Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2002. Die FAZ fragt, ob und wie der 11. September im Kino visualisiert werden kann. In der FR plädiert der Religionsphilosoph Raimon Panikkar gegen eine Universalisierung der westlichen Werte. Die NZZ fragt, woher aus der Begriff Spaßgesellschaft kommt (aus der taz, so scheint es). Die SZ fürchtet, dass die Berlusconisierung jetzt auch die Historiker erreicht.

FAZ, 20.08.2002

"Wer bringt den 11.September adäquat ins Kino?", fragt Andreas Kilb. Noch gibt es mit Ausnahme des Episodenfilms "11 09 01", der in Frankreich produziert wird, keine Projekte, schreibt er. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Katastrophe von Hollywood keineswegs imaginiert wurde, meint Kilb: "Die Wucht des Anflugs, die schreckliche Beiläufigkeit des Aufpralls, die lange Viertelsekunde vor der Explosion, die seitwärts quellende Feuerwolke, das alles war so unerträglich anders als jene Computertricks und Benzinspielchen, die wir aus dem amerikanischen Actionkino der letzten Jahre kennen, dass die Behauptung, wir hätten dergleichen längst auf der Leinwand gesehen, nur von schwerer Betriebsblindheit zeugt."

Weitere Artikel: Mark Siemons schildert die Vorbereitungen der Stadt Dessau auf die Flut. "Rh" kommentiert die gestern in Berlin vorgestellte 14. Shell-Jugendstudie ("kein Generationenkonflikt weit und breit"). Die CDU-Bundestagsabgeordnete Maria Böhmer (mehr hier) legt dar, "warum die Embryonenselektion keine Lösung ist" und warum sie die Präimplantationsdiagnostik für verfehlt hält. "G.I." bedauert das Ende des engagierten "Kunstvereins Grafschaft Bentheim". Dietmar Dath gratuliert dem Soulmusiker Isaac Hayes zum Sechzigsten. Christian Schwägerl glaubt, dass man das wiederaufzubauende Berliner Stadtschloss als Sitz einer Nationalen Akademie der Wissenschaften zu einem Ort mit Strahlkraft machen kann

Auf der letzten Seite erinnert Dietmar Bartetzko an den menschenfreundlichen Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, dessen Wörlitz-Dessauer Gartenreich von der Flut bedroht sein könnte. Ingolf Kern fürchtet, dass das Metropol-Theater wohl endgültig als zweite Theaterruine nach dem Schiller-Theater in der Berliner Stadtlandschaft stehen wird, nachdem die niederländische Stage Holding mit dem Musicaltheater am Potsdamer Platz und dem Theater des Westens zwei modernere Häuser bespielen kann. Jordan Mejias meldet, dass nach der Kritik an den Masterplänen für Ground Zero ein neuer Wettbewerb für das Gelände ausgelobt wurde, an dessen Ernsthaftigkeit er aber nicht so ganz glauben will.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite erinnert der Historiker Dirk van Laak an deutsche Afrikaträume im 19. Jahrhundert. Auf der Medienseite erklärt der Pro 7-Chef Nicolas Paalzow, warum sein Sender im nächsten Jahr die höchsten Quoten und Werbeeeinahmen erzielen wird ("'Arabella' wird eine neue Struktur bekommen und jeden Tag mit einer anderen Formatidee aufwarten"). Stefan Niggemeier berichtet von der Telemesse und ist erleichtert, dass Harald Schmidt aus dem Urlaub zurück ist. Und Ingolf Kern schildert die Arbeit der Sächsischen Zeitung unter erschwerten Bedingungen.

Besprochen werden eine madrilenische Ausstellung des spanischen Fotografen Ortiz Echagüe (Bilder), der das spanische Selbstbild im letzten Jahrhundert prägte ("Seine bildnerische Deutung Spaniens... verschmolz mit der vagen Vorstellung eines spanischen Mystizismus zum Image herber 'Andersheit', dessen Macht noch immer zu spüren ist", schreibt Paul Ingendaay), eine Ausstellung von Gipsabgüssen antiker Skulpturen in der Münchner Glyptothek, eine neue "Carmen" in Glyndebourne mit Anne Sofie von Otter in der Titelrolle (Gina Thomas ist begeistert) und die Ausstellung "I promise it's political" im Kölner Museum Ludwig.

