Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2002. In der SZ kritisiert der iranische Theologe Mohammed Schabestari die Reformunfähigkeit des Islams. Außerdem plädiert Adriano Sofri gegen Antizionismus. In der FAZ verdirbt uns Jeremy Rifkin den Geschmack auf Steaks. Die taz findet die Documenta lehrreich und unterhaltsam. In der FR warnt der Terrorismusforscher Walter Laqueur vor nuklearem Terrorismus. Die NZZ ist begeistert vom jungen türkischen Theater.

SZ, 11.06.2002

Geradezu unerhörte Dinge äußert der in Teheran lehrende Theologe (und ehemalige Ideologe der islamischen Revolution) Mohammed Schabestari im Gespräch mit dem syrischen Lyriker und Essayisten Adonis (mehr hier und hier). Mit der klassischen islamischen Theologie geht er hart ins Gericht: "Diese Neuauslegungen bringen aber nichts, weil sie wie die frühere Exegese von unumstößlichen Glaubensgrundsätzen ausgehen und sich an der tradierten Rechtsauffassung orientieren. In der islamischen Welt ist heute nichts von einer modernen linguistischen oder philosophischen Interpretation der religiösen Texte zu beobachten. Entsprechend erstarrt und verarmt ist unser geistiges Leben; und es beruht daher auf Wiederholung und Restauration." Für Gesellschaft und Kultur auch des Iran hat das, wie er konstatiert, katastrophale Folgen: "Die große Mehrheit der Muslime lebt nach wie vor in einer kulturellen Welt, die auf Gefolgschaft und Tradition beruht. Eine kreative Kultur fehlt sowohl im religiösen wie auch im zivilen Bereich. Uns fehlen beispielsweise die Philosophie, die Wissenschaft und die Kunst, wie wir sie früher einmal hatten. Alle diese Dinge haben für unser Leben keine konkrete Bedeutung mehr." Hierzu passt übrigens ein Text in der NY Review of Books, der auf Reformbestrebungen bei iranischen Theologen in Qom hinweist (siehe unsere Magazinschau).

Der in Italien nach einem umstrittenen Prozess inhaftierte Vorkämpfer der Linken Adriano Sofri mehr hier und hier) richtet, bei aller Kritik an der gegenwärtigen Politik der Regierung Scharon, einen Appell nicht nur, aber auch an die Linke: "Wir können Europa nicht vertrauen und es schon gar nicht schätzen, wenn wir nicht den Staat Israel schätzen und seine heterogene, mutige, verschreckte Bevölkerung."

Noch mehr Politisches: In einer Frankfurter Ausstellung zur Ausplünderung der Juden in der Nazizeit hat sich Verena Auffermann umgesehen. Gemeldet und gelobt wird, dass die katholische Kirche endlich das Archiv von Kardinal Faulhaber öffnet. Den Bemühungen des konservativen italienischen Journalisten Antonio Socci, die Christen zu den wahren Märtyrern der Weltgeschichte zu erklären, widmet sich ein kurzer Kommentar.

Weitere Artikel: Lmue. macht sich - anlässlich von Schirrmacher & Co. natürlich - Gedanken über das Genre des offenen Briefes. Helmut Schödel gratuliert dem Theatermacher Athol Fugard zum 70. Geburtstag. Hermann Unterstöger kommentiert neuere Sprachspielereien und -unglücke in Werbung und Journalismus, und eine kurze Glosse unterrichtet uns über seltsame Videospiel-Friedensappelle.

Besprechungen: Joachim Kaiser schreibt über Lorin Maazels glanzvolle Münchner Abschiedskonzerte, Sabine Leucht hat sich in Braunschweig Rene Polleschs Franz-Josef-Strauß-Stück "Der Kandidat" angesehen, Rainer Gansera zeigt sich angetan von John Carneys Film "On the Edge", Jonathan Fischer lobt die Weltläufigkeit der neuen Attwenger-CD, Willibald Sauerländer berichtet von einer New Yorker Ausstellung mit Zeichnungen von Jean-Baptiste Greuze. Rezensiert werden außerdem Bücher, darunter die (bisher nur auf Englisch erschienene) Stefan-George-Biografie von Robert Norton und eine Paul-McCartney-Biografie von Harald Martin (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 11.06.2002

