Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2002. Die taz stellt richtig, dass Nagib Machfus nie einen Brief an George W. Bush schrieb. Die SZ reflektiert das deutsch-amerikanische Verhältnis. Die FAZ bringt die Meldung von einem ersten Patent auf das Klonen von Menschen. Die NZZ berichtet über das neue Buch von Peter Esterhazy, das in Ungarn so großes Aufsehen erregt.

SZ, 21.05.2002

Heribert Prantl analysiert die jüngsten Kanzler-Äußerungen zu "einer gerechten und sozialen Ordnung, die es auch im Zeitalter der Globalisierung zu bewahren gelte", als "Pfingstwunder der Sozialdemokratie". Offenbar wolle Schröder damit "beweisen, dass er nicht nur ein guter Kanzler, sondern auch der bessere Lafontaine sei". Die Funktionäre staunten: "Ist das nicht der, der das Godesberger Programm aus dem Regal genommen und es durch das Schröder-Blair-Papier ersetzt hat? Ist das nicht der, der uns verunsichert hat, weil er so tat, als sei er ein rosafarbener Neoliberaler? Derjenige, der uns die alten sozialdemokratischen Lieder verboten hat? Und jetzt singt er sie, nur wenig verändert, nämlich in globalisierter Fassung, selber!" Prantl interpretiert die neue Taktik als notwendige Wahlkampfwende, um "die FDP als Partei der sozialen Kälte zu attackieren", aber auch als Ende des "Tandaradei und des Larifari in der Politik".

Weitere Themen: Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk räsoniert über die Untätigkeit an Sonn- und Feiertagen. Hans Lemberg, Professor für osteuropäische Geschichte, erklärt, inwiefern der derzeit eskalierende deutsch-tschechische Konflikt um die Benes-Dekrete zu lösen wäre. Petra Steinberger beleuchtet unter der Überschrift "Rechtsruck", was Amerika von Europa hält, Claus Leggewie erläutert dagegen unter dem Motto "Hauruck", wie die Deutschen über die USA denken. Ijoma Mangold beobachtete diverse lyrische Ichs in Konkurrenz um den Meraner Lyrikpreis, den sich schließlich Oswald Egger mit Sylvia Geist teilte. Klüv. erzählt, wie das Mailänder Piccolo Theater wegen Politiker-Karikaturen immer mehr unter Druck gerät. Kristina Maidt-Zinke gratuliert Gabriele Wohmann zum 70. Geburtstag. Zum deutschen Tourneestart stellt Anja Rützel die US-amerikanische "Mädelstruppe" Destiny?s Child vor. In seinem Theaterwahn-Tagebuch resümiert Benjamin Henrichs das "Finale" des diesjährigen Theatertreffens, in der Kolumne "Zwischenzeit" regt sich Herbert Riehl-Heyse über Abiturthemen auf, und Lothar Müller analysiert anhand verschiedener T-Shirt-Träger-Typen in der FDP die Möllemann-Karsli-Affäre.

Zwei Texte widmen sich den Filmfestspielen in Cannes: Tobias Kniebe bilanziert die erste Woche, in der Scheitern Programm ist, und Filme von Olivier Assayas, Manoel de Oliveira und Paul Thomas Anderson; Susan Vahabzadeh kommentiert die Beiträge von Mike Leigh, Wim Wenders und Michael Winterbottom.

Besprechungen lesen wir heute zu den Salzburger Pfingstfestspielen, einem "enschlackten" "Fidelio" in Baden-Baden, der Uraufführung von John von Düffels Stück "Elite I.1" am Hamburger Thalia Theater, Filippos Tsitos' Film "My Sweet Home" und Büchern, darunter zwei bisher nur auf Englisch erschienenen Büchern von Gregory Stock und Francis Fukuyama über die Gefahren der Gentechnologie (zum Streit der beiden mehr hier), John Bayleys Roman "Das Haus des Witwers", die Lebensgeschichte eines Roma-Mädchens in Deutschland und Erhard Epplers Überlegungen zur "Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

TAZ, 21.05.2002

Die Tagesthemenseiten präsentieren ein Interview mit Ralph Nader (mehr hier), dem Präsidentschaftskandidaten der Grünen in den USA. Nader findet die geplanten Anti-Bush-Demonstrationen in Deutschland überhaupt nicht antiamerikanisch, gibt aber ein paar Tipps: Keine Gewalt, auch keine Eierwürfe, "sie reichen schon aus, dass sich die Amerikaner um ihren Präsidenten scharen, selbst wenn sie ihn nicht mögen ... Die Transparente sind der Schlüssel. Sie müssen in Englisch sein und clever. Dann stürzen sich die amerikanischen Fotografen und Kameramänner nur so drauf. Am heikelsten ist es für Bush, wenn man ihn mit den großen Ölkonzernen in Verbindung bringt. Seit dem Enron-Finanzskandal ist er da besonders empfindlich.

