Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2002. Die Zeit beruhigt den Rest der Welt: "Der Berliner selbst hofft traditionell nicht auf einen Ruck." Die SZ gedenkt ihrer großen Kritikerin Frieda Grafe. Die NZZ erzählt von der Versöhnung der Stadt Sydney mit Jörn Utzon, dem Architekten ihrer Oper. In der FR erzählt Anatolij Koroljow die Leidensgeschichte seiner Mutter. In der FAZ plädiert David Grossmann gegen den "Sicherheitszaun" in Israel.

Zeit, 11.07.2002

Was die Leute nur immer mit Berlin haben, wundert sich Jens Jessen und zeichnet ein allzu wahres Bild der "struppigen Hauptstadt". Berlin als Ort für "aktivistische Umgestaltungsphantasien" oder "spektakulären Rechtsruckalarm" (Schloss!) sei eine Phantasie, der man nur in den "vitalen Provinzen des Westens" nachhänge. Berlin selbst habe nicht die geringsten Ambitionen, die Republik zu dominieren. Im Gegenteil: "Der Berliner selbst hofft traditionell nicht auf einen Ruck, sondern auf Schonung und Fortsetzung des entspannten Schlendrians. Dazu gehört nicht nur das Hintertreiben von Veränderungen, sondern auch das Schweigen über die Furcht vor Veränderungen; teils, um die eigenen Nerven zu schonen (die Sorge vor sich selbst geheim zu halten), teils, um nicht darauf aufmerksam zu machen, dass hier etwas verborgen werden soll. So duckt sich der Schüler vor dem Lehrer weg, der keinen Einblick in das voll gekrakelte Schulheft gewinnen soll."

Der ungarische Schriftsteller Istvan Eörsi (mehr hier) widerspricht heftig seinem Kollegen Imre Kertesz (mehr hier), der Anfang Mai in der Zeit über seine Erlebnisse in Israel berichtet hatte. "Der Bericht erweckt den Eindruck, als ob in der besagten Region nur das Leben von Juden durch Gewalt bedroht wäre", kritisiert Eörsi. Seiner Ansicht nach sind die Israelis jedoch mitschuldig am Nahost-Konflikt. Und die USA: "Jeder beliebige Präsidentenberater mag seine Liste der Staaten des Bösen zusammenstellen und diese in Achsen anordnen, doch die konstante Kriegsdrohung mit der Aussicht auf Millionen Tote wird das Raunen des Elends und das Wehgeschrei der Unterdrückten nicht zum Verstummen bringen. Die Law-and-order-Freaks züchten immer neue und neue Formen des Terrorismus heran. Ohne die politische Wende von Bush wäre Scharons Politik unvorstellbar."

In einem langen Interview erklärt Philip Johnson (mehr hier), was Architektur für ihn bedeutet. Jedenfalls nicht Weltverbesserung. "Walter Gropius und seine Beglückungsfantasien, die waren mir von Anfang an suspekt. Die Moderne war für mich vor allem ein Stil. Was mich ansprach, waren die radikalen neuen Formen, ich mochte den revolutionären Wandel, die Veränderung."

Weitere Artikel: Boris Groys macht sich eine Seite lang Gedanken über neue Sehnsuchtsorte des romantischen Tourismus. Katja Nicodemus ärgert sich in einem Kommentar über Julian Nida-Rümelins "Zwischenbericht zur Umsetzung eines filmpolitischen Konzepts", weil er keinen Versuch macht, den "überproportionalen Einfluss" der Fernsehsender auf die Filmförderung zurückzustutzen. Und Claudia Herstatt berichtet, wie der Streit um Kandinskys "Improvisation Nr. 10" geschlichtet wurde.

Besprechungen: Der Philosoph Rüdiger Bubner zeigt sich enttäuscht von der documenta. Thomas Groß liefert ein zauberhaftes Porträt des Musikers (und früheren "New York Dolls"-Sängers) David Johansen (mehr hier), der gerade ein neues Blues-Album ("Shaker") herausgebracht hat und auf dem besten Weg ist, ein "amerikanischer Klassiker" zu werden. Katja Nicodemus feiert Francois Ozons "8 Frauen" ("Völlig unvermittelt beginnen Deneuve und Ardant einen Ringkampf und sinken dabei plötzlich auf den Boden. Was genau bei ihrem langen, leidenschaftlichen Kuss geschieht, ist nicht ganz klar, aber es ist mindestens die Implosion des französischen Kinos."). Und Claus Spahn beschreibt ein "garantiert glutamatfreies" Opernfestival in Aix en Provence.

