Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2002. Die FAZ mochte den Eröffnungsfilm von Venedig, Julie Taymors "Frida". Die FR erinnert an Selbstverständlichkeiten der Kulturpolitik, nicht nur in Frankfurt. Die taz durchwandert die Landschaften des Computerspiels "Counterstrike". Die NZZ kritisiert die deutsche Hochschulreform. In der SZ wird das Wasser knapp.

FAZ, 30.08.2002

Das Festival von Venedig ist eröffnet. Dirk Schümer bespricht den Eröffnungsfilm "Frida" von Julie Taymor mit Selma Hayek als Frida Kahlo. Als private Liebesgeschichte sei der Film inszeniert, nicht weit entfernt vom Hollywoodkitsch, aber Schümer kann sich der furiosen Liebesgeschichte Kahlos mit dem kommunistischen Wandmaler Diego Rivera nicht entziehen. Und "wer geht schon ins Kino, um sich daran zu erinnern, dass die mexikanische Revolution - an der alle Protagonisten mehr als beiläufig beteiligt sind - einmal ein hoffnungsvoller Versuch war, dem amerikanischen Kapitalismus, den wir soeben obsiegen sehen, eine zivilisiertere Ordnung entgegenzusetzen?" (Auch die Perlentaucher-Gesandten haben sich für ihr Lidorama "Frida" angesehen, hier der Artikel.)

Weitere Artikel: Paul Ingendaay stellt den neuen Fortsetzungsroman der FAZ vor - es handelt sich um Vorträge über Literatur, die Jorge Luis Borges 1967 in Harvard hielt und die erst jetzt aus den Abschriften veröffentlicht werden. Hans-Christof Kraus begrüßt die wieder möglich gewordene Diskussion über die deutsche Vertreibung. Rainer Hermann beschreibt in der Serie über die Goethe-Institute die Arbeit des Instituts in Istanbul, das unter anderem das junge deutsche Theater und Pina Bausch in der Türkei bekannt machte. Petra Kolonko schickt eine Reportage aus der Mongolei, die sich - nach den brutalen Verfolgungen im Stalinismus - heute wieder ihrer buddhistischen Tradition besinnt. Walter Haubrich schreibt zum Tod des spanischen Schriftstellers Luis Carandell.

Auf der letzten Seite meldet Jordan Mejias, dass sich das amerikanische Verteidigungsministerium die Harvard Law School durch einen drohenden Entzug des Bundessubventionen gefügig machte - bisher weigerte sich die Schule, ihre Studenten rekrutieren zu lassen, weil Homosexuelle in der Army diskriminiert werden. Siegfried Stadler schreibt ein Porträt der sächsischen Stadt Zittau, wo die Ausstellung "Welt-Macht-Geist" an die habsburgische Vergangenheit erinnert. Und Gina Thomas konnte sich auf einer Pressekonferenz davon überzeugen, dass Harold Pinter seine Krebserkrankung heil überstanden hat: "So heftig wie eh und je zog er über die amerikanische Außenpolitik her, empörte sich über die Erwägung eines militärischen Schlags gegen den Irak und brandmarkte Tony Blair und Bill Clinton als Mörder, die vor ein Kriegsgericht gestellt werden sollten."

Auf der Medienseite stellt Alexander Kuba eine Internetadresse vor, wo die amerikanische Armee um neue Rekruten wirbt. Und Sandra Theiss bespricht die Dokumentation "Der Tag des Terrors" über den 11. September, die heute in der ARD läuft.

Besprochen werden die Ausstellung "Visions from America" im Whitney Museum, das Jazzfestival im österreichischen Saalfelden, eine Ausstellung mit Barockzeichnungnen von Pier Francesco Mola in Düsseldorf, Thomas Jahns Filmkomödie "Auf Herz und Nieren" (mehr hier) (der nach Andreas Kilb durch Mangel an Komik allerdings "wie ein nasser Lappen auf der Leinwand" hängt).

FR, 30.08.2002

Ein paar Selbstverständlichkeiten zum Thema Kulturpolitik - für die Frankfurter und alle anderen ruft Peter Michalzik noch einmal in Erinnerung: Erstens erschöpfe sich Kulturpolitik nicht darin, vorhandenes Geld möglichst gerecht bzw. ungerecht zu verteilen. Das sei allenfalls die "Schwundstufe" von Kulturpolitik. Und zweitens seien Geldmittel keine Gnadenakte und die Kultur weder ein Almosenempfänger noch ein "Standortfaktor". Ideal (und nicht nur für Frankfurt), so Michalzik, wäre folgendes: "Der einen Seite wird zugestanden, dass sie spart, die andere Seite hat das Gefühl, dass sie Geld bekommt, weil es ihr zusteht und weil sie gewollt wird."

