Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2002. Hans Herbert von Arnim schlägt in der SZ vor, Politiker künftig nach ihrer Leistung zu bezahlen. Karl Schlögel schickt der NZZ eine Reportage über die neue Architektur in Nischni Nowgorod. In den Uffizien geht das Licht aus, berichtet die FR. Und Jens Reich warnt in der FAZ davor, Lähmung (BRD) mit Krampf (DDR) zu vergleichen.

SZ, 02.12.2002

Der Verwaltungsrechtler Hans Herbert von Arnim (homepage) kommentiert das Vorhaben der Parlamentsabgeordneten, ihre Diäten an die Bezüge von Bundesrichtern anzugleichen: "Manche Kritik an der Bezahlung von Politikern beruht auf den Leistungen der politischen Klasse. Hätten die Menschen das Gefühl, Politiker würden ihren Aufgaben gerecht und machten gute Politik, würden sie ihnen eine gute Bezahlung gönnen. Aber viele haben eher den gegenteiligen Eindruck: dass die Politik und ihre Vertreter versagen, sich dennoch immer höhere Bezüge bewilligen und gleichzeitig an überholten Privilegien festhalten. Wie irrelevant die Leistung tatsächlich ist, zeigt sich auch daran, dass Politiker ihre üppigen Übergangsgelder und Altersversorgungen selbst dann ungekürzt bekommen, wenn sie ihr Amt aus eigenem Verschulden verlieren."

Uns Deutschen mangelt es an der "Begabung zur Revolte", meint Günter Rohrbach, denn in Zeiten der Krise ruft alles nach der "Obrigkeit". Doch "wer ist denn dieses Deutschland, wenn nicht wir alle? Dieses Land steht voller Glashäuser, aus denen zur Zeit mit Steinen geworfen wird. Außer Scherben wird dabei nichts herauskommen. Wenn wir wirklich der Meinung sind, dass dieser Staat Veränderungen nötig hat, dann sollten wir damit anfangen. Denn alles Geschrei wird uns nichts nützen, so lange die eigenen Milieus im Argen liegen. Also sollten wir uns zunächst einmal um sie kümmern. Dabei ist es ziemlich gleichgültig, wo wir anfangen, Baustellen gibt es genug." Drei davon nennt Rohrbach "exemplarisch": Film, Fernsehen und Theater.

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck berichtet, dass die drei Berliner Opernhäuser doch noch gerettet werden können - die Frage ist, zu welchem Preis. In der Kolumne schildert "E. B." die Versteigerung in München eines Kästchens von Goethe, bei der das Frankfurter Goethemuseum und die Stiftung Weimarer Klassik aus Geldmangel nur zuschauen konnten. Johannes Willms sieht in der symbolträchtigen Ehrung, die Alexandre Dumas mit seiner Überführung ins Pariser Pantheon zuteil wurde, vor allem rhetorischen Pomp. Gustav Seibt bemerkt amüsiert, dass die Verleihungszeremonie des Kleist-Preises in Berlin dem Preisträger Martin Mosebach in mancher Hinsicht ähnlich sah. Fritz Göttler schreibt über ungeliebte und unliebende Stars.

Auf der Medienseite lobt Peter Münch Hubert Seipels WDR-Dokumentarfilm "Operation Blindflug", der sich mit den Versäumnissen des amerikanischen Geheimdienstes im Vorfeld des 11. Septembers beschäftigt. Und Rene Martens amüsiert sich über ein Filmprojekt des SWR, der deutsche Familien in den Schwarzwald des Jahres 1902 zurückversetzt.

Besprochen werden Peter Zadeks "genialisch verkehrte" Inszenierung von Tennessee Williams? "Die Nacht des Leguan" in Wien, Andreas Kriegenburgs "Orestie" an den Münchner Kammerspielen, Schönbergs Oper "Aaron und Moses", dirigiert von James Levine, eine Albert-Einstein-Ausstellung im New Yorker American Museum of Natural History, der neue Film der Brüder Russo, Safecrackers oder Diebe haben?s schwer", ein Konzert von Violent-Femmes-Sänger Gordon Gano und Bücher - unter anderem Gedichte von Ted Hughes, eine Textsammlung zu den Neutralen des Zweiten Weltkrieges und ein Buch über Trucks (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 02.12.2002

