Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2002. Die FAZ fühlt sich bestätigt: Nicht nur sie selbst, sondern fast alle anderen Kritiker auch fänden Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" antisemitisch. Aber die NZZ findet den Roman vor allem schlecht. Die taz auch. Die FR vermutet nicht so hehre Gründe hinter der Attacke der FAZ. Die SZ enthüllt, wie Martin Walser auf den Namen Ehrl-König kam - durch einen Verriss eines seiner Bücher von Friedrich Sieburg im Jahr 1960.

SZ, 01.06.2002

Der neue Walser-Skandal hat durchaus einen philologischen Kern, glaubt Gustav Seibt. Warum nennt Walser den Helden seines Schlüsselromans Ehrl-König? "Der Gedanke, den Kritiker als diesen Nachtreiter und die eigenen Werke als sterbende Kinder zu verstehen, muss Martin Walser am 3. Dezember 1960 gekommen sein. An diesem Tag erschien in der FAZ einer der fürchterlichsten Verrisse der deutschen Literaturgeschichte. Er stammte aus der Feder von Friedrich Sieburg, galt Walsers Roman 'Halbzeit' und begann mit dem Satz: 'Als mir das Buch wie ein Neugeborenes ganz behutsam und mit einem fast religiös geflüsterten Kommentar, der mich zur Ehrfurcht aufrief, in die Arme gelegt wurde, trug der Bergahorn noch seine Blätter.' Danach folgte die so plastische wie höhnische Schilderung einer achtmonatigen Lektürequal, während derer die Bäume sich entlauben und sich in jene toten Blätter verwandeln, aus denen laut Sieburg Walsers Roman bestand." Ein Verdikt, so Seibt, das die wichtigsten Stereotypen der Walser-Kritik bis heute präge.

Wie Wörter politische Wirklichkeit schaffen, erklärt Franziska Augstein am Beispiel der Begriffe "Globalisierung" und "Krieg gegen den Terror". Ausdrücke wie diese wirkten heute so gut wie ein Argument, erklärt sie. So bekämpfe Ariel Scharon in Israel selbstverständlich bloß den Terror. Das gleiche gelte für Wladimir Putin in Tschetschenien. Und "wer das 'rheinische' Kapitalismusmodell abschaffen möchte, wem die Steuern zu hoch und die Arbeiter zu wohlstandsorientiert sind, der beruft sich auf die Globalisierung, die dergleichen nicht mehr erlaube. Wer Entwicklungshilfe einsparen will, der verweist auf die Globalisierung, die ganz von selbst das Wohl aller Menschen besorge".

Außerdem verrät uns Sam Raimi, Schöpfer des "Spider-Man"-Films, warum Gewalt zum Kino dazugehört, ein verblüffter William Forsythe äußert sich zum Ansinnen der Frankfurter Kulturverantwortlichen, sein Ballett zu schließen, Sonja Zekri sucht in Russland einen Koffer mit Brecht-Manuskripten, Henrik Bork sagt uns, wie sich Japan auf auswärtige Fußballfans einstellt, Christian Jostmann besuchte eine Wiener Diskussion um die sudetendeutsche Vertreibung, Ijoma Mangold gratuliert dem Diogenes Verlag zu 50 Jahren Erfolgsgeschichte, und in der Popkolumne bricht Karl Bruckmaier eine Lanze für den Hardrock, diesen "overgrown supershit".

Besprochen werden Thomas Bernhards "Elisabeth II" am Wiener Burgtheater, eine Aufführung von Schönbergs "Moses und Aron" am Teatro Massimo in Palermo, eine Werkschau des norwegischen Malers Johan Christian Dahl im Schleswiger Schloss Gottorf, Stephan Kimmigs "Stella"-Inszenierung im Deutschen Theater Berlin, Sabine Gisigers Film "Do It", Carlo Lucarellis Roman "Der Kampfhund" und Bruno Latours Plädoyer "Für eine politische Ökologie" (auch in unserer Bücherschau Sonntag um 11).

Die Wochenendbeilage bringt eine Kurzgeschichte von Stewart O'Nan und ein Gespräch mit Michel Houellebecq, der gerade durch Deutschland tourt, wo er seinen Roman "Plattform" verfilmen möchte. Was ihm an den Deutschen besonders gefällt? "Dass es ihnen gelungen zu sein scheint, eine Sinnlichkeit zu erwerben, zum Beispiel, indem sie die Massagen entdeckt haben, ohne ihren natürlichen Hang zur Romantik zu verlieren."