Manfred Schneider hat das Schröder-Stoiber-Duell aufmerksam verfolgt und festgestellt: Die am häufigsten gebrauchte Behelfsformel, mit der die beiden Duellanten leere Zeit gewannen, lautete diesmal nicht "Äh", sondern "im übrigen". Die unbekannte Welt des Imübrigen aber, so Schneider, halte eine Lehre über die Politik bereit, die wir immer schon verarbeitet haben: "Die Entscheidungsprozesse vollziehen sich im Dunklen, in der unzugänglichen Welt der informellen Kommunikationen ... Alles weitere, alles den Augen und Ohren Zugekehrte der Politik hingegen ist Darstellung. Die Darstellung bietet nie etwas Neues, sie setzt etwas in Szene, was alle bereits wissen."

Weitere Artikel: Karin Ceballos Betancur fährt Taxi in Lima. "Times mager" feiert die Theaterübermeister Castorf und Marthaler nicht ganz ohne Bedenken, und Christoph Schröder hörte Daniel Ganzfried mit seiner Geschichte über den Holocaust-Biografie-Fälscher Binjamin Wilkomirski im Hessischen Literaturforum im Mousonturm.

Besprochen werden Arbeiten des Amsterdamer Architekturbüros UN Studio im Niederländischen Architektur-Institut (NAI) in Rotterdam, der Mäuse-Trickfilm "Stuart Little 2" sowie Werke von Eduardo Chillida und Antoni Tapies in der Deutschen Guggenheim Berlin.

TAZ, 30.08.2002

Tilman Baumgärtel hat das berüchtigte Computerspiel Counterstrike nicht nur ausprobiert, sondern sich auch ein paar Gedanken gemacht. Nicht die Figuren seien die Helden des Spiels, meint er, sondern die Landschaften, die als "maps" zu tausenden im Netz kursieren. Ein Basteln an neuen Welten , so Baumgärtel, "das man als Weiterführung des Konzepts des 'postmodernen Pastiches' betrachten kann". Die Counterstrike-Mapper gingen allerdings über dieses Verfahren noch hinaus: "Eine Holztür von einer Website über englische Landhäuser, die Kacheln der Mensatoilette, ein Giebel aus einem Buch über die Provence gescannt, ein Britney-Spears-Poster von der Website des Popstars, eine Bierflasche aus dem Supermarkt gegenüber - das ist der Stoff, aus dem die Counterstrike-Maps bestehen. Aus den disparaten, zusammengesuchten Elementen ist wieder ein in sich geschlossenes visuelles System geworden: eine neue Welt aus alten Teilen." In der seit Erfurt Schulgelände allerdings nicht mehr vorkommen.

Weitere Artikel: Cristina Nord verreißt den Venedig-Eröffnungsfilm "Frida" von Julie Taymor. Harald Peters hört Neues von Coldplay ("A Rush Of Blood To The Head"), Uh-Young Kim porträtiert DJ Jazzy Jeff und stellt dessen neue Scheibe "The Magnificent" vor, und Andreas Hartmann staunt, wie der Kölner Elektronikmusiker Ekkehard Ehlers mit seiner CD-Reihe "Plays" neue Interreferenzen zwischen Literatur, Film und Musik bildet.

Schließlich TOM.

NZZ, 30.08.2002

Bettina Erche kritisiert die in Deutschland geplante tiefgreifende Hochschulreform: "Wie Mosaiksteine setzen sich die Änderungen zu einem Bild zusammen: Es ist der Paradigmenwechsel von der Universität Humboldtscher Prägung zur Verschulung, Fremdbestimmung und Kontrolle."

Weitere Artikel: Samuel Herzog beschreibt, wie das Berner Paul-Klee-Zentrum, das 2005 eröffnet werden soll, "schon heute kräftig seine Marketingmuskeln" trainiert. Paul Jandl erzählt , wie sich Graz zur "Kultustadt 2003" rüstet. Claudia Schwartz geißelt den Skandal um Peter Zumthors Entwurf für die Berliner Stiftung Topographie des Terrors, dessen Realisierung in der politischen Indifferenz zu versanden droht. Martin Krumbholz berichtet von der Verleihung des Goethe-Preises an Marcel Reich-Ranicki. Besprochen werden eine Sophie-Calle-Ausstellung in Hannover und eine Ausstellung über Heinrich Vogeler als Architekt in Worpswede.