Karl Schlögel (mehr hier) hat aus Russland eines seiner einzigartigen Städteporträts mitgebracht - über Nischni Nowgorod. Denn Russlands Zukunft, meint Schlögel, liegt in der Provinz. Eine Kostprobe: "Russland hat nicht nur eine Hauptstadt. Es hat eine Hauptstadt der Nostalgie, des Phantomschmerzes und des russischen Traums von Europa: Sankt Petersburg, Piter. Es hat Moskau, wo die Reichtümer Eurasiens zusammenströmen ... Russland hat Hauptstädte der Peripherie und des Verfalls ... Und Russland hat Zentren, die ihr eigenes Leben leben, ohne die Spur eines Minderwertigkeitskomplexes. Hauptstädte des Dazwischen, Hauptstädte der Provinz. Nischni Nowgorod, die drittgrößte Stadt Russlands, vor der Revolution legendärer Messeort und 'Geldbeutel Russlands', von 1932 bis 1991 Gorki genannt und lange geschlossen für Ausländer, ist eine solche Stadt. Seit kurzem ist sie noch etwas mehr: eine Hauptstadt der russischen Architektur. Dort passiert offenbar, was in Moskau unmöglich ist, da der Druck der Investoren und die Gier nach schnellem Profit übermächtig sind, und dort gelingt etwas, wozu Petersburg, das ganz und gar von der Rettung seiner Substanz okkupiert ist, nicht kommt: die Arbeit an einer Form, ohne die ein neues Russland auf Dauer nicht auskommt."

Claus Stephani führt außerdem ins kleine Reich der Huzulen (mehr hier), einem Bergvolk in der südlichen Bukowina, in den rumänischen Karpaten, wo man sich laut Stephani in seiner Armut und Einsamkeit eingerichtet hat - und wo Kaiser Franz Joseph noch mehr gilt als Präsident Iliescu.

In der Debatte um Stammzellen- und Embryonalforschung erinnert der Schweizer Ethiker Hans-Peter Schreiber daran, dass vor siebzig Jahren der Herzschrittmacher noch als moralisch verwerflich galt, und verabschiedet die Vorstellung, dass ein bestimmtes Menschenbild so etwas wie einen festen normativen Grund abgebe. "Menschenbilder unterstehen der kulturellen Evolution ebenso wie Vorstellungen über die normative Bedeutung der menschlichen Natur."

Besprochen werden Tennessee Williams Stück "Die Nacht des Leguan" in Wien, Robert Carsens "Siegfried"-Inszenierung in Köln sowie die Choreografie "Ort.los" des Bremer Tanztheaters (mehr hier).

FR, 02.12.2002

Die italienischen Museen sind in Not, berichtet Gabriella Vitiello aus Rom. In der Tat haben sie einen autonomen Status erhalten, doch seien weder die "Grenzen der Autonomie" abgesteckt, noch werden die "angekündigten Gelder" ausgezahlt. So dass die Kulturinstitutionen unter einem "Schuldenberg" zusammenzubrechen drohen. Surrealistische Szenarien seien dann nicht mehr aus der Luft gegriffen: "Es ist dunkel und kalt, Staub liegt auf dem Boden, Bookshop und Cafe sind geschlossen, in den Toiletten fehlen Handtücher und Klopapier. Wenige abenteuerlustige Besucher irren mit Taschenlampen durch die Gänge der Uffizien und fühlen sich wie Indiana Jones: im düsteren Kunstlabyrinth auf der Suche nach einem Botticelli, Tizian oder Caravaggio." So etwas kann passieren, wenn man seine Stromrechnung nicht bezahlt.

Besprochen werden Michael Thalheimers Inszenierung von Schnitzlers "Liebelei" am Hamburger Thalia Theater, Peter Zadeks "ächzende" Wiener Inszenierung von Tennessee Williams' "Die Nacht des Leguan", Robert Carsens "Siegfried" an der Oper Köln, das Oasis-Konzert in der Frankfurter Jahrhunderthalle und politische Bücher - Egmont R. Kochs "Wagners Geständnis", in dem die Geschichte eines SS-Mannes rekonstruiert wird, ein Buch über das moderne Proletariat und ein Sammelband über "glückliche Arbeitslose" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 02.12.2002

Auf der Meinungsseite denkt Eberhard Seidel über die EU-Beitritts-Perspektive der Türkei nach, und dabei geht es blutig zu: "Je genauer man auf dieses Land schaut, desto hässlicher wird es." Denn die Liste der türkischen Verfehlungen sei lang, man dürfe zum Beispiel nicht vergessen, dass dort "das Leugnen des Massenmordes an den Armeniern in den Status einer Staatsdoktrin erhoben ist". Doch den Türkei-Verächtern, die darin einen ausreichenden Grund zur Ablehnung eines Türkei-Beitritts sehen, nimmt Seidel gleich den Wind aus den Segeln: "Europa ist auf einem riesigen Leichenberg errichtet. Die wenigsten Mitgliedsländer der EU können die Demokratie zu ihrem nationalen Erbe zählen. (...) Ganz zu schweigen von der Bundesrepublik Deutschland."

Detlef Kuhlbrodt mimt einen Brief an eine argentinische Freundin und erzählt darin vom gegenwärtigen Deutschland: "Wie auch immer. Das Katastrophengerede hier kommt einem vor wie absurdes Theater, die Steuererhöhungen, die kommen, werden die Leute nicht ins Unglück stürzen. Der Lebensstandard wird halt etwas sinken. Wo ist das Problem? Verglichen mit der Lage in deinem Land sind die Probleme hier gering. Andererseits sind solche Vergleiche vielleicht sinnlos. Wems hier schlecht geht, wird ja nicht glücklicher, wenn er weiß, dass es anderswo Leuten vielleicht noch schlechter geht." Sollte seine Freundin Maria etwa nicht nur wirtschaftlich zurückgeblieben sein?