Brigitte Werneburg war auf der documenta unterwegs und findet vieles, das sie gesehen hat, klug und lehrreich, wenngleich nicht opulent: "Diese documenta 11 ist nachdenklich und unterhaltsam, sie ist global und darin wieder doch ganz lokal, sie stimuliert die politische wie die ästhetische Wahrnehmung, während man die Extreme vergebens sucht. Plakative Gesten in Richtungen Gewalt, Sex, Politik oder Technik fehlen. Die Schau ist gelungen, reich und doch - auch ziemlich protestantisch." Ein wenig befremdlich scheint ihr nur die offensichtlich mittlerweile global verbreitete Kamera- und Aufzeichnungslust: "Offensichtlich stehen wir nämlich auf die eine oder andere Weise auch schon immer unter Beobachtung einer Kamera, die zwar nicht als Überwachungskamera intendiert ist, am Ende aber doch als solche funktioniert. Ein bisschen unheimlich, exakt im politischen Sinne, ist diese Aufzeichnungswut, die in Indien wie in Vietnam oder in Hamburg wie in Ramallah grassiert, dann doch. Oder ist genau das unser geheimer Wunschtraum? Den Spiegel, in dem wir uns unseres Selbst vergewissern, durch die Kamera zu ersetzen?"

Leider keine Walser-freie Zone heute: Berichtet wird von der vom Dichter höchstpersönlich vorgetragenen "Tod eines Kritikers"-Kostprobe, jeden Morgen 10.40 Uhr im Deutschlandradio (zuerst hier und dann auf "live-stream" klicken).

Besprochen werden heute ausschließlich Bücher, darunter Jonathan Coes 70er-Jahre-Roman "Erste Riten", ein Buch über Mensch und Natur des Biologen David Quammen, ein Band mit Fußballfotografien der Magnum-Agentur und die Stoiber-Biografie von Michael Stiller (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 11.06.2002

Im Interview stellt der Terrorismusforscher Walter Laqueur (mehr hier) fest, dass Terror den Frieden braucht: "Generell kann man sagen: Wenn es Krieg gibt, gibt es keinen Terrorismus. Wenn viele Menschen ohnehin umkommen, kann der Terrorismus nicht die nötige Aufmerksamkeit erregen, die er braucht, um seine Ziele zu erreichen. Terrorismus ist paradoxerweise ein Phänomen in Friedenszeiten." Und was den terroristischen Einsatz nichtkonventioneller Waffen angeht, zeigt er sich wenig optimistisch: "Ich halte es für fast sicher, dass dies versucht werden wird. Dabei werden von zwanzig Versuchen neunzehn misslingen. Aber die Dinge sind heute so gefährlich, dass, wenn auch nur einer gelingt, die Folgen unabsehbar sind. Der unmittelbare Schaden wird ungeheuer groß sein, vor allem bei biologischen Waffen. Die Geschichte zeigt jedenfalls, dass alle Waffen, die entwickelt wurden, früher oder später auch eingesetzt wurden."

Auch sonst sehr politisches Feuilleton heute: Rolf Paasch berichtet von einer Reise in den Nahen Osten, wo man einen zu errichtenden Grenzzaun zwischen Palästina und Israel inzwischen als einzige Lösung des Konflikts betrachtet, während Klaus Bachmann hofft, dass die ideologischen Blockaden der deutschen Vertriebenenverbände endlich gelöst werden. Karin Ceballos Betancur liefert Impressionen aus Peru, von einer Demonstration gegen die Privatisierung von Licht und Wasser (zum Problem der Privatisierung des Wassers gibt es hier übrigens ein umfangreiches Dossier). Der türkische Theologenrat bewegt sich, berichtet Günter Seufert, in Richtung Gesinnungsethik. Schließlich warnt Peter Cachola Schmal vor dem drohenden Abriss des Frankfurter Hochtief-Turms, und Times mager widmet sich Bodo Kirchhoffs Ankündigung seines Kritiker-Mord-Werks "Schundroman".