Auf der Filmseite erinnert Thomas Binotto an den Regisseur Preston Sturges, dem in Zürich eine Retrospektive gewidmet wird. Besprochen werden die Filme "Hundstage" von Ulrich Seidl und "Im toten Winkel" über Hitlers Sekretärin von Andre Heller.

Auf der Medien-und-Informatik-Seite dürfen wir eine ausführliche Sebstfeier über den ungeheuren Erfolg der NZZ am Sonntag lesen, die vor einem halben Jahr startete und seitdem eine Auflage von 50.000 verkauften Exemplaren vorweisen kann. Ferner legt der Politologe Marc Holitscher einen Hintergundartikel über die "Internetbehörde" Icann vor, deren Status zusehends in Frage gestellt wird.

SZ, 30.08.2002

Wasser ist knapp, in Deutschland zwar augenblicklich weniger. Anderswo aber werden bereits Wasserkriege ausgetragen und von der Privatisierung des wertvollen Nass angeheizt, wie Andrian Kreye seit der Rede von Nelson Mandela am Mittwoch vor dem Weltgipfel in Johannesburg weiß. Und es wird aus den Konflikten eine weltweite Bewegung entstehen, glaubt er: "Schon wird die Forderung nach einer global gültigen Wasserkonvention laut. Die Durstigen dieser Erde werden sich wehren. Denn beim Öl ist es noch um einen Lebensstil gegangen. Beim Wasser geht es ums nackte Überleben."

Verena Auffermann erlebte die Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises an Marcel Reich-Ranicki, der über Gretchen als Liebende mit ausgeprägtem Sexualinstinkt sinnierte "MRR war bei seinem Thema: 'Liebe als Steigerung des Lebens.' Sehr versöhnlich, der Geehrte."

Martin Z. Schröder hat zugehört, als Herbert Grönemeyer in Berlin sein neues Album "Mensch" vorstellte: Lauter "gern gehörte, Volkes geschundene Bierseele tätschelnde Klageschlager über Selbstvertrauen, Schwüre, Regen, Haare in Suppe...

Weitere Artikel: Im SZ-Gespräch verrät Gerard Mortier, was seine Ruhrtriennale zu bieten haben wird (u.a. Peter Sellars Euripides-Bearbeitung "The Children of Herakles", im Lichthof einer Schule in Bottrop inszeniert!). Alex Rühle meint, nach der Flut ist vor dem Babyboom, derart intensiv seien die Formen der Völkerverständigung zwischen weiblichen Flutopfern und Bundeswehrregimentern. Petra Steinberger berichtet, dass Oliver North, Protagonist der "Iran-Contra-Affäre", einen hübsch patriotischen Roman geschrieben hat. Christine Dössel meldet, das Schauspielhaus Zürich sei zum "Theater des Jahres" gekürt worden. Im Interview spricht der neue br-Chefdirigent Mariss Jansons über Musikkultur, und Knuth Hornbogen konstatiert, dass der heuer in Frankfurt verliehene Designpreis der Bundesrepublik Deutschland weiter an den schönen Dingen klebt (am Sounddesign des Porsche 911 z.B.).

Besprechungen widmen sich den beiden Eröffnungsfilmen "Frida" von Julie Taymor und "Lilya 4-ever" von Lukas Moodysson bei den Filmfestspielen von Venedig, außerdem Büchern, darunter Thomas Manns Erzählung "Die Betrogene" als Hörbuch sowie Evelyn Schlags Gedichtband "Brauchst du den Schlaf dieser Nacht" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages um 14 Uhr). Und Wolf Lepenies stellt das bisher nur auf Englisch erschiene Buch von Christopher Hitchen über George Orwell vor: "Dass 'Orwell's Victory', ein dünnes aber gewichtiges Buch von gerade 150 Seiten, sich dennoch spannender liest als eine Heiligenlegende, liegt an den Gegnern Orwells. Sie attackiert Hitchens mit Spott und Wut und die meisten von ihnen, darunter Raymond Williams und Claude Simon, bleiben auf der Strecke."