Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2002. In der FAZ beklagt Juan Goytisolo das Martyrium der Palästinenser. In der SZ erfahren wir, warum das FAZ-Feuilleton nun doch nicht nach Berlin fährt. In der NZZ erklärt Julian Barnes, wie er sich eine Südsseinsel verdiente. Die taz mokiert sich über den Kleinkrieg zwischen den Großfeuilletons. Die FR bringt Licht in die Vertriebenendebatte.

SZ, 22.03.2002

Am 13. März berichtete die SZ, dass das FAZ-Feuilleton auf Drängen von Frank Schirrmacher nach Berlin umziehen soll. Unterstützt wurde Schirrmacher dabei von FAZ-Geschäftsführer Jochen Becker. Am Mittwoch wurde der Beschluss "aus Kostengründen" jedoch wieder gekippt: Die Herausgeber Günther Nonnenmacher und Berthold Kohler, die beide entschieden gegen den Berlin-Plan votiert hatten, konnten "die Kontrolle im Führungsgremium der FAZ" zurückgewinnen, meldete die SZ gestern. Heute nun liefert sie ein genaues Protokoll der Sitzungen in Frankfurt seit dem 6. März (da war es bestimmt hilfreich, dass ein paar ehemalige SZler heute in der FAZ arbeiten) und resümiert: "In der FAZ wird die Wende als gescheiterter Putschversuch Schirrmachers gewertet. Der sagt, dass es nie den Versuch gegeben habe, ein Verleger/Chefredakteurs-Modell zu installieren mit ihm und Geschäftsführer Becker: 'Das ist ein konstruiertes, strategisches Argument und die Ausgeburt von Menschen, die keine Ahnung von unserer Verfassung haben.'" Die FAZ, muss man dazu sagen, hat keine Chefredakteure, sondern nur Herausgeber.

Journalisten, Tagesschreiber, Feuilletonisten - Deutschland und Europa: Aufwachen! In der SZ bläst Claus Koch uns allen den Marsch: "Auch wenn viele von Ihnen es noch nicht recht wahrgenommen haben: Deutschland befindet sich im Krieg, treibt mit den übrigen Europäern dem Weltbürgerkrieg zu. So will es der Leiter des Imperiums, so wollen es die meisten Führer der amerikanischen Nation." Wenn übers Jahr die Leitung des Imperiums ihren blinden Nationalismus nicht besser beherrsche und ihre Positionen revidiere, meint Koch, "werden die Europäer Amerika bald als gefährlichen Ex-Freund ansehen. Die deutsche Medien- Öffentlichkeit will von all dem so wenig wie nötig wissen. Dort hat man gern andere Sorgen." Das allerdings stimmt.

Navid Kermani zum Beispiel, unterwegs in Israel und den besetzten Gebieten, berichtet diesmal vom Strand in Haifa, wo die Sonne scheint, schöne Menschen baden gehen und Aversionen einfach bloß "erkennbar uncool" wären. Schon verwirrend, findet Kermani, so mit den Füßen im Sand und der Sonne im Gesicht den Circulus virtuosos der Gewalt zu erörtern, darüber zu reden, "dass der israelische Geheimdienst wiederholt gerade nicht die Extremisten, sondern gesprächsbereite Kräfte innerhalb der palästinensischen Widerstandsgruppen ermordet, für deren Tod Rache zu schwören, sich die Extremisten natürlich nicht nehmen lassen ... dass Gewalt zur einzigen Option geworden ist und die Eskalation zu einer Strategie, die die Terroristen beider Seiten gemeinsam verfolgen müssen, um die eigene Macht zu sichern".

