Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2002. In der FAZ erklärt Michel Tournier das französische Votum als Protest gegen die Übermacht des Staates. Die SZ sorgt sich um Rechtspopulismus in Europa. Die NZZ analysiert die Weltanschauung des Front national. In der FR beklagt Leander Scholz das hegemoniale Selbstverständnis der USA. Die taz befasst sich mit Michael Walzers Polemik gegen die Kriegsgegner.

SZ, 23.04.2002

Johannes Willms sorgt sich - nicht nur aus Anlass der Wahlen in Frankreich und Sachsen-Anhalt - um den fortschreitenden Rechtspopulismus in Europa. Im Gegensatz zu seinem "vermeintlichen faschistischen Geschwister", der noch über ein "konkretes, vor allem aber historisch fundiertes Feindbild" verfügt habe, hantiere er "lediglich mit diffusen Ressentiments, die sich unter dem Sammelbegriff der Fremdenfeindlichkeit subsumieren lassen". Verantwortlich für diese Entwicklung macht Willms Politiker, die entweder "wie Marktschreier Patentrezepte ... feilbieten, die jene Ängste zu bannen versprechen oder "die in falscher Bescheidenheit für sich in Anspruch nehmen, lediglich Manager der Staats-AG zu sein, und die ihre Mandatare als Kleinaktionäre betrachten."

Weitere Themen: Gerhard Matzig berichtet über das erste deutsche Legoland, das Anfang Mai als "urbane Utopie" in Günzburg eröffnet wird. Christiane Kohl stellt uns das "größte Auditorium Italiens" vor, das in Rom von Renzo Piano gebaut wurde. Und Stefan Koldehoff wundert sich über die Zustände am bestohlenen Brücke-Museum in Berlin. Informiert wird über die nächste Runde im Fürther Streit um die Ausstellung "Feinkost Adam" am Jüdischen Museum (mehr hier), und Jürgen Busche porträtiert die Stadt Freiburg anlässlich bevorstehender Oberbürgermeisterstichwahlen mit möglicherweise grünem Ausgang als "tief gespalten, aber voller Selbstbewusstsein". In der Kolumne "Zwischenzeit" nimmt sich Hermann Unterstöger mit eleganter Gnadenlosigkeit Auswüchse der Kritikerprosa vor. Außerdem lesen wir eine Würdigung des isländischen Schriftstellers Halldor Laxness, der dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre. Kurz berichtet wird schließlich über die Schriftstellerin Arundhati Roy, die wegen "Missachtung des Gerichts" eine Nacht im Gefängnis zubrachte.

Besprochen werden eine Ausstellung im Budapester "Terrorhaus", die zwei Diktaturen - die der ungarischen Nazis und der Kommunisten - dokumentieren soll, und die Berliner Schau "Brückenschlag", die in der Staatsbibliothek eine Sammlung wertvoller Polonica präsentiert, weiter Rossinis Oper "Der Barbier von Sevilla" an der Komischen Oper Berlin, eine Performance von Thomas Plischke im Frankfurter Mousonturm, das Trainingsprogramm von Simon Rattle mit diversen Berliner Orchestern, der Zeichentrickfilm "Jimmy Neutron" und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Theodor W. Adorno und die wahre Geschichte eines Frauentransports per Schiff im 18.Jahrhundert (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 23.04.2002

Der Schriftsteller Leander Scholz räsoniert über "das hegemoniale Selbstverständnis der USA und die europäische Melancholie". Scholz geht von einer "Selbstidentifikation der Vereinigten Staaten mit dem Römischen Reich" aus und stellt aus europäischer Warte fest: "Wenn uns heute bei manchen Reden amerikanischer Politiker die alteuropäische Semantik des Barbaren und Zivilisierten oder sogar der Kreuzzüge wieder begegnet, beruhigen wir uns damit, dass das nicht so gemeint sein kann." Das nützt laut Scholz allerdings wenig, denn: "Wenn die Europäer ein Wörtchen mitreden wollen in der Weltpolitik, dann müssen sie die Sprache der USA sprechen und ihre Empfindsamkeiten gegenüber deren Selbstverständnis aufgeben.

Die Wahlen vom Wochenende werden in zwei Texten kommentiert. Harry Nutt legt den Schwerpunkt auf die deutsch-französische Gemeinsamkeit der geringen Wahlbeteiligung. Baudrillard zitierend, wonach der Wähler "Spektakel und Zeichen, kein überzeugendes politisches Programm" wolle, stellt er fest: "Der Wähler spielt nach Gusto und Tagesform mit und weiß seine Wahl als Parameter seiner Wechselkompetenz zu betrachten". Martina Meister diagnostiziert in Frankreich dagegen ein Gefühl wie nach einem "Wetttrinken bis zur politischen Besinnungslosigkeit". Und "in diesem Zustand haben ein Fünftel aller Wähler extrem rechts gestimmt und die 'exception francaise' auf erschütternde Weise bestätigt."