NZZ, 01.06.2002

Auch Martin Meyer hat Martin Walsers "Tod eines Kritikers" nun gelesen. "Welcher Furor bewegt den Meister vom Bodensee, ein solches Schauerstück zu richten?" Den Antisemitismus-Vorwurf aber klärt Meyer nicht und hält es mit MRR: "ein haarsträubend schlechter Roman - und das noch vor allen möglichen ideologischen Implikationen... Gewiss gäbe es Deutliches einzuwenden gegen jenen Betrieb, auch gegen Reich-Ranicki, der für die Dichtung manches, aber nicht immer das Richtige getan hat. Aber bitte auf der Höhe des Intellekts; mit Verstand und Haltung; mit einem Minimum an Distanz und Urteilskraft. Denn dass ein älterer Herr einen alten Herrn so - pardon: gedankenflüchtig blöde ins Bild setzt, hätten wir selbst Walsers Kulturwut nicht zugetraut..."

Joachim Güntner fragt, wie es nun bei Suhrkamp weitergeht. "Könnte Suhrkamp nicht die Zwischenzeit für redaktionelle Eingriffe, für die Abmilderung manch böser Schilderung und verdächtiger Vokabeln benutzen? Wer so fragt, kennt Walser nicht. Kein Wort will er ändern. 'Das bleibt so. Schluss und aus', sagt auch Verlagsleiter Günter Berg." Nebenbei erfahren wir, dass heute der Beirat zur künftigen Suhrkamp-Stiftung zusammentritt. Dieser Beirat soll die künftige Verlagspolitik mitgestalten. Darin sitzt unter anderen Hans-Magnus Enzensberger, der wiederum in der FAZ mit den Worten zitiert wird, er wolle Walsers Roman nicht lesen.

Weiteres: Caroline Kesser schreibt über die erste Etappe der Sanierung im Kunsthaus Zürich. Abgedruckt wird Armin Kerbers "Lobpreisung der Tänzerin Anna Huber, die heute in Bern den Reinhart-Ring erhält. Besprochen werden Thomas Bernhards "Elisabeth II." in Wien und einige Bücher, darunter Sergio Pitols Roman "Eheleben", und der Band "Der schwarze Ast" von Kenzaburo Oe (siehe unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr).

In Literatur und Kunst besucht Andrea Köhler Wolfgang Koeppens "unglückliche Liebe" Sybille Schloss, die heute 92-jährig in New York lebt. Martin Krumbholz unterhält sich mit dem Autor Christoph Hein in seiner "Werkstatt". Werner Vogt erinnert an den Burenkrieg vor hundert Jahren. Michail Schischkin befasst sich mit der "Angst vor der Sexualität in der russischen Kultur". Tomas Fitzel unterhält sich mit dem Autor Fritz Mierau, der seine Memoiren ("Mein russisches Jahrhhundert") vorgelegt hat. Und auch hier werden einige Bücher besprochen, darunter Marie Theres Fögens Band "Römische Rechtsgeschichten", Anthony Graftons viel gelobte Biografie über Leon Battista Alberti und Oleg Jurjews Roman "Spaziergänge unter dem Hohlmond".

FR, 01.06.2002

In der FR meldet sich Jan Philipp Reemtsma zu Wort, um sich Frank Schirrmacher zur Seite zu stellen. Schirrmachers Entscheid gegen Walser dürfte richtig sein, schreibt er. Es sei unerlässlich, zu verlangen, dass derartige latent antisemitischen Affekte erkannt und benannt werden und "intellektuell unreif und politisch verantwortungslos", im Namen eines Generationswechsels, einer neuen Zeit oder einer allfälligen Historisierung oder Normalisierung eine diesbezügliche Aufmerksamkeit als "Alarmismus" zu denunzieren. Es gehe darum, Grenzen zu ziehen. Schirrmacher habe dies getan. Politikerinnen und Politiker der FDP im Fall Möllemann bislang nicht.