Den Aufmacher des Literaturteils widmet Ursula März dem Roman "Allgemeine Geschäftsbedingungen" von Martin Z. Schröder. Das Zeit-Dossier befasst sich mit dem tiefen Sturz der Telecom. Im politischen Teil legt der niederländische Publizist Paul Scheffer einen Essay über das Scheitern des Multikulturalismus vor. Einen weiteren Essay über die Schwäche der Europäer liefert Robert Kagan vom Carnegie Endowment for International Peace in Washington.

NZZ, 11.07.2002

Eine sehr hübsche Geschichte aus Sydney erzählt Peter Gerdes. Sie handelt vom Opernhaus der Stadt (mehr hier und hier), einem der berühmtesten Bauten des letzten Jahrhunderts. "Der Architekt des Wunderwerks, der Däne Jörn Utzon, war 1966 nach mehrjähriger Arbeit mit Schimpf und Schande davongejagt worden, weil er der damals neu gewählten konservativen Regierung mit seinem kreativen Denken und den damit verbundenen Unklarheiten, was die Kosten anbelangte, auf die Nerven ging... Utzon, der 1957 die Ausschreibung für den Bau des Opernhauses auf dem ehemaligen Gelände eines Tramdepots gewonnen hatte, packte und kehrte nie wieder nach Sydney zurück." Nun wird die Oper renoviert, und man bat den 83-jährigen, auf Mallorca lebenden Architekten, endlich den Innenausbau zu gestalten. "Utzons Tochter gab zu verstehen, dass ihr Vater 'um Zentimeter' gewachsen sei, seit er erneut am Projekt beteiligt sei."

Weiteres: Hanspeter Künzler singt eine Hymne auf den Trip Hop-Künstler Tricky, der es nie zu allgemeinem Ruhm schaffte, aber das größte Genie der Gattung zu sein scheint ("Seine bestürzende Musik ist noch immer nicht zum Easy Listening verkommen. Ihre herbe Schönheit, selbst wenn einem die Perkussion ein Lagerhaus voll von Tinguely-Maschinen entgegenschmeisst, ist oft nicht zum Aushalten - so hart, so fragil.") Christoph Egger würdigt Rod Steiger.

Besprochen werden die Ausstellung "Hautnah" in der Münchner Villa Stuck, CDs von Schweizer Jazzpianisten, eine Fotoausstellung über Ruth-Berghaus-Inszenierungen in Berlin und eine Menge Bücher, darunter Alice Munros Erzählungsband "Der Traum meiner Mutter" (mehr hier), Thomas Langs Debutroman "Than" (mehr hier) und der Roman "Die Hundertjahrfeier" (mehr hier) des Argentiniers Jorge Victoriano Alonso. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

SZ, 11.07.2002

"Sie hat quer gedacht, wo es eine Neigung gab, geradeaus zu schreiben", schreibt zum Tod der Filmkritikerin Frieda Grafe. Hans Helmut Prinzler, Direktor des Deutschen Filmmuseums in Berlin, und Hanns Zischler huldigt: "Die Bilder des Kinos konnte sie wie keine andere vor uns aufblättern und diaphan machen durch eine nie versiegende Lektüre." Außerdem dokumentiert die SZ einen Text Frieda Grafes für die Zeitung von 1974.

Die postmodernen Schlachten werden um Erinnerungsorte geführt, schreibt Nicole L. Immler aus London, wo einige Erinnerungs-Strategen im Rahmen der Konferenz des Deutschen Historischen Instituts "Europäische Erinnerungsorte" versammelt waren. Dennoch stand die europäische Fachwelt der Sache skeptisch gegenüber, lesen wir. Der westeuropäische Fokus gehöre erweitert, die Realität von Globalisierung und Migrationen anerkannt, zitiert Immler beispielsweise den Historiker Jacob Vogel, Globalisierung und Migration untergraben seiner Ansicht nach das nationale Gedächtnis ebenso wie es die zahllosen Minderheiten oder die Popkultur tun würden.

