanz. Politologen haben diesen Luxus nicht, wir beschreiben die Gegenwart."

Des weiteren informiert Daniel Kothenschulte über die Einstellung der katholischen Zeitschrift "Filmdienst" ("Bischöfe erklären die Medien zur kirchenfreien Zone"). Marcia Pally schreibt in ihrem 24. "Flat Iron Letter" über neue New Yorker Ins (Bond) und Outs (Papst, Essengehen). Harry Nutt gratuliert dem Verleger und taz-Genossenschaftler Helmut Kindler zum Neunzigsten. In der Kolumne Times mager analysiert "alz" die Freiburger Theaterkrise.

Besprechungen gibt es heute von der Ausstellung zum "Rätsel Grünewald" im Schloss Johannisburg in Aschaffenburg, der deutsche Erstaufführung von Sam Shepards Stück "True Dylan" am Theater unter Tage des Bochumer Schauspielhauses und der deutschen Uraufführung von Lars Norens "Tricks or Treats" am Staatstheater Mainz.

TAZ, 03.12.2002

Auf den Tagesthemenseiten gratuliert Katja Kullmann ("Generation Ally") Alice Schwarzer zum sechzigsten Geburtstag und fragt sich, warum Schwarzer heute eigentlich nicht als Heldin gilt: "Sie hat jahrelang gegen den Paragrafen 218 gekämpft, weshalb die nachfolgende Generation nach einer Abtreibung kein Verbluten und keinen Prozess mehr befürchten muss. Sie hat mit ihrem 1975 erschienenen Buch "Der Kleine Unterschied" am patriarchalisch geprägten Privatleben von Millionen Frauen gerührt. Sie hat - vergeblich - den Stern wegen frauenfeindlicher Titelbilder verklagt. Alice Schwarzer hat all das getan in einem Land, in dem der Ehemann seiner Ehefrau den Job verbieten konnte, und zwar bis 1976, zu dem Jahr meiner Einschulung. Schwarzer prangerte die frauenfeindliche Praxis des Scharia-Rechts in islamischen Ländern schon an, während andere noch gar nicht sicher waren, ob das politisch korrekt ist."

Auf den Kulturseiten porträtiert Dietrich Heisssenbüttel den palästinastämmigen US-Künstler Fareed Armaly (mehr hier), der auf der diesjährigen Documenta vertreten war und der jetzt seine Leitungstätigkeit am Stuttgarter Künstlerhaus beendet. "Armaly macht einen Unterschied zwischen Identität und Herkunft. Wie der jamaikanisch-britische Soziologe Stuart Hall fragt er lieber nach den 'routes', nach Wegen in die Zukunft, statt sich nostalgisch nach seinen 'roots'", der geografischen Herkunft seiner Familie und einer traditionellen Kultur, zurückzusehnen, die es ohnehin nicht mehr gibt."

Weitere Artikel: Anhand der Konfrontation höchst unterschiedlicher Ansatzpunkte zur Betrachtung der Sexualiät kommentiert Jan Engelmann aktuelle Einlassungen des Ethnologen Hans Peter Duerr und des Historikers Arnulf Baring (hier): "Was ist eigentlich bedenklicher? Die westlichen Projektionen auf das Sexualverhalten anderer Ethnien oder die wohlig erschauernde Angstlust von Leitartiklern, die aus gemütlichen Schreibstuben heraus Revolten gegen den Staat und Beteiligungen an Golfkriegen fordern?" Und Helmut Höge warnt vor den neuen Berliner "No-Go-Areas" rund um die Einheitslook-Filialen von Starbucks Coffee und Konsorten.

Besprochen werden die Uraufführung von Ulrike Syhas Stück "Autofahren in Deutschland" an der Experimentierbühne des Hamburger Thalia Theaters, und natürlich Bücher, darunter eine Studie über Verbrechensopfer von Jan Philipp Reemtsma und Winfried Hassemer, zwei Publikationen zur Bildungsmisere, und ein Band mit dem Postkarten- und Briefwechsel (mehr hier) zwischen Uwe Johnson (mehr hier) und Jochen Ziem (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

SZ, 03.12.2002

Anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an den US-amerikanischen "Erforscher des Holocaust" Raul Hilberg, druckt die SZ Teile der Laudatio, die der Historiker Hans Mommsen (mehr hier) auf seinen Kollegen hielt. Darin erinnert er daran, dass Hilberg "mit seinem Interesse am Holocaust ein akademischer Außenseiter" war. "Wie er in seinen 'Unerbetene Erinnerung' betitelten Memoiren" berichte, wurde er darauf hingewiesen, "dass er mit einer Dissertation zu diesem Gegenstand schwerlich Chancen für eine akademische Karriere haben werde. Das sollte sich weitgehend bewahrheiten. Ohne außergewöhnliches Durchhaltevermögen hätte Hilberg wohl kaum reüssiert."

Franziska Augstein erklärt, wie der Krieg gegen den Irak systematisch "plausibel geredet" werde. Dabei wisse vorläufig keiner, "was die Amerikaner tun werden". Diese "unfreiwillige Übereinstimmung" teilten die Europäer, die einen solchen Krieg für falsch halten, mit Saddam Hussein. Das komme "davon, wenn man mit einer Weltmacht aus einem Napf isst." "Die meisten Irakis können, ohne Schaden zu nehmen, eine Straße überqueren. Das ist nicht viel. Aber wird man das auch von den Zuständen sagen können, die im Land herrschen werden, nachdem die Amerikaner dort aufgemischt haben?"

Weitere Artikel: Andrian Kreye wundert sich über die New Yorker Architekturkritik, die von einem "ebenso bizarren wie typischen Streit" erschüttert wird. Auslöser ist das neue Westin-Hotel, das schon den New Yorker zu der Frage inspiriert hatte, ob dies nun "das hässlichste Gebäude von New York" sei. Christine Dössel liefert einen aktuellen Lagebericht von der Hamburger Theaterkampffront: Kultursenatorin Dana Horakova gegen Schauspielhaus-Intendant Tom Stromberg. Christian Jostmann informiert über eine Marburger Tagung zur Arbeit im Mittelalter.

Herbert Riehl-Heyse gratuliert dem Verleger Helmut Kindler zum Neunzigsten, eine Gratulation zum Achtzigsten geht an den langjährigen Kameramann von Ingmar Bergman, Sven Nykvist (mehr hier). Fritz Göttler stellt die "rasante" Internet-Kurzfilm-Serie "The Hire" vor, und Eva Lindenau gratuliert auf der Medienseite Alice Schwarzer zum Sechzigsten und weist darauf hin, dass "Emma" jetzt online ist.

Besprochen werden "Sexmachine", eine Ausstellung postfeministischer Kunst in der Münchner Sammlung Goetz, neue Choreografien von Wim Vandekeybus, Jan Fabre und Anne Teresa De Keersmaeker in Essen, Paris und Brüssel sowie die "traumhafte Underdog-Filmgroteske" "On the Line" von Eric Bross mit NSYNC-Sänger James Lance Bass und Bücher, darunter Michael Althens Liebeserklärung ans Kino, eine Lösung des "literarischen Rätsels" Shakespeare, eine Kulturgeschichte der chinesischen Religionen und ein neuer Roman von Nicola Baker (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).