Im Kulturteil korrigiert Karim El-Gawhary die in der FAZ am 13.5. aufgestellte Behauptung, der ägyptische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz habe in einem Brief an den US-Präsidenten die Aktionen palästinensischer Selbstmordattentäter als "großartige Sache" bezeichnet. Gegenüber deutschen Pressevertretern habe Mahfuz in Kairo erklärt, "nie einen solchen Brief geschrieben, noch jemals die Idee dazu" gehabt zu haben. Nach El-Gawharys Recherchen handele es sich hier "eher um einen Fall von 'Stille Post'", die durch ein schlampig wiedergegebenes Interview von Mahfuz, das er ursprünglich einem ägyptischen Magazin gegeben hatte, entstanden sei. "Die nicht gerade für ihre Professionalität bekannte englischsprachige Egyptian Mail, auf deren Informationen offensichtlich der FAZ-Artikel beruht", habe "Mahfuzes Botschaft an den US-Präsidenten vereinfacht... In der FAZ wurde aus der Botschaft auch noch ein realer Brief an Bush..."

Weitere Artikel: Im Aufmacher resümiert Eva Behrendt das Berliner Theatertreffen. Behrendt sieht "die freie Szene etabliert", gleichzeitig habe "das Schauspielertheater zu neuer Verbindlichkeit gefunden". Ihr Fazit: "Das Theatertreffen, falls es jemals Feindbild war, taugt als solches nicht mehr." Und Christina Nord schreibt aus Cannes über Filme von Olivier Assayas und Carlos Reygadas.

Besprochen werden eine Ausstellung von Arbeiten der österreichischen Malerin Johanna Kandl in der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig und Bücher, darunter der neue Roman von Peter-Paul Zahl, ein Buch desAutorenduos Anke Stelling und Robin Dannenberg und zwei frühe Fragmente von Arno Schmidt. (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

Und hier Tom.

FR, 21.05.2002

Sehr schul- und bürowegfreundlich heute, das Feuilleton der FR. Daniel Kothenschulte berichtet umfänglich aus Cannes: Olivier Assayas wurde demnach für seinen Internetporno-Thriller "Demonlover" ausgebuht, Michael Winterbottom schwelge in seinem Beitrag "24 Hour Party People" im "Mythos von Manchester", während Marco Bellocchio mit "L'Ora di Religione" an die "Überlebensfähigkeit des alten Autorenfilmkonzepts" erinnere, Paul Thomas Andersons "Punch-Drunk Love" sei ein "unwirkliches Exzentrikerporträt", ausdrücklich gelobt wird dagegen der Beitrag des palästinensischen Filmemachers Elia Suleiman "Divine Intervention".

Peter Michalzik kommentiert die Schließung des Frankfurter TAT und fragt sich, wer der "Mörder" ist: "Das TAT war nur noch Spielmasse unausgegorener Planungen, ... ein echtes Theater, war es schon lange nicht mehr. Da muss ihm niemand mehr den Todesstoß versetzen, das Dahinscheiden geht schon so lange, dass tot und lebendig nicht mehr zu unterscheiden sind."

Weitere Artikel: Hubertus Adam würdigt den Designer und Architekten Marcel Breuer, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. In der Kolumne "Times mager" geht es um den Auftritt von "Ego-Shooter" Guido Westerwelle während einer Vernissage in Potsdam. Vermeldet werden die Preisträger des 39. Berliner Theatertreffens: der Regisseur Stefan Pucher und die Schauspielerin Bettina Stucky. Und besprochen werden politische Bücher, darunter Alice Cherkis Frantz-Fanon-Biografie, Dick Howards Untersuchung der "Grundlegung der amerikanischen Demokratie" und zwei Bände über die Wehrmacht (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 21.05.2002

Nach der SZ (mehr hier) berichtet nun auch die NZZ über Peter Esterhazys neues Buch "Verbesserte Ausgabe", das in Ungarn sehr großes Aufsehen erregt - es versteht sich als eine Art Nachschrift zu Esterhazys letztem Roman "Harmonia Caelestis". Inzwischen hat sich herausgessstellt, dass der Vater des Autors, der in dem Roman eine Hauptrole spielte, für die ungarische Stasi spitzelte. Andreas Oplatka beschreibt, wie Esterhazy seine Auseiandersetzung mit diesem Schock gestaltet: "Der Text der 'Verbesserten Ausgabe' ist zweifarbig gedruckt: Rot wiedergegeben sind die Auszüge aus den Spitzelberichten des Vaters und den Anmerkungen seiner Führungsoffiziere, während Peter Esterhazys Kommentare schwarz erscheinen. Dabei handelt es sich, grafisch unterscheidbar, um Tagebuchnotizen, die der Lektüre der vier Dossiers folgen, und um später hinzugekommene Anmerkungen. Rot hervorgehoben sind auch Sätze aus 'Harmonia caelestis', mit denen Esterhazy das nun jäh verdunkelte Bild des Vaters konfrontiert."