Weitere Artikel: Sonja Zekri macht sich Gedanken über die Reformfähigkeit mancher osteuropäischer EU-Beitrittskandidaten. "Ja, er hatte Klasse," schreibt Fritz Göttler zum Tod von Rod Steiger. Eva-Elisabeth Fischer gratuliert dem Choreografen Hans van Manen zum 70. Geburtstag, Karol Sauerland berichtet von einem italienisch-polnischen Streit um den Dichter Gustaw Herling (mehr hier). Und G.K. liefert einen wütenden Kommentar zur Entscheidung des Bundestags, das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen.

Besprochen werden: Eine Retrospektive mit Filmen von Shohei Imamura im Münchner Filmmuseum, Christian Freis Oscar-nominierter Dokumentarfilm über den Kriegsreporter James Nachtwey "War Photographer", die Jubiläumsausstellung des Hagener Karl-Ernst-Osthaus-Museums anläßlich seines 100. Geburtstags, das Berliner Konzert von Sonic Youth und Bücher, darunter Walter Kempowskis "Das Echolot - Barbarossa 41" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 11.07.2002

Donnerstag ist taz-Kino-Tag: Besprochen werden: Francois Ozons Film "8 Frauen" und Christian Freis Kriegsreporter-Porträt "War Photographer". Christina Nord schreibt den Nachruf auf Rod Steiger.

Auf der Medienseite kommentieren Arno Frank und Steffen Grimmberg Einstellung des SZ-Jugendsupplements "jetzt", betriebsbedingte Kürzungen und die ungewisse Zukunft der Berlin-Seite.

Schließlich TOM.

FR, 11.07.2002

Anatolij Koroljow erzählt die Leidensgeschichte seiner Mutter, bei der es sich in gewissen Weise auch um Mütterchen Russland handelt und von den Komplikationen des Sterbens. Er erzählt, wie seine Mutter, schon über fünfzigjährig, einen noch viel älteren Kriegsveteranen heiratete, der dann bald starb: "Warum erzähle ich von ihm? Weil nach seinem Tod vor zehn Jahren seine ehemaligen Frontkameraden von meiner Mutter forderten, sie müsse sein Grab blitzblank halten. Und das war der Anfang von ihrem Ende. Im Frühling vergangenen Jahres rief irgendein Frontowik meine Mutter an und schimpfte, das Grab sei unordentlich, das Porträt des Verstorbenen, das in Russland auf fast allen Gräbern steht, sei verblichen. Meine Mutter besuchte das Grab regelmäßig, pflanzte Blumen und strich die Umzäunung. Trotzdem entschuldigte sie sich. Erneuern Sie das Foto, befahl der Unverschämte."

Aus dem Wimmelbild Documenta sind Lotta Goergen die Finnen, genauer gesagt die Finnen in den Arbeiten der finnischen Künstlerin Eija-Liisa Ahtila (mehr hier) aufgefallen: "Man hört, dass die Finnen ein melancholisches Wesen haben, in den Filmen von Eija-Liisa Ahtila, die in Helsinki lebt, legen sie sich schonmal grundlos in eine Pfütze. Sie kriechen auf allen Vieren eine Schnellstraße entlang. Oder sie schmeißen ein Bücherregal um, werfen eine Matratze drauf und legen sich schlafen, mitten im Chaos."

Weitere Artikel: Harry Nutt war in Hamburg auf einer Tagung über "Moral im Nationalsozialismus" (mehr hier). Die Kolumne "Times mager" sinniert über emotionale Aspekte der Währungsumstellung, Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod von Rod Steiger. Gabriella Vitiello berichtet über italienische Pläne für den ersten archäologischen Unterwasserpark, der den untergegangenen antiken Nobelbadeort Baiae konservieren soll. Und Frank Keil schreibt über Hamburg und seine Deichtorhallen.