Des weiteren lesen wir einen Bericht über das Comic-Festival "Fumetto" (italienisch für Comic) in Luzern und eine Architekturkritik des Colorium-Hochhauses von Alsop Architects in Düsseldorf (mehr hier). Und Sacha Verna schreibt über Don DeLillos literarischen Beitrag "Baader-Meinhof" zum Gerhard-Richter-Hype im "New Yorker": "Wir sind in Amerika, und frisch gemeint ist ganz verstanden."

Besprochen werden Sarah Kanes Stück "Psychose 4.48" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (mehr hier), Rossinis "Barbier von Sevilla" in Berlin, ein Theaterexperiment von Jean-Francois Peyret in Straßburg und Mira Nairs Film "Monsoon Wedding".

TAZ, 23.04.2002

Mark Terkessidis antwortet auf die Kritik von Michael Walzer an der "linken Antikriegsfraktion" in den USA (Walzers Text vom 13. April finden Sie hier). Terkessidis bezweifelt Walzers Gleichsetzung der Antikriegsbewegung mit "der Linken". Und dessen These eines ideologisch motivierten "Leugnens religiöser Motive" hält er entgegen, "dass der Islamismus stark von westlichen Einflüssen geprägt wurde. All die Vorstellungen von Gesellschaft, authentischer Identität und Revolution stammen aus dem Westen. Selbst die Scharia hat sich bei den Islamisten aus einer losen Sammlung von Texten und Präzedenzfällen in positives Recht nach kontinentaleuropäischem Vorbild verwandelt. Zudem betreiben islamistische Gruppen eine äußerst (post-)moderne Symbolpolitik. So könnte man die Ausdrucksformen der Taliban als genuinen Terror-Style bezeichnen. Zweifelsohne stellt der westliche Konsumismus angenehmere Mittel bereit, um seine Zugehörigkeit via Stil auszudrücken, doch die Mechanik von Symbolcode und Abgrenzung funktioniert letztlich genau gleich. Mit Religion hat so etwas wie die Burka nur vordergründig zu tun."

Besprochen werden die Oberhausener Inszenierung von Tim Staffels "Werther in New York" und Bücher, darunter Yasmina Khadras Beschreibung eines islamistischen Helden in dem Roman "Wovon die Wölfe träumen" und eine Studie über Chinas Rückkehr zur Weltmacht (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

NZZ, 23.04.2002

Marc Zitzmann beschreibt die Ideologie und Kulturpolitik von Jean-Marie Le Pans Front national am Beispiel der vier südfranzösischen Städte, die seit einigen Jahren von dieser Partei regiert werden. "Was die öffentliche Unterstützung von Vereinigungen angeht, gab es kräftige Akzentverschiebungen. So strich man in Toulon die Subvention des Centre communautaire israelite, während die der Gesellschaft der Katzenfreunde erhöht wurde."

Weiteres: Andrea Köhler stellt das neue Austrian Cultural Forum in New York vor. Lilo Weber besucht den Choreografen Nacho Duato und seine Compania Nacional de Danza in Madrid - sie werden in den nächsten Tagen in der Schweiz gastieren. Paul Jandl hat sich die neue Wehrmachtsausstellung in Wien angesehen. Roman Hollenstein erinnert an den englischen Architekten und Innendekorateur Robert Adam. Besprochen werden die Marcel-Duchamp-Ausstellung im Museum Jean Tinguely Basel, ein Konzert von Andras Schiff in Zürich und Hassan Dawuds Roman "Tage zuviel" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Außerdem legt Evelyn Schlag (mehr hier) eine Erzählung vor: " Leiser als der Kater".

FAZ, 23.04.2002

Neben einer negativen Lesart des französischen Wahlergebnisses - ist Frankreich ein Volk der Chauvinisten und Fremdenhasser? - will Joseph Hanimann auch eine positive sehen: "Das Land hätte, dieser Lesart zufolge, mit einem besonders gewagten Spielzug des Nichtwählens und Protestwählens versucht, sich aus einem volksfern erstarrten politischen Management zu befreien: ein Versuch, der auf gefährliche Weise danebenging, aber bei den kommenden drei Wahlterminen korrigierbar ist. Das unmittelbare Opfer ist die linke Mitte, hätte unter anderen Umständen aber auch die rechte Mitte sein können. Die Zahl der eingefleischten Anhänger Le Pens ist seit dem Anstieg in den achtziger Jahren ziemlich konstant geblieben. Die paar gewonnenen Prozente Le Pens sind gleichsam das schweigende Vorausecho der überwältigenden Mehrheit, mit der Jacques Chirac in zwei Wochen gewählt werden wird."

