Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2002. In der FR diskutieren Salman Rushdie und Daniel Barenboim über den Nahostkonflikt. In der SZ denkt Timothy Garton Ash über das europäische Verhältnis zu Israel nach. In der FAZ polemisiert Fritz J. Raddatz über die "gedankenlose Infamie" von Breyten Breytenbachs Israel-Kritik. Die taz führt ein Gespräch mit David Blankenhorn vom "Institute of American Values".  Die NZZ denkt über Cioran und den Faschismus nach.

FR, 20.04.2002

Im Magazin-Gespräch diskutieren Salman Rushdie und Daniel Barenboim über den Wahnsinn im Nahen Osten (Rushdie verurteilt die Korrumpierung menschlichen Lebens durch die Strippenzieher hinter den palästinensichen Selbstmordattentaten), über Literatur und Musik. Dinge, die durchaus etwas miteinander gemein haben, wie Barenboim glaubt: "Wenn man nämlich der Auffassung ist, dass die Osloer Verträge zwischen Israel und Palästina etwas Positives waren, das nicht zu einem guten Ende kam, muss man sich fragen, warum. Meine These ist: Die Geschwindigkeit stimmte nicht mit dem Inhalt überein. Die Vorbereitungszeit war zu kurz, und als es einmal losging, ging es zu langsam. Das ist genauso als würde ich die Einleitung einer Beethoven-Symphonie zu langsam spielen, sodass die Zuhörer nicht verstehen, worum es geht, und dann würde ich den Hauptteil langsam, weich und mit Unterbrechungen spielen, anstatt vorwärtsdrängend. Dann würde man den Inhalt nicht erfassen."

Im Feuilleton untersucht Guido Graf das Kulturphänomen "Angst", wie es uns begegnet in der Literatur, im Kino und in uns selbst: "Angst ist auch nur ein Name für die Spannung, für den Wechsel von Identität und Auflösung. Darin verbirgt sich die Ahnung, dass die gleichen Kräfte, an denen wir uns stärken, uns auch zerstören. Angst und Abwehr klammern sich in subtiler Ökonomie aneinander ... Wir begegnen dem Tod und wollen uns abwenden. Doch er ist ein Teil von uns. In der Angst nimmt dieser Teil in was für einer Gestalt auch immer ein Eigenleben an."

Weitere Artikel: Gregor Eisenhauer stellt uns Arno Schmidt in zwei frühen Fragmenten als antimilitaristischen Allergiker vor. Michael Rutschky schreibt einen Brief aus Chicago. Natalie Soondrum berichtet vom einem Festival des neuen japanischen Kinos in der Goethe-Universität Frankfurt. Hermann Wallmann gratuliert dem quasi unbekannten Nobelpreisträger Halldor Laxness zum 100. Geburtstag. Und Christian Thomas verabschiedet den Kon-Tiki-Mann Thor Heyerdahl.

Besprechungen widmen sich einem Brecht-Abend von Tom Kühnel am Frankfurter TAT und Büchern, darunter einer Studie über "Die Juden und das Römische Reich", einem Band über "Landschaften und Gartenstücke" und Michael Maars Versuch über die Frage, "Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte" (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag um 11 Uhr).

SZ, 20.04.2002

Der in Oxford und Stanford lehrende Zeithistoriker Timothy Garton Ash (mehr hier) zeigt in einem Artikel die Problematik auf, mit der Europa bei der Beurteilung der Nahost-Frage zu tun hat. "Ohne den Holocaust in Europa gäbe es vermutlich keinen Staat Israel. Selbst wenn heute der hausgemachte europäische oder der importierte Antisemitismus nichts mit unserer gegenwärtigen Nahostpolitik zu tun haben, sollte uns die europäische Geschichte doch zu einer gewissen Demut raten, bevor wir uns aufs hohe Ross schwingen und den Amerikanern moralische Vorträge zum Thema Israel halten. Unsere Geschichte disqualifiziert uns nicht in Bezug auf moralische Urteile, aber sie mahnt uns zur Zurückhaltung."