Weitere Artikel: Über den schlampigen Umgang mit dem Nachlass des schwarzen Bürgerrechtlers Malcom X, Gottfried Knapp annonciert die architektonische Vollendung der Pinakothek der Moderne in München, die im September eröffnet wird, Clemens Prokop porträtiert die "beste Komponistin der Welt" - Sofia Gubaidulina (mehr hier) die jetzt mit dem Polar-Musikpreis geehrt wird, Daghild Bartels läutet die nächste Runde im Krimi um den Kunstsammler Gustav Rau ein, Hartmut Kaelble war auf der ersten Tagung des französischen Zentrums für Deutschlandforschung und hat herausgefunden, was die Franzosen an Deutschland interessiert (das Europäische vornehmlich), Jeanne Rubner erläutert die neue Ergänzung im Hochschulrahmengesetz (und im Interview erläutert Bundesbildungsministerin Bulmahn die Erläuterung), Michael Stöltzner erinnert an Arnold Berliner, den Gründer der Zeitschrift "Die Naturwissenschaften", der vor sechzig Jahren starb. Und Glückwunsch an die Malerin Agnes Martin, sie wird 90.

Besprochen werden die Neuverfilmung der "Time Machine" von H. G. Wells und die "E.T."-Jubiläumsfassung, Ernst Barlachs Auferstehungsdrama "Der arme Vetter" am Mainfrankentheater Würzburg - und Bücher: Steffen Kopetzkys neuer Roman "Grand Tour" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr) sowie Andre Glucksmanns bisher nur auf französisch erschienenes Buch über den 11. September.

NZZ, 22.03.2002

Maja Turowskaja schickt aus Moskau eine Reflexion über das Lenin-Bild im sowjetischen Kino und über Alexander Sokurows neuen Film "Taurus", der sich mit Lenins Sterben befasst: "Der Regisseur führt auch seine ureigensten Themen weiter: Tod und Körper. Der beginnende Tod des Körpers. Lenins invalider, nicht mehr gehorchender, anderen wie ihm selbst lästiger Körper, das zukünftige 'Mausoleumsstück', benötigt, um versorgt zu werden, eine ganze Mannschaft von Helfern. Er wirkt fremd in dem luxuriösen Anwesen in Gorki und der umgebenden Natur. Ist in dem Körper noch etwas lebendig, so sein böser, zerstörerischer Wille."

Weitere Artikel auf der Filmseite widmen sich der ungarischen Filmproduktion im Dilemma, dem Einsatz digitaler Techniken durch Autorenfilmer, Andzrej Wajdas neuem Film "Die Rache", dem Film "La cienaga" der Argentinierin Lucrecia Martel und dem 16. Filmfestival Freiburg.

Im Feuilleton legt Volker Behrens eine Porträt des britischen Autors Julian Barnes vor, den er bei einer Hamburger Lesung beobachten konnte. Auf die Publikumsfrage, wie erfolgreich 'Darüber reden' gewesen sei, entgegnet er: 'Ganz enorm. Immerhin konnte ich mir davon die Südseeinsel und den Privatjet leisten. Vielen Dank für die Frage! Das Geld bekommen Sie nach der Lesung.' Der Fragesteller stutzt."

Weiteres: Christoph Jahr schreibt zum Tod Christian des Grafen von Krockow, der die Gräfin Dönhoff nur um wenige Tage überlebte. Besprochen werden Konzerte der Münchner Philharmoniker in New York, die Leipziger Ausstellung "Malerei ohne Malerei" (mehr hier), "Hardcore-Chambermusic" (so steht's da) und der Poet Christian Uetz am Lucerne Festival, und ein Konzert des Zürcher Tonhalle-Orchester unter Lorin Maazel.

Auf der Medien- und Informatikseite erfahren wir neuen Insiderklatsch über Schweizer Reaktionen auf die NZZ am Sonntag und über die Kämpfe um die Weltwoche. Außerdem werden wir über die Schwierigkeiten von Online-Portalen und wiederkehrende Chancen im Online-Werbemarkt orientiert.