Nicht halb so hehre Gründe vermutet Christian Thomas hinter dem jetzigen "Walserbegräbnis" durch die FAZ. Wie verträgt sich das mit früheren "Walserfestakten" Schirrmachers, etwa anlässlich des Romans "Finks Krieg"? "Die moralische Ressource, von der Schirrmacher heute, mit Blick auf das jüngste Werk Walsers zehrt, war in dem Fall von 'Finks Krieg' nicht aufzufinden. Es ist vollkommen plausibel, dass Schirrmacher das Walsermanuskript abgelehnt hat - schon aus Loyalitätsgründen gegenüber einem Kollegen. Überhaupt hat die Redaktion das Recht, ein Manuskript abzulehnen. Und doch stellt sich für den Leser die Frage, ob es eine Fallhöhe zwischen (dem offenen Antisemitismus gegenüber) einem Literaturkritiker und dem seinerzeit (arkanen gegenüber dem) Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, gibt? Auf jeden Fall gewinnt man als Außenstehender den Eindruck, als stünde der öffentlich gemachte Moralismus von heute in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zu einem diskreten ökonomischen Kalkül, damals."

Norbert Hummelt folgt den Amouren-Spuren, die Hölderlin und Gottfried Benn in Kassel (ausgerechnet) hinterließen, aus dem "Eckfenster" besieht sich Michael Rutschky den Feind (im Irak und anderswo) als Existenzial, Ulrich Holbein schreibt Besinnliches zum Reizwort Alterspyramide, Christine Pries berichtet von der Eröffnung des von der Oper Frankfurt veranstalteten internationalen Kongresses über "Die Emotionen in den Künsten", Petra Kohse besucht die Hermann Hesse-Ausstellung im Berliner Kulturforum und ist nicht begeistert, und die schriftstellerin kathrin röggla formuliert in radikaler kleinschreibung, wieso kino süchtig macht.

Besprechungen widmen sich Costa-Gavras' Verfilmung von Rolf Hochhuths "Der Stellvertreter", Thomas Bernhards "Elisabeth II." an der Wiener Burg, einem Bildband über E. T. und seine außerirdische Kinogeschichte, Joachim Helfers Roman "Nicht Himmel, nicht Meer", den kulturkritischen Essays des spanischen Philosophen Gustavo Bueno sowie einem Büchlein, das sich für "Schillers Schädel" erwärmt (siehe unsre Bücherschau Sonntag um 11).

TAZ, 01.06.2002

Ein Thema des Tages bleibt Martin Walsers bislang nur in Presse-Ausgaben vorliegender Roman "Tod eines Kritikers". Dirk Knipphals wagt den Blick auf das Wesentliche, wenn er schreibt, nach Grass' Vertriebenen-Novelle sei es das das zweite Mal in diesem Jahr, dass sich alle intellektuellen Kapazitäten an einem schlechten Buch abarbeiteten. Der schlimmste Vorwurf, den man Walsers Roman machen könne, sei: "Er kommt ohne jede Ironie aus. Schwer deutsch - oder ist das jetzt ein antiarisches Klischee? - stapft die Walsersche Sprachsuada über die Seiten. Das ist für eine Satire, die für ihre Wirkung dringend der Eleganz bedarf, durchaus ein niederschmetternder Befund." Das weitaus raffiniertere Stück Prosa, meint Knipphals, habe FAZ-Herausgeber Schirrmacher verzapft. "So schreibt man Polemiken, wenn man seinem Gegner wirklich Böses will!"

Ein weiterer Tagesthemen-Beitrag verreißt eine Studie des "Duisburger Instituts für Sprach- und Diskursanalyse" (DISS) über die angeblich antisemitisch getönte Nahostberichterstattung deutscher Zeitungen folgendermaßen: "Möllemanns verlogene Klage über angebliche Denk- und Sprachverbote in Bezug auf Israel und der Generalverdacht, den die DISS-Studie ausspricht - sie sind ein Tandem, sie passen gut zusammen."

In der Kultur führt Harald Fricke ein Gespräch mit Okwui Enwezor, dem Leiter der Documenta11, der versichert: "Wir werden den Markt zwar nicht leugnen, aber wir werden ihm auch keine Opfer bringen." Und Barbara Schweizerhof liefert eine Besprechung zu Costa-Gavras' "Stellvertreter"-Verfilmung.