Besprochen werden Francois Ozons filmisches Chanson für Frankreichs Leinwanddiven : "Acht Frauen", Wechsel Garlands neue CD "Liberation Von History", die Eröffnung
des internationalen Opernfestivals in Aix En Provence mit Peter Eötvös' Genet-Oper "Le Balcon" und Bücher, darunter eine Gottfried-Keller-Biografie und Francois Emmanuels neuer Roman "Der melancholische Mörder" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 11.07.2002

Der israelische Autor David Grossman wendet sich gegen den "Sicherheitszaun", der jetzt das israelische Kernland von den besetzten Gebieten abtrennen und Terroranschläge verhindern helfen soll: "Der Grenzverlauf zwischen Israel und Palästina darf nur in vollem Einvernehmen zwischen beiden Völkern festgesetzt werden. Diese Maxime mag wirklichkeitsfremd klingen, doch selbst, wenn man kaum an ihre Umsetzung glauben kann, dürfen wir uns nicht den Luxus erlauben, an ihr zu verzweifeln. In meinen Augen ist es besser, vorerst ohne solch einen illusionären Zaun auszukommen, als sich zu diesem Zeitpunkt zu seiner Errichtung verlocken zu lassen. Den Terror wird er, wie gesagt, nicht abschaffen. Doch schlimmer noch: Die einseitige Errichtung des Zauns (vielleicht sollte man ihn lieber beim passenderen Namen nennen: die Mauer) signalisiert in Wirklichkeit die völlige Verzweiflung an der Möglichkeit, in dieser Generation ein Übereinkommen zu erreichen und Israel normal in seine Umgebung zu integrieren."

Weiteres: Anne Schneppen besucht die Tokyoter Bio Expo, wo die der Raelianer-Sekte nahestehende Firma Clonaid mit einem Stand vertreten war und behauptete, mit dem Klonen von Menschen demnächst loslegen zu können. Jordan Mejias kommentiert George W. Bushs Rede vor der Wall Street und glaubt nicht daran, dass er seinen Wohltätern aus der Wirtschaft wehtun werde. Michael Althen schreibt zum Tod des Schauspielers Rod Steiger. Jochen Schmidt gratuliert dem Choreografen Hans van Manen, dem "Mondrian des Balletts" zum Siebzigsten. "bat." berichtet über die Absage einer Austellung über israelische Architektur in Berlin. Dirk Schümer besucht für seine Kolumne "Leben in Venedig" das Deutsche Studienzentrum im Palazzo Barbarigo della Terrazza. Joseph Hanimann erzählt in einem Bericht vom Festival in Avignon, wie das französische Theater zu Brecht und Heiner Müller zurückkehrt. Heinrich Wefing sieht Los Angeles nach einem auf Video festgehaltenen Übergriff weißer Polizisten auf einen gefesselten schwarzen Jugendlichen in Angst vor Rassenunruhen.

Auf der letzten Seite resümiert Andreas Rosenfelder ein Münchner Kolloquium zum kulturellen Austausch im Europa der frühen Neuzeit. Stefanie Peter schreibt ein Profil des polnischen Autors Krzysztof Czyzewski, der sich mit der "Stiftung Pogranicze" und der Zeitschrift Krasnogruda für die östlichen Nachbarn einsetzt. Und Lorenz Jäger berichtet von Kritik an der "International Commission on Holocaust Era Insurance Claims" (Icheic), die sich mit der Rückgabe von Versicherungsvermögen befasst.

Auf der Kinoseite liefert Kerstin Holm eindrücke vom Filmfestival in Moskau. Und Andreas Platthaus schreibt zum Tod des Trickfilmzeichners Ward Kimball.

Und auf der Medienseite wird eine neue Katastrophe aus der Zeitungswelt vermeldet: Auch der Süddeutsche Verlag entlässt nun ein Zehntel seiner Belegschaft, darunter 50 Mitglieder der Redaktion. Das Jugendmagazin jetzt wird eingestellt. Auch die Berlin-Seite fürchtet um ihr Überleben.

Besprochen werden die Ausstellung "Der geheime Saal und Aktmalerei" im Prado, Christian Freis Dokumentarfilm "War Photographer" über den Fotografen James Nachtwey.