TAZ, 20.08.2002

Reinstes Rezensionsfeuilleton liefert die taz heute: Besprochen werden die große Schau "Surrealismus 1919-1944" in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Einar Schleefs Stück "Mütter", das Studenten der Schweriner Theatergruppe Agon nach 16 Jahren wieder einmal auf die Bühne gebracht haben, sowie die Architekturvision "New Babylon" des Künstlers Constant Anton Nieuwenhuys, kurz Constant, auf der Dokumenta.

Und Bücher: Paul Austers Roman "Buch der Illusionen", Nicol Ljubics Debüt "Mathildas Himmel", Gary Dishers Krimi "Hinterhalt, Ralf Dahrendorfs Erinnerungen "Über Grenzen" und Hermann Webers Autobiografie "Damals als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und schließlich noch Tom.

FR, 20.08.2002

Der Religionsphilosoph Raimon Panikkar, Sohn eines hindustischen Inders und einer römisch-katholischen Spanierin, den die FR als einen "der originellsten Denker auf dem Gebiet der Begegnungen der Kulturen und Religionen" einführt, erklärt im Gespräch mit Constantin von Barloewen, warum er Modernität für einen kolonialistischen Begriff hält: "Der Evolutionsgedanke erlaubt uns zu glauben, dass wir an der Spitze der Evolution stehen und deshalb alle anderen Kulturen noch nicht entwickelt sind. Dass die westliche Zivilisation heute eine Zivilisation ist, die sich von diesem Standpunkt als Erobererin der Welt sieht, lässt sich kaum bestreiten. Wenn Modernisierung Verwestlichung und Demokratisierung heißt sowie alles, was im Westen ursprünglich als westliche Werte gewachsen ist, ist man nicht berechtigt, diese Werte zu universalisieren. Man muss die entsprechenden Äquivalente für andere Kulturen finden. Ich bin vor allem gegen die monolithischen, monistischen, totalitären Systeme, die nur ein Modell, eine Begriffswelt, eine Religion, eine Ideologie, eine Modernität für die ganze Welt anerkennen wollen."

Weitere Artikel: Jochen Schimmang warnt den Kanzler, dass ihn auch seine Rolle als Deichgraf nicht vor der Abwahl feit. Peter Michalzik befasst sich mit der Kontroverse um die Ausstellung "Nationalsozialismus in München - Chiffren der Erinnerung", die Bürgermeister Christian Ude einfach nicht eröffnete, weil er sie für eine "SA-Lederhosenschau" und "Militariasammlung" hält. Hubertus Adam sorgt sich um die Zukunft der Dresdner Gartenstadt Hellerau. Und Daniel Kotheschulte liefert einen Nachruf auf die Trashfilmerin Doris Wishman.

Besprochen werden das Berliner Gastspiel der Merce Cunningham Dance Company, gleich zwei Ausstellungen mit Arbeiten des Wuppertaler Künstlers Claus Bury in Seligenstadt und Mannheim und zwei Bücher, nämlich Pat Barkers Roman "Das Gegenbild" und Dacia Marainis "Tage im August" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 20.08.2002

In einer neuen Folge ihrer vorzüglichen Reportageserie "Russland, persönlich" stellt uns Maja Turowskaja diesmal einen Journalisten der neuen Generation vor, der sich "sich nicht als Politiker auf dem Bildschirm sieht, sondern als professioneller Journalist": "Meine 'Bekanntschaft' mit dem Fernsehmann Leonid Parfjonow geht auf seine Serie 'Namedni' ("Kürzlich" - mehr hier) im Sender NTW des Medienmagnaten Gussinski zurück, dem damals 'fortschrittlichsten' Sender. Davor hatte Parfjonow schon 'Die alten Lieder über das Allerwichtigste' erfunden, eine Umwertung beliebter Lieder aus der Sowjetära, die seinerzeit, wie alles Sowjetische, vom Schiff der Gegenwart geworfen worden waren."

Leben wir noch in einer "Spaßgesellschaft", haben wir es überhaupt je getan?, fragt Urs Hafner in seinem Artikel. Zumindest weiß er, wo der Begriff herkommt. "Erstmals soll er, wie Studierende aus Jena recherchiert haben, in der Berliner 'Tageszeitung' vom 23. Januar 1993 aufgetaucht sein; der Trainer des 1. FC Saarbrücken, stand dort zu lesen, sei von der 'Spaßgesellschaft' nach oben gespült worden."

Weiteres: Birgit Sonna schildert ihre Eindrücke zur Ausstellung des Fotografen Juergen Teller, ein "aus dem fränkischen Krähwinkel Bubenreuth stammender Celebrity-Photograph", im Münchner Fotomuseum. Zst. meldet eine Ausstellung über Architekturfotografie in Grenoble, Jürg Huber schickt einen Lagebericht vom Musikfestival in Lucerne, während Tobias Hoffmann das Programm der neuen Theatersaison in Lausanne und Genf vorstellt.