Noch eine Entgegnung auf das "gerechter Krieg"-Manifest. "Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus", dachten sich namhafte Deutsche (nur wer?) und schrieben einen offenen Brief (nur wo?). Die Unterzeichner, so der SZ-Beitrag von "anme", kritisierten, "dass der Massenmord an der afghanischen Zivilbevölkerung in dem Aufruf der amerikanischen Intellektuellen mit keinem einzigen Wort Erwähnung finde. Dies zeige, dass das Manifest zwar die Universalität moralischer Maßstäbe beschwöre, diese aber nur für die eigenen Interessen geltend mache. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen gelte jedoch nicht nur für Menschen in den Vereinigten Staaten, sondern auch für die Bevölkerung Afghanistans, ja sogar für die Al-Qaida-Gefangenen auf Guantanamo."

Andere Artikel: Julia Encke schmunzelt über ein Buch mit Wahlkampfgeschichten zu Ehren des dritten französischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Pierre Chevenement (geschimpft wird in darin über den Euro, Handys, Techno und Feministinnen - aber in Alexandrinern!), Jeremy Adler gießt Öl aufs Feuer der englischen Debatte um Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser", indem er behauptet, der Autor betreibe sentimentale Geschichtsfälschung, Arno Orzessek annonciert die Eröffnung des Varusschlacht-Museum (samt Erlebnis-Park) in Kalkriese, Wolfgang Schreiber sinnt nach über Simon Rattle und die Zukunft der Berliner Philharmoniker, in der Reihe zur Zukunft der Schule erklärt der Kunsterzieher Johannes Kirschenmann, inwiefern Kunst von Gunst kommt, Gerhard Fischer schreibt zum Tod des Abenteurers Thor Heyerdahl, Anton Thuswaldner war auf einem Abend für Gerhard Roth im Wiener Akademietheater, Miriam Neubert erklärt uns Kirchenkampf auf Russisch: Die Orthodoxie sagt dem Katholizismus den Kampf an. Und die Deutsche Forschungsgemeinschaft antwortet mit einem offenen Brief auf die Kritik des Kölner Historikers Wolfgang Schieder an der geplanten Änderung des DFG-Begutachtungsverfahrens (SZ vom 16. April).

Besprochen werden eine Ausstellung des Künstlers James Coleman im Münchner Lenbachhaus, Nick Cassavetes' Krankenhaus-Geiseldrama "John Q.", ein Konzert (Poulenc, Debussy u.a.) mit dem Dirigenten Antonio Pappano und den br-Sinfonikern im Münchner Gasteig, ein Abend mit Brecht-Lehrschnipseln für Führungskräfte am Frankfurter TAT, schließlich Bücher: u.a. Carlos Fuentes' Roman "Das gläserne Siegel", ein Sammelband über ästhetische Probleme der Plastik sowie ein Buch, das die Sprache der Neuen Medien entschlüsselt (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11).

In der Wochenendbeilage porträtiert Reinhold Aumeier den Komponisten und Bassisten Charles Mingus, und Herbert Riehl-Heise sucht und entdeckt Möglichkeiten der Friedensfindung in einer krisengeschüttelten Welt. "Es ist ein Fortschritt, dass es gelungen ist, die Völker in großen Organisationen und Sicherheitskonferenzen zu vernetzen. Und noch wichtiger: Es haben inzwischen immer mehr Menschen gemerkt, dass man den Frieden nicht den Politikern überlassen darf."

TAZ, 20.04.2002

In den Tagesthemen findet sich ein Gespräch mit David Blankenhorn, dem Präsidenten des New Yorker "Institute for American Values" und Initiator des Aufrufs "Wofür wir kämpfen - ein Brief aus Amerika". Erwartungsgemäß verteidigt Blankenhorn den Brief, so wenn er auf das Argument von der Nichtexistenz eines "gerechten Krieges" eingeht: "Viele Leute bringen dieses Argument, am meisten aber in Deutschland ... Es scheint mir, als ob das 20. Jahrhundert und die Erfahrung der beiden Kriege, insbesondere des Zweiten Weltkrieges, innerhalb der deutschen Gesellschaft und ihrer Führung die Haltung fest verankert haben, Krieg sei niemals die Lösung, sondern immer das Problem. Einen Krieg mit moralischen Begriffen rechtfertigen zu wollen gilt als undenkbar. Ich denke dennoch, dass das falsch ist. Man kann ja diesen pazifistischen Grundgedanken haben, dass jeder Einsatz von Gewalt falsch ist. Dann muss man aber auch die Folgen bedenken, nämlich dass noch viele, viele unschuldige Menschen getötet würden."