Rezensionen: Peter Iden stellt einigermaßen entgeistert fest, dass die documenta fast zur Gänze ohne Malerei auskommt. Jeder Menge Wasser ist dagegen Andreas Höll auf der "Aquaria"-Ausstellung in Chemnitz begegnet. Georg-Friedrich Kühn hat zwei Händel-Opern in Halle gehört, Sylvia Staude zwei neue Choreografien des Nederland Dans Theater gesehen. Besprechungen gibt es weiter zu Michael Gutmanns Liebesfilm Herz im Kopf (Daniel Kothenschulte ist entzückt), Etienne Chatiliez' Film "Tanguy" (der gegen die 68er geht, meint Daniela Sannwald), zu einer neuen Platte mit elektronischem Soul von Jan Jelinek. Eine einzige Buch-Rezension beschäftigt sich mit John Medinas Mischung aus Dante, Neurobiologie und Genforschung unter dem Titel "Am Tor zur Hölle".

NZZ, 11.06.2002

Die türkische - und auch internationale - Theaterwelt war geladen zum 13. Theatertreffen in Istanbul, und Renate Klett war dabei. Gleich zur Eröffnung boten sich ihr "schrecklich gutgemeinte", in altmodischem Pathos watende Ehrungen für den ehemals verbotenen und nun rehabiliterten Dichter Nazim Hikmet. "Wie anders kommt dagegen das junge türkische Theater daher!" ruft Klett begeistert. "Es straft alle Vorurteile Lügen, ist modern und selbstbewusst, mit einer Ästhetik auf der Höhe der Zeit und einem Diskursniveau, das keinen Vergleich zu scheuen braucht."

Weitere Artikel: Kunst als Schach - Schach als Kunst? Thomas Zaunschirm berichtet von einer merkwürdigen Podiumsdiskussion im Rahmen der Marcel-Duchamp-Ausstellung des Baseler Tinguely-Museums. Knut Henkel lädt zum Spaziergang über Kubas Heldenfriedhof in Santiago de Cuba (Foto hier), wo die Totengräber noch so manches zu berichten wissen. Regina Keil-Sagawe porträtiert Yasmina Khadra alias Mohammed Moulessehoul - algerischer Ex-Soldat und Schriftsteller - und erzählt vom Empfang, den Europa ihm bereitet hat.

Besprochen werden Bücher, darunter Paul Brodowskys Prosaerstling "Milch Holz Katzen", Bodo Kirchhoffs "Schundroman" (der ja bekanntlich auch Marcel Reich-Ranicki sterben lässt), eine Studie über die Zürcher Frühaufklärung von Michael Kempe und Thomas Meissen und Georges Didi-Hubermanns schaffenstheoretischer Essayband "Phasmes" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 11.06.2002

Die Armen hungern, damit wir unser Steak auf den Tisch bekommen: So erklärt es anlässlich des Welternährungsgipfels in Rom der Wirtschaftskritiker Jeremy Rifkin (mehr hier). In der Dritten Welt werden Millionen von Tonnen Futtergetreide produziert, mit denen die Tiere im Westen gefüttert werden, während die dortige Bevölkerung nicht genug zu essen hat. "Unsere Weltgesellschaft hat in den letzten fünfzig Jahren weltweit eine künstliche Proteinleiter geschaffen, an deren Spitze die mit Getreide aufgezogenen Fleischlieferanten und insbesondere die Rinder stehen. Der weltweite Übergang der Landwirtschaft von Getreide für die menschliche Ernährung zu Futtergetreide ist eine neue Form menschlichen Unrechts, deren Folgen weiter reichen und noch nachhaltiger sein dürften als alles Unrecht, das Menschen auch bisher schon ihren Mitmenschen angetan haben." Über den "Wahnsinn der der Fleischindustrie" legte Rifkin im letzten Jahr ein Buch vor.