Schließlich Tom.

FAZ, 01.06.2002

Es wird munter weiter diskutiert über ein Buch, das außer ein paar Kritikern immer noch keiner gelesen hat. Hubert Spiegel ist sich sicher: "Die großen Tageszeitungen sind mit Ausnahme der Süddeutschen Zeitung der Ansicht, dass Walser die Grenze des Zumutbaren überschritten habe." Und resümiert die Vorwürfe: "Martin Walser weiß, dass die Kritik im Nationalsozialismus als jüdisch diffamiert und mundtot gemacht wurde. Und er weiß, dass Marcel Reich-Ranicki sein Leben lang darum gekämpft hat, dass die Kritiker in Deutschland als Anwälte der Literatur verstanden werden. Walser selbst liefert, wenn er über die Bücher anderer Autoren schreibt, emphatische Freundschaftsbekundungen, Liebeserklärungen von Schriftsteller zu Schriftsteller. Wenn er über den Kritiker schreibt, entsteht ein Dokument des Hasses, das nicht allein Marcel Reich-Ranicki betroffen macht." In einer beistehenden Meldung werden Artikel aus anderen Zeitungen resümiert. Unter anderem wird auf Helmut Karaseks gestrigen Artikel im Tagesspiegel verwiesen: "Der (scheinbar) Ermordete... hat so viele Reich-Ranicki-Eigenschaften, dass die ungezügelte Mordlust, die Walsers Buch beherrscht, wie eine Wiederholung der Mordlust wirkt, mit der Reich-Ranicki als Jude von den Nazis verfolgt wurde." Und im Focus fordert laut einer Vorabmeldung Marcel Reich-Ranicki unterdes den Suhrkamp-Verlag auf, Walsers Roman nicht zu veröffentlichen.

Weiteres: Lorenz Jäger gratuliert dem Historiker Julius H. Schoeps (mehr hier) zum Sechzigsten. Der Agrarforscher Götz Schmidt (mehr hier) sieht im Nitrofen-Skandal das Symptom einer misslungenen Agrarwende. Tilman Spreckelsen gratuliert dem Diogenes Verlag zum fünfzigjährigen Bestehen. Arnold Bartetzky stellt die Ergebnisse des Wettbewerbs für Leipzigs neu-alten Campus vor. Verena Lueken betrachtet den Ground Zero nach Abschluss der Aufräumarbeiten und fragt, was jetzt geschieht. Heike Hupertz berichtet auf der Medienseite zugleich über Sondersendungen des amerikanischen Fernsehens zu diesem Anlass. Jordan Mejias schreibt zum Abschied des Dirigenten Kurt Masur bei den New Yorker Philharmonikern. Hanno Rauterberg resümiert eine Diksussion über Kunst und Wirtschaft in Hamburg. Gina Thomas schreibt zum 50. Kronjubiläum der Queen. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften. Andreas Rossmann erinnert an den Düsseldorfer Architekten Bernhard Pfau, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Und Jürg Altwegg erzählt auf der Medienseite wie Leo Kirch beinahe dafür gesorgt hätte, daß die Franzosen von der Fußballweltmeisterschaft im Radio nichts zu hören bekommen (na, dann wäre ihnen ja fast die Meldung über die erste Niederlage erspart worden!)

Im Überrest von Bilder und Zeiten schreibt ein namenloser Autor (???) über Richard Wagners Frühwerk. Ein weiterer namenloser Autor schreibt zum fünfzigjährigen Bestehen des Ordens Pour le merite.

Ein weiterer namenloser Autor stellt in der Frankfurter Anthologie ein Gedicht von Hans-Magnus Enzensberger vor - "Erinnerung an den Tod"

"alkibiades mein spießgeselle bist du lange fort ich weiß nicht: wohin bist du gegangen ach nur bei der regatta bist du nicht an bord und die forellen muß ich jetzt alleine fangen und selbst das mokkamahlen macht mir nicht mehr spaß..."

Besprochen werden Thomas Langhoffs Inszenierung von Thomas Bernhards "Elisabeth II." mit Gert Voss im Burgtheater, die französische Filmkomödie "Tanguy", "Stella" im Deutschen Theater Berlin und eine Ausstellung über Kurt Schwitters im Wiener Kunstforum.