Zu den heute besprochenen Büchern gehören unter anderem "Brioni und andere Essays" des slowenischen Schriftstellers Drago Jancar (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr) oder das bisher nur auf englische erschienene Buch "Biopolis" von Volker M.Welter, der den einflussreichen schottischen Städteplaner Patrick Geddes porträtiert.

SZ, 20.08.2002

Aus Italien meldet Wolfgang Schieder, dass die Berlusconisierung nun auch die Historiker erreicht. Das Archiv des Auswärtigen Amtes in der Farnesina (mehr hier) wird für unbestimmte Zeit geschlossen, der laut Schieder einzige kompetente Mitarbeiter ist bereits versetzt worden. "Niemand in der italienischen Historikerszene zweifelt daran, dass diese Vorgänge etwas damit zu tun haben, dass Berlusconi das Außenministerium immer noch als Ministerpräsident mitverwaltet. Er hat dieses Amt mit dem erklärten Willen angetreten, dort aufzuräumen. Auch die Diplomatie ist nämlich in seinen Augen kommunistisch unterwandert. Wahrscheinlich sind das für ihn auch die Historiker, die kürzlich im Archiv des Auswärtigen Amtes Aufsehen erregende Entdeckungen gemacht haben. Sie haben dort Akten gefunden, mit denen sich einwandfrei nachweisen ließ, dass die italienischen Regierungen nach 1945 bewusst die Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher verhindert haben, um nicht auch die eigenen verfolgen zu müssen. Das machte auch im Ausland einen schlechten Eindruck. Und genau das schätzt Berlusconi gar nicht."

Anlässlich der Ausstellung "New York: Capital of Photography" im Jewish Museum in New York befasst sich Andrian Kreye mit der Frage, ob es den jüdischen Blick in der Fotografie gibt, wie es der Kurator der Ausstellung Max Kotzloff behauptet hat: "Die Ruhelosigkeit in den Arbeiten von Robert Frank oder Garry Winogrand, setzt Kozloff fort, finde sich in keinem der nichtjüdischen Fotografen wieder. Helen Levitts Aufnahme einer Straßenszene in Harlem analysiert er als 'Blick des nervösen Außenseiters'. Klingt da nicht das antisemitische Vorurteil vom rastlosen Juden an? Und wenn er die Überlegung anstellt, warum der Anteil der Juden an den Meistern visueller Kunstformen im 20. Jahrhundert so hoch sei, nähert er sich nicht dem jovialen Chauvinismus von Winogrand? Der polterte in den siebziger Jahren gerne herum, man müsste zuerst einmal Jude sein, um ein guter Fotograf zu werden."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe unterhält sich mit Hugh Grant über seinen neuen Film "About A Boy", über die Oberflächlichkeit des Schauspielers und warum es sehr unbritisch ist, die eigene Seele zu entblößen. Alexander Menden beschäftigt sich mit den alten Querelen bei der Royal Shakespeare Company ("wie bei Ceaucescu") und dem neuen Direktor Michael Boyd ("mehr Sex"). Uwm. schreibt über einen Feldversuch in Wien, für den ein Verein und seine Sponsoren 1.200 Fahrräder an über 200 Stationen in der Wiener Innenstadt zur freien Verfügung aufgestellt haben. In der Zwischenzeit macht sich Herbert Riehl-Heyse Gedanken über die weltweite Vorbild-Dämmerung. Und Fritz Göttler berichtet, wie der Film "Das Verbrechen des Padre Amaro" von Carlos Carrera in Mexiko unter Blasphemieverdacht gestellt und zu einem Kassenhit wurde.

Besprochen werden unsere neue Nationaloper "Angela", die die Neuköllner Oper im Ruinenschacht der Berliner Kanzler-U-Bahn uraufführte, ein Gastspiel der Merce Cunningham Dance Company beim Berliner Festival "Tanz im August", Händels Pop-Opera-Soap "Rinaldo" bei den Innsbrucker Festwochen, Frederic Fisbachs Inszenierung von Genets Algerien-Stück "Les Paravents" bei den Salzburger Festspielen, die Ausstellung "Dichter als Maler" im Zürcher Literaturmuseum und Bücher, darunter Bogdan Bogdanovics neuer Band "Vom Glück in den Städten" und Victor Dönninghaus' Schrift "Die Deutschen in der Moskauer Gesellschaft" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).