Besprochen werden "Die Reise nach Kafiristan" - ein Film der Brüder Dubini - und Theater - Michael Thalheimers Inszenierung von Schnitzlers "Liebelei" am Hamburger Thalia Theater und Jürgen Kruses Fassung von Sam Shepards "True Dylan" am Bochumer Schauspielhaus -

Und schließlich TOM.

FAZ, 02.12.2002

Hat Arnulf Baring recht? Ist Deutschland heute eine DDR light? Die Bundesregierung erstarrt wie die letzte Regierung der DDR? (Siehe unsere Presseschau vom 19.11.02). Man sieht förmlich, wie sich Jens Reich an die Stirn tippt. "Jeder Vergleich, der auf Ähnlichkeiten hinausläuft, ist abwegig. Wer die Machthaber von damals mit den Regierenden von heute in gleicher Lage sieht, der verwechselt Lähmung mit Krampf, verwechselt waffenstarrende, gewaltbereite Macht mit geschäftsordnungsversessenem politischen Palaver. In der DDR gab es keine politische Kraft, die politische und materielle Interessen einer Mehrheit hätte durchsetzen und die Lähmung hätte auflösen können. Es gab keine Wirtschaftskompetenz, die etwas anderes als die Selbstauflösung hätte empfehlen können. Wir dagegen hören und sehen, schreiben und lesen jeden Tag Expertenentwürfe, und niemand hindert die Bürger, sie sich anzueignen oder abzulehnen."

Fasziniert beobachtet Joseph Hanimann den Pomp, mit dem die Gebeine Alexandre Dumas' von seinem friedlichen Familiengrab im kleinen Villers-Cotterets ins dunkle Pantheon überführt wurden. In Paris wurde der Sarg "von einer weiß gekleideten Marianne mit roter Jakobinermütze hoch zu Ross in Empfang genommen und von Präsident Chirac dahin geleitet, wo Voltaire, Victor Hugo, Zola und einige andere schon liegen. 'Endlich kommst du, Freund unserer Kindheit!' - rief Alain Decaux von der Academie Francaise dem Sarg entgegen."

Gerhard Stadelmaier lobt - Peter Zadeks Inszenierung von Tennessee Williams' "Nacht des Leguan" im Wiener Akademietheater, und vor allem Ulrich Tukur in der Rolle des unzüchtigen Priesters Shannon: "Hier betritt kein Dulder, Leider und Aufsässiger den Dschungel zum Endspiel eines Außenseiters. Hier tänzelt in schlenkernd erschöpfter, aber genau kalkulierter Trance ein wundersamer Hiob in der menjoubärtchenhaften Eleganz eines Dandys durch einen Zauberwald. Er windet sich um Frauen herum wie ein alert viriles Reptil und sonnt sich im Glanze sowohl seiner Räusche als auch seiner Verzweiflung wie eine Echse in der Sonne."

Weitere Artikel: Niklas Bender berichtet über eine Frankfurter Tagung zur Shoah, bei der Jorge Semprun über die Erinnerung sprach. Andreas Rosenfelder liefert einen kurzen Bericht vom FDP-Sonderparteitag, der ohne Möllemann stattfand. Abgedruckt ist die Rede des Prinzen von Asturien zur Verleihung des Francisco-Cerecedo-Preises an Walter Haubrich, den Spanien-Korrespondenten der FAZ. Auf der letzten Seite verteidigt Klemens Ludwig den Dalai Lama gegen Vorwürfe katholischer (kath.net) und evangelischer (Evangelische Allianz) Kritiker, er sei Oberhaupt einer "militanten, dogmatischen Religion", "noch radikaler als der fundamentalistische Islam", und strebe nach der Weltherrschaft. Wolfgang Sander porträtiert den nach einem Jahr aus Berlin vertriebenen Intendanten der Deutschen Oper Udo Zimmermann.

Die Medienseite druckt heute den Brief, mit dem Jürgen Todenhöfer den Scheich von Al-Azhar, Sajjid Mohammed Tantawi, aufgefordert hatte, sich zu den Anschlägen islamischer Terroristen zu äußern. (Auszüge aus Tantawis Antwort finden Sie in unserer Presseschau vom Samstag).

Besprochen werden das "Concert for George" in London, Liu Haos Film "Chen Mo und Meiting", Schnitzlers "Liebelei" in der Hamburger Inszenierung von Michael Thalheimer, das Konzert von Oasis in Frankfurt und Bücher, darunter Juan Manuel de Pradas Roman "in den Winkeln der Lüfte" und Sachbücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).