TAZ, 22.03.2002

Wer hat die Definitionshoheit über Leipzig 2002? Die taz scheinbar nicht. Gerrit Bartels nämlich mokiert sich über den rechtzeitig zur Messe angezettelten Kleinkrieg zwischen den "Großfeuilletons von FAZ und SZ", die sich mit MRR-mäßigen Literatur-Kanons und "larmoyanten 'Bestandsaufnahmen' des Literaturbetriebs" gegenseitig attackieren: "Junge Literatur versus neue Ernsthaftigkeit? Pop versus Anti-Pop? Richtiges Leben versus richtige Literatur? Oder bloß FAZ versus SZ? Ein Literaturbetriebsstreit der Literaturkritiker, vor allem gut fürs männliche Ego?" Bartels hält sich da lieber an Otto Rehagel: "'Wichtig ist aufm Platz'. Also Leipzig. Also die Bücher. Also das Publikum."

Weitere Artikel: Thomas Winkler porträtiert den einstigen "Kastrierten Philosophen" und jetzigen Rap-Produzenten Matthias Arfmann, es gibt ein Interview mit dem britischen Songwriter Billy Bragg über Englands kulturelle Eigenheiten im Zeitalter der Globalisierung (die Frisuren von Thatcher und Blair zum Beispiel), Cristina Nord stößt in David Rivas Dokumentation "Marlene Dietrich - Her Own Song" auf zu viele schlichte Eindeutigkeiten, Christian Rath lauscht der Alpen-Avantgarde mit neuen Platten von Attwenger und Edelschwarz.

Und auf der Medienseite annonciert Ania Mauruschat die "intermedium2" in Karlsruhe, auf der sich das Hörspiel von seiner sexy Schokoladenseite zeigt.

Ebenso zeigt sich TOM.

FR, 22.03.2002

In einem dankbaren Artikel bringt Martin Altmeyer Licht in die Vertriebenendebatte und klärt die Abhängigkeiten im System des "doppelten Schweigens" der Deutschen nach dem Krieg: "Die faschistische Barbarei ging der Vertreibung voraus, der völkische Wahn produzierte auch den Hass, der den deutschen 'Volksgruppen' entgegenschlug, als das Wahnsystem an allen Fronten zusammenbrach. Die Deutschen waren zuerst Täter, bevor sie auch Opfer wurden. Analoges gilt auch für die beiden Tabus: Das Schweigen über die Täterrolle ging der Tabuisierung der Opferrolle voraus, ohne die eine in der Nachkriegszeit verdrängte Nazivergangenheit nicht aus ihrer Verdrängung hätte hervorgeholt werden können." Weil diese Erinnerungsarbeit inzwischen geleistet worden sei, meint Altmeyer, könne Deutschland nun auch seine eigenen Wunden zeigen.

Martina Meister interviewt die neue afghanische Frauenministerin Sima Samar (mehr hier), die in ihrem zerstörten Land Gewaltiges leistet, obwohl es nur langsam vorangeht. "Fernsehbilder sind oft trügerisch", erklärt Samar. "Kabul ist noch immer voller Bärte, leider, und voller Burkas." Was der Westen tun kann? "Seine Versprechen halten, den Worten auch Handlungen, und das heißt Geld folgen lassen ... Davon hängt ab, wie lange der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Afghanistan dauern wird."

Außerdem: Petra Kohse berichtet von einem IKEA-Erlebnis in Berlin-Spandau und äußert die Befürchtung, das "photoshopgenerierte Zuhausebild" der Gelbblauen könnte plötzlich auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge angewendet werden, die "Times mager"-Kolumne erklärt uns, was Naturliebe ist (sie nicht zu duzen), Christoph Schröder berichtet von einer Lesung mit Susan Sontag in Frankfurt, Alida Bremer gratuliert dem "serbo-kroatischen" Schriftsteller Bora Cosic, der in Leipzig den Preis zur Europäischen Verständigung erhält, zum 70.

Und Rezensionen widmen sich Ingrid Lausunds "Hysterikon" im Berliner Gorki-Theater, Paul Andersons Actionthriller "Resident Evil" und der H. G.-Wells-Verfilmung "The Time Machine".