Weiteres: Hans Christian Kosler berichtet von einem Lyriktreffen in Meran, wo auch der Meraner Lyrikpreis vergeben wurde. In der Reihe " Kleines Glossar des Verschwinden" erinnert sich Katharina Döbler an ihre Sonntagskleider. Aus Melitta Brezniks neuem Roman "Das Umstellformat" wird ein Kapitel vorabgedruckt. Dorothea Dieckmann schreibt zum 70. Geburtstag von Gabriele Wohmann und Kurt von Fischer zum Tod des Musikwissenschaftlers Alexander L. Ringer. Urs Steiner stellt ein Basler Hochhaus vor, dass die Architekten Herzog und de Meuron zusammen mit dem Künstler Remy Zaugg gestalteten und über das jetzt ein Buch erschien. Besprochen werden eine Ausstellung von Ian Hamilton Finlay in der Tate Saint Ives, Pendereckis Oper "Teufel von Loudon" in Dresden, die Ittinger Pfingstkonzerte 2002, ein Tell-Drama von Samuel Henzi in Solothurn und einige Bücher, darunter ein neuer Band aus der Max-Weber-Gesamtausgabe (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 21.05.2002

Heinrich Wefing meldet, dass die Universität von Missouri ein erstes das Klonen von Menschen betreffendes Patent erhalten hat (und zwar schon im letzten Jahr, wie jetzt erst bekannt wurde): "Legalisiert wird das Klonen von Menschen damit zwar nicht - über das grundsätzliche Verbot oder eine Zulassung solcher Techniken wird im amerikanischen Kongress derzeit heftig gestritten. Mindestens theoretisch aber besäße die Universität dank ihres Patentes staatlich garantierte Rechte an Embryonen, Föten und sogar Kindern." Mehr Informationen und der Text des Patents finden Sie hier.

Patrick Bahners und Hannes Hintermeier unterhalten sich mit der neuen Präsidentin des Goethe Instituts Jutta Limbach, die ihr politisches Kulturverständnis erläutert: " Kulturvermittler wie das Goethe-Institut müssen Verständnis für unser zivilgesellschaftliches Konzept wecken. Ein säkularisierter Verfassungsstaat tritt häufig von außen als gottloser Staat in Erscheinung. Wir müssen deutlich machen, worin wir den besonderen Wert der Trennung von Religion und Politik sehen und dass diese Trennung gemeinsame Werte nicht ausschließt, sondern auf Werten ruht, die der säkularisierte Verfassungsstaat selbst nicht garantieren kann"

Weiteres: Andreas Kilb bespricht Filme aus Cannes, unter anderem von Abbas Kiarostami, Olivier Assayas und Atom Egoyan. Kerstin Holm analysiert den russischen Blick auf den Nahostkonflikt. Stephan Sahm kommentiert die Regelungen zur aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden und Belgien. Jürgen Kaube reflektiert Niklas Luhmanns posthum herausgegebene Schriften über Erziehung vor dem Hintergrund des Massakers von Erfurt und der Pisa-Studie. Joseph Croitoru liest osteuropäische Zeitschriften, die sich mit der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit befassen. "ack" resümiert die Erfolge Dieter Dorns nach seiner ersten Saison als Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels (die Abonnentenzahl hat sich von 2.000 auf 9.000 erhöht). Eduard Beaucamp begrüßt die Aufnahme der wichtigeren Gemälde aus der Sammlung des Donaueschinger Fürstenhauses der Fürstenberg in die Stuttgarter Staatsgalerie.

Ferner bespricht Jürgen Dollase die Koch-Enzyklopädie des großen Kochs Alain Ducasse, die bisher nur auf französisch erschien (und 299 Euro kostet). Wolfgang Schneider gratuliert der Schriftstellerin Gabriele Wohmann zum Siebzigsten. Rüdiger Klein stellt ein Kaffeehaus der Architekten Uhl & Eidenhardt in Erlangen vor. Tilman Spreckelsen resümiert eine Wiener Tagung über Arthur Schnitzler. In einer Meldung erfahren wir, dass das Verbot der Ausstellung "Black Low" des norwegischen Künstlers Bjarne Melgaard aufgehoben wurde. Patrick Bahners stellt den Comiczeichner Volker Reiche vor, dessen Werke fortan die letzte Seite dieser Zeitung zieren.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite zeichnet Ingeborg Harms ein Gespräch mit Christine Angot und Catherine Millet nach, die durch ihre sexuell recht drastischen Bücher auch in Deutschland von sich reden machten. Auf der Medienseite verreißt Hans-Dieter Seidel die Cannes-Berichterstattung von Arte. Ferner erfahren wir, dass nun auch in Österreich als letztem eruopäischem Land das Privatfernsehen Einzug hält.

Besprochen werden Hermann Beils Inszenierung von George Taboris Stück "Jubiläum" in Tübongen, Jürgen Goschs "Amphitryon"-Inszenierung im Deutschen Schauspielhaus, ein Konzert des Multi-Instrumentalisten Jim Capaldi in Aschaffenburg, Raja Amaris Filmkomödie "Roter Satin" und Krzysztof Pendereckis Oper "Teufel von Loudun" in Dresden.