Den Zusammenhang von Fußball und Politik in Frankreich beleuchtet Jürg Altwegg. Der Sieg der kunterbunten Mannschaft vor vier Jahren leitete die Niederlagen des rechtsextremen Jean-Marie Le Pen ein. Heute sieht die Mannschaft schlecht aus - und Le Pen feierte ein Comeback. "Die ersten Spiele im Fernen Osten waren ein trauriges Remake der Präsidentenwahl: Die Resultate schienen im voraus festzustehen und fielen dann ganz anders aus. Aber die Ohnmacht auf dem Felde darf nicht nur der Überheblichkeit der Selbstgerechten und Gutmeinenden angelastet werden: Mit Le Pen in der Stichwahl konnte man sehr wohl nachvollziehen, dass die antifaschistischen Kicker nicht besonders motiviert und inspiriert waren. In politischer Hinsicht war Zidanes Schenkelverletzung wohl rein psychosomatischer Natur." Nach der Schlappe Le Pens bei der Parlamentswahl von vorgestern ist Altwegg darum wieder optimistisch für die Fußballer.

Weiteres: Roberto Zapperi erzählt die Geschichte eines 1904 geschaffenen und gerade wiedereingeweihten Goethe-Denkmals (Bild) des deutschen Bildhauers Karl Eberlein im Garten der Villa Borghese, dem von den Franzosen im gleichen Garten ein Hugo-Denkmal entgegengesetzt wurde. Werner Bloch schildert den Streit zwischen afghanischen, Schweizer, französischen und amerikanischen Positionen über den Wiederaufbau der von den Taliban zerstörten Bamijan-Buddhas (deren 3D-Modelle man im Netz bewundern kann). Robert von Lucius schreibt zum siebzigsten Geburtstag des südafrikanischen Dramatikers Athol Fugard. Oliver Tolmein mahnt zu größerer Kontrolle bei Spätabtreibungen. Renate Schostak berichtet über ein Literaturfest zum fünfjährigen Bestehen des Münchner Literaturhauses am Salvatorplatz. Pia Reinacher resümiert eine Zürcher Kolloquium über die Literatur im Zeitalter des Internets.
Auf der letzten Seite schildert Jordan Mejias den Fall eines entfernt der Kennedy-Familie zugehörigen Angeklagten, der nun nach 15-jährigen Prozessen wegen Mordes verurteilt wurde. Und Edo Reents meldet die bevorstehende Adelung "Sir" Mick Jaggers. Auf der Medienseite bespricht Josph Croitoru eine israelische Radiodokumentation über den wachsenden Antisemitismus in Europa. Alexander Bartl schlüsselt auf, dass entgegen Behauptungen von ARD und ZDF doch die meisten Zuschauer - auch die Besitzer digitaler Anschlüsse - die Fußball-WM sehen können. Und Reinhard Veser beklagt in einem Hintergrundbericht die Unterdrückung der Pressefreiheit in Moldova. Auf der Bücher-und-Themen-Seite erzählt Jürgen Kaube eine kleine Geschichte des Schlüsselromans. Und Wolfgang Pehnt setzt sich anhand mehrerer Bücher mit der neuen niederländischen Architektur auseinander.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Musik-Installationen von Bernhard Leitner (mehr hier) im Wiener Künstlerhaus, das von Bobo Jelcic und Natasa Rajkovic entwickelte improvisatorische Spektakel "Heimspiel" beim "Theaterformen"-Festival in Hannover, ein Konzert der Band "The Promise Ring" in Köln, das Tanzspektakel "Tryst" des Choreografen Christopher Wheeldon in Covent Garden, eine Ausstellung über "Grotten und Höhlen der Goethezeit" im Freien Deutschen Hochstift.

Und fast hätten wir in dem Wust alter Artikel, den die FAZ auf ihrer Internetadresse nicht wegräumt, einen letzten Abglanz der Walser-Debatte (lasst sie uns schnell vergessen!) übersehen, einen Brief Jürgen Habermas', der auf den gestrigen Artikel Karlheinz Bohrers (mehr hier) antwortet, welcher wiederum auf einen Artikel Habermas' hin geschrieben war. "Der Redaktion der FAZ kann ich den Vorwurf nicht ersparen, eine Denunziation zu veröffentlichen, die die Leser dieser Zeitung nicht überprüfen können, weil sie sich gegen einen in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Artikel richtet." Aber der Perlentaucher stellt doch alle Links zur Verfügung!