Der Schriftsteller Michel Tournier sieht den Grund des franzöischen Wahlprotests dagegen in einem Aufbegehren gegen die - von den Medien angeblich tabuisierte - Übermacht des Staates: "Eine der landesweiten Beschwerden betrifft ganz sicher die zahllosen Streiks der Staatsangestellten, darunter namentlich die zahllosen Arbeitsniederlegungen bei der Eisenbahn und den anderen öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Durchschnittsfranzose hat den Eindruck, Opfer einer privilegierten Kaste zu sein, die sich an ihre Privilegien klammert, gleichgültig wie hoch die Kosten sind und wie groß die Verwirrung ist, in die das Land gestürzt wird."

Weiteres: Wiebke Deneke schildert, wie der archäologische Grabungsboom in China von der Führung der KP zu politischen Zwecken ausgebeutet wird. Stefanie Peter berichtet über einen neuen Stand in den Untersuchungen zum Massaker von Jedwabne: Ein neunzigjähriger ehemaliger SS-Mann wurde aufgespürt und befragt - allerdings ist seine Aussage so vage, dass sie weder die These von der deutschen noch die von der polnischen Hauptschuld an dem Massaker bestätigt. Mark Siemons untersucht nach dem Erfolg der FDP in Sachsen-Anhalt das "Projekt 18 alias Guido Westerwelle". "bob" macht uns mit Plänen der Hamburger Staatsoper für die nächsten Jahre bekannt, zu denen auch die Uraufführung einer Rihm-Oper gehört. In einer Meldung ist zu lesen, dass nach Phönix-Thalia jetzt auch der Buchhändler Hugendubel den neuesten Grisham-Roman nicht verkaufen will, weil der Heyne-Verlag ihn zuerst beim Bertelsmann-Buchclub und dann erst im Sortimentshandel anbietet.

Ferner stellt Dietmar Polaczek Renzo Pianos Konzertsäle für Rom vor, die sich der Vollendung nähern. Christian Schwägerl teilt mit, dass aus dem legendenumwobenen Genkartierungsunternehmen Celera nun auf Geheiß des besitzenden Konzerns Applera eine gewöhnliche Medikamentenkocherei wird - Craig Venter ist ohnehin abgesetzt. Oliver Tolmein resümiert eine Münchner Debatte über den Internationalen Strafgerichtshof, die von der neuen Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach eingeleitet wurde. Ilona Lehnart erzählt die Geschichte des polnischen Sammlers Tomasz Niewodniczanski, der seine (gerade in der Berliner Staatsbibliothek ausgestellte) Sammlung von Polenkarten und -Atlanten nur dann dem polnischen Staat schenken will, dieser Beutegut aus dem Zweiten Weltkrieg an die Staatsbibliothek zurückgibt.

Auf der letzten Seite macht uns Christian Geinitz mit der Perspektive vertraut, dass demnächst ein Goethe-Institut auf Kuba eröffnet werden könnte. Gerhard Stadelmaier meldet, dass ein Porträt, das bisher als ein Abbild der Lady Norton galt, nun als Porträt des Henry Wriothesley, des dritten Earls von Southampton identifiziert wurde, "einem frühen Gönner und womöglich Liebhaber Shakespeares". (Hier mehr zum Thema.) Und schließlich: So richtig neu findet Eleonore Büning Simon Rattles Programm bei den Berliner Philharmonikern zuerst nicht, dann aber doch - wegen der bisher unerreichten Zahl der Uraufführungen.

Auf der Medienseite stellt Souad Mekhennet Websites wie intifada.de vor, die den Nahostkrieg nach Deutschland tragen. Außerdem geht's um Kauf und Verkauf von Fußballrechten in der Post-Kirch-Ära. Auf der Bücher-und-Themen-Seite klärt uns der Stiftungsjurist Peter Rawert über die Ursprünge des neuen Stiftungsgesetzes im 19. jahrhundert auf.

Besprochen werden eine Ausstellung von Christoph Jamnitzers "Mohrenkopf-Pokal" aus der zeit um 1600 im Bayerischen Nationalmuseum, eine Ausstellung in der Baden-Württembergischen Landesvertretung in Berlin über Herrmann Hesse und die Weltreligionen, die den Auftakt zu den Feiern von Hesses 125. Geburtstag bildet, eine Jackson-Pollock-Ausstellung im venezianischen Museo Correr, ein Leseabend der Münchner "Criminale" und ein Weill-Konzert von Dee Dee Bridgewater.