In der Kultur: Christiane Rösinger kam bei einem Nena-Konzert in Berlin in die Versuchung, sich von wildfremden Freundinnenverbänden umarmen zu lassen. In seiner Checkliste Medizin verrät Gerrit Bartels, was die Masern uns Böses wollen. Christiane Kühl porträtiert den US-Schriftsteller John Edgar Wideman und stellt seinen neuen Roman "Schwarzes Blut" vor (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

Das tazmag besteht heuer aus einem dicken Island-Dossier, darin u.a. ein Interview mit Gudbergur Bergsson, einem der wichtigsten Autoren der isländischen Moderne, Nils Röller zeigt die Insel als Schaffensplatz Dieter Roths, und in einer kleinen Erzählung beschreibt die in Hamburg lehrende Künstlerin Inga Svala Thorsdottir Island im Jahr 2020: Man hat Sex in 350 Meter Höhe!

Schließlich TOM.

NZZ, 20.04.2002

Roman Hollenstein erzählt die Geschichte des Pirelli-Hochhauses in Mailand, das nun zu trauriger Berühmtheit gelangte. Matthias Frehner hat sich die Whitney-Biennale in New York angesehen ("Da der Kurator der gegenwärtigen Schau seine Auswahl am Abend des 10. September 2001 definitiv abgeschlossen hat, ist in der ausufernden Schau im Whitney Museum in New York noch nichts von einer Neuausrichtung zu spüren.") "gfk" berichtet von Simon Rattles Pressekonferenz zu seiner ersten Saison bei den Berliner Philharmonikern. Und Marc Zitzmann rezensiert Ausstellungen zu Victor Hugo in der Pariser Nationalbibliothek und im Victor-Hugo-Haus. Kurz besprochen wird eine Ausstellung schottischer Kunst in London.

Und Jochen Hörisch erinnert sich im "Kleinen Glossar des Verschwindens" an den "Tintenklecks" und beginnt mit ein paar Gedichtzeilen von Peter Rühmkorf: "Die ihr schreibt, nehmt euch in acht! / Weil ich Klecksograph entdecket, / Dass im Tintenfass oft stecket / Eines gift'gen Dämons Macht."

In der Samstagsbeilage Literatur und Kunst geht's vor allem um Literatur.

Martin Meyer hat die posthum herausgegebenen "Cahiers" (und hier) von Cioran gelesen und kommt auch auf neue Details über seine faschistischen Umtriebe im Rumänien seiner Jugend zu sprechen: "Inzwischen treten neue Quellen ans Licht, und sie liefern kein freundliches Bild von dem faschistisch inspirierten Querdenker von einst. Alles, was Cioran später in sublimierter Façon zur Prosa goss - die elitäre Attitüde, die Verachtung des Durchschnitts, den Stolz leidender Auserwähltheit -, hatte zu Beginn der dreißiger Jahre militant politisierende Sprengkraft." Aber Meyer fragt auch: "Was hätte uns ein geläuterter Cioran der Gewissenseinkehr noch zu sagen gewusst? Sein Außerordentliches war das verschärfende Wort, die Kompression des Denkens zur vorwiegend unhäuslichen Erkenntnis."

Weiteres: Thomas Sträter wirft einen Blick auf die zeitgenössische brasilianische Literatur. Edward Kanterian porträtiert den rumänischen Schriftsteller Mircea Cartarescu. Marli Feldvoss besucht die Berliner Schriftstellerin Angelika Klüssendorf in ihrer Werkstatt. Roman Bucheli bespricht Reinhard Jirgls "Genealogie des Tötens". Und Ursula Pia Jauch setzt sich mit Jorge Sempruns neuem Roman "Der Tote mit meinem Namen" (mehr hier) auseinander. (Siehe auch unsere Bücherschau am Sonntag ab elf Uhr.)