FAZ, 22.03.2002

Eine Delegation des Internationalen Schriftstellerparlaments wird nach Ramallah reisen, um den palästinensischen Dichter Mahmud Darwisch zu besuchen. Juan Goytisolo, der neben Bei Dao und Wole Soyinka und anderen mitreisen wird, versteht es als Protest gegen die Politik Ariel Scharons, und der verteidigt die "verzweifelten Selbstmörder" auf der anderen Seite. "Diese Terroristen gleichzusetzen mit denen der informatisierten Fanatiker Bin Ladins wäre unangemessen und ungerecht. Die Verwendung des Begriffs Terrorist ist immer ungenau, widersprüchlich und parteiisch: Eine ganze Anzahl von Nationen, von religiösen und ideologischen Glaubensgemeinschaften hat Organisationen geschaffen, die dazu aufrufen, aus vermeintlich heiligen Gründen Zivilisten zu töten. Die Welt spaltet sich nicht in Terroristen und Antiterroristen, und die Taten der ersten werden je nach Umständen sehr unterschiedlich beurteilt."

Hinzugestellt ist ein Gedicht Darwischs:
"(...)Seufzt mein Heimweh nach irgend etwas? Mein Heimweh Legt mich fest als Mörder oder Toten..."

Dokumentiert wird Günter Grass' Rede zur konstituierenden Sitzung der Bundeskulturstiftung, die gestern in Halle stattfand: "Wir haben Substanz genug, um den immer noch vagen Begriff Nation vor Missbrauch zu schützen und mit demokratischer Erfahrung wie auch mit kultureller Vielfalt zu beleben."

Weitere Artikel: Dietmar Polaczek beschreibt die Stimmung in Italien nach dem Attentat auf den Regierungsberater Marco Biagi. Heinrich Wefing bereitet uns in einem kleinen Bericht aus Los Angeles auf die Oscar-Verleihung vor, die am Wochenende zum ersten Mal im neuen Kodak Theatre stattfinden wird. Renate Schostak stellt uns die endlich fertiggestellte neue Pinakothek der Moderne in München vor. Auf der Medienseite porträtiert Klaus Ungerer den Fernsehfilmer Stefan Krohmer, der heute Abend in Marl den Grimme-Preis entgegennehmen wird. Und Kerstin Holm erzählt, wie die kleine russische Zeitung Nowaja Gaseta, die für ihren kritischen Journalismus bekannt ist, durch Gerichtsverfahren bedrängt wird (hat man je gehört, dass westliche Journalisten ihren russischen Kollegen beispringen, denen zusehends die Pressefreiheit genommen wird?).

Auf der letzten Seite berichtet Michael Gassmann über die Rekonstruktion der Chorbibliothek Sankt Michaelis in Lüneburg, aus deren Noten einst Bach sang. Christoph Albrecht schreibt ein kleines Profil über Eric Hobsbawm, der jüngst im Spiegel-Interview vor der amerikanischen Weltherrschaft warnte. Und Rüdiger Heinze setzt uns in Kenntnis, dass deutsche Orchestermusiker eine Zulage erstritten, wenn sie zu einer amerikanischen, statt einer deutschen Trompete greifen müssen.

Besprechungen gelten einer Ausstellung französischer Meisterzeichnungen der Sammlung Butkin im Dahesh Museum New York und Stijn Cellis "Cinderalla"-Choreografie in Wiesbaden.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite erfahren wir durch Alfred Beaujean, dass das von der Gächinger Kantorei in Stuttgart ins Leben gerufene Passionsprojekt voranschreitet. Drei der vier Auftragswerke - unter anderem von Wolfgang Rihm und Sofia Gubaidulina - liegen inzwischen vor. Außerdem geht es um populäre jüdische Musik vom Anfang des letzten Jahrhundert und um eine neue CD der französischen Elektronikband Rhinocerose.