FAZ, 20.04.2002

Eine erregte Antwort auf die "gedankenlose Infamie" Breyten Breytenbachs in seinem offenen Brief an Ariel Scharon (hier ein Zitat) legt der ehemalige Zeit-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz vor: "Nichts von dem, was Sie schreiben, entspricht der Wahrheit. Es ist Hetze. Kein Israeli, auch kein Armeeangehöriger, hat mit dem Zeichen 'Rasse' oder 'Herrenvolk' auf der Fahne aus purer Lust an 'Auslöschung' beschlossen: Nun wollen wir mal Araber jagen gehen. Das Gegenteil: Ein in seiner gesamten Existenz bedrohter Staat wehrt sich; zugegebenermaßen: mit überzogenen Mitteln - aber wehrt sich dagegen, ins Meer getrieben zu werden. Das war und ist das Intifada-Ziel, und der Verbrecher heißt Arafat, nicht der - wenngleich unsympathische - Scharon."

Mark Siemons denkt über die "Anti-Aging"-Bewegung nach: "Was die Anti-Aging-Bewegung von der schon länger existierenden Wellness-Welle unterscheidet, ist der dauernde Bezug zum Tod. Am Anfang steht eine radikale Individualisierung der Endlichkeit... Das Leben wird also vor allem als Funktion seiner Länge wahrgenommen. Alle einzelnen Vollzüge ordnen sich diesem Zweck ein und unter... 'Schmusen und kuscheln Sie! Zärtlichkeiten mit Hautkontakt stimulieren die Ausschüttung des Hormons Oxytocin.'"

Zum ersten Mal seit Menschengedenken haben die französischen Präsidentschaftskandidaten keine Bücher geschrieben. Die fatale Liaison von Politik und Literatur, die für Frankreich typisch war, scheint sich zu lösen. Jürg Altwegg findet das gut: "Weniger Glanz und mehr Transparenz, mehr Demokratie und weniger monarchistische Republik wird die Zukunft bringen - die Ästhetisierung der Politik a la française neigt sich ihrem Ende entgegen."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube setzt sich mit der Mode des Hochschulrankings auseinander ("Dem Abiturienten wird vorgemacht, er sei ein Kunde und es gebe eine Stiftung Bildungstest. Dabei ist er nur der Kunde der Tabellenmacher.") Dieter Bartetzko erzählt die Geschichte des Pirelli-Hochhauses, das jetzt durch den Mailänder Unglücksflieger bekannt wurde. Dietmar Dath schreibt zum Tod von Thor Heyerdahl. Dietmar Polaczek lässt Johannes Raus Staatsbesuch in Italien Revue passieren und erläutert die italienische Angst, nach der EU-Erweiterung nicht mehr von den Förderprogrammen der Union zu profitieren. In der FAZ-Serie über die Zukunft des Ruhrgebiets denkt der Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm über die Geschichte und Funktion der Bildungseinrichtungen der Region nach. Auf der Medienseite porträtiert Sandra Kegel die Fernsehspielchefin des Hessischen Rundfunks Liane Jessen. Der neue "Tatort" aus Hessen wird vorgestellt. Und wir erfahren, dass die Wahkampf-Berichterstattung bei RTL durch berühmte Journalisten wie Sandra Maischberger und Friedrich Nowottny verstärkt wird.

Kurz vorgestellt wird das erste Programm der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle. Und in einer Meldung erfahren wir, dass der nächste Harry-Potter-Roman wohl nicht mehr in diesem Jahr erscheint.

Besprochen werden ein Abend nach Bert Brechts Stück "Jasager, Neinsager" (für das der Verlag allerdings die Aufführungsrechte versagte) im Theater am Turm, die Bill Viola-Ausstellung in der Deutschen Guggenheim Berlin, eine "hinreißende" Inszenierung von Dimitrij Schostakowitschs Oper "Die Nase" in Lübeck, ein für die Touristen arrangiertes "Hannibal"-Spektakel im Ötztal und Kevin Smiths Film "Jay und Silent Bob schlagen zurück".

In dem, was einmal "Bilder und Zeiten" war, schreibt Tilman Spreckelsen zum hundertsten Geburtstag von Halldor Laxness. Und Dieter Bartetzko porträtiert Ieoh Ming Pei (mehr hier), der in Berlin eine Erweiterung für das Deutsche Historische Museum entwarf.

In der Frankfurter Anthologie stellt Walter-Helmut Fritz ein Gedicht von Wolfgang Bächler vor - "Die Erde bebt noch".

"Die Erde bebt noch von den Stiefeltritten.
Die Wiesen grünen wieder Jahr für Jahr.
Die Qualen bleiben, die wir einst erlitten,
ins Antlitz, in das Wesen eingeschnitten.
In unsren Träumen lebt noch oft, was war..."