Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2002. Die NZZ beschreibt den schwierigen Generationenwechsel in den deutschen Verlagen. In der taz gibt der israelische Schriftsteller Etgar Keret eine drastische Beschreibung der Stimmung in Israel. In der SZ äußert sich Roger de Weck, in der FR Peter Glotz zum Ende der Woche.

TAZ, 08.03.2002

Der in Tel Aviv lebende Schriftsteller Etgar Keret illustriert den Zustand seines Landes, "unserer zerrissenen und gegen Gewalt immunisierten Gesellschaft", anhand eines bizarren Events, das der beliebte israelische TV-Sender Kanal 2 kürzlich auf die Mattscheiben zauberte. Auf einem geteilten Bildschirm konnten Zuschauer die Berichte über die jüngsten Terroranschläge und das samstägliche Fußballspiel parallel verfolgen. So konnte man "auf der linken Hälfte des Bildschirms den Direktor eines Krankenhauses vor laufenden Kameras sagen hören, dass sich ein 18 Monate altes Baby unter den Opfern befinde, ohne auf der rechten Hälfte Haifas kroatischen Megastar zu verpassen, wie er den Ball am Tor vorbei ins Aus schoss. Vom Ort des Terroranschlags wurden fünf Todesfälle gemeldet, aber der Spielstand im Haifa-Stadion brauchte sich dahinter nicht zu verstecken - inzwischen war ein drittes Tor erzielt worden."

Eine Menge weiterer Artikel diesmal: Rolf Lautenschläger kommentiert den Abschlussbericht der Stadtschloss-Kommission und deren "eigentliche Botschaft": eine Absage an moderne Gestaltungsfähigkeit und der Verrat moderner Architektur. Katrin Schneider berichtet von einer gegen Kinderarbeit in Marokko gerichteten Anzeigenkampagne der Hilfsorganisation Insaf. Und Besprechungen widmen sich einem Bildband des Fotografen Philipp Remele, der 1873 eine Expedition in die Libysche Wüste begleitete (siehe unsere Bücherschau um 14 Uhr), ferner neuen Platten von Nobukazu Takemura ("Sign") und Boards of Canada ("geogaddi") sowie einem Dokumentarfilm über Henker (mehr hier).

In den Tagesthemen trägt Jan Feddersen "Die Woche" zu Grabe, die nach neun Jahren eingestellt wird, und findet einen trifftigen Grund: Der Erregungsfaktor des Blattes tendierte gegen null. Und es gibt ein dickes Dossier zum Thema Frauen und Islam (hier das Editorial). Zu erfahren ist hier z.B., dass der BH nur islamisch ist, solang er "aus rein gesundheitlichen Beweggründen" getragen wird, ferner wie sich Islam und Christentum in ihrem Verhältnis zur Sexualität unterscheiden, und wie eine in England lebende Muslimin als Komikerin provoziert.

Schließlich noch Tom.

SZ, 08.03.2002

In einem Nachruf auf "die Woche" stellt Roger de Weck fest, dass Auflage und Anzeigenaufkommen eigentlich nicht der Qualität der Zeitung entsprachen. Das Blatt war "ein Stimulus: ein Spiegel, in den manch andere Redaktion schauen konnte, ohne gleich zum Schluss zu kommen, sie sei die schönste im ganzen Land." Zum Dank wurde sie von den deutschen Tageszeitungen mit Herablassung behandelt. "Der Zwerg kam besonders schlecht weg bei den Riesen, die auf ihn herabschauten: Merkt der Riese, dass seine Qualität nicht in Proportion steht zu seinem Wuchs, ärgert es ihn."

Das Gerassel des Berliner Schlossgespenstes war mal wieder bis München zu hören, als die "Expertenkommission Historische Mitte" am Mittwoch Abend in Berlin zur Diskussion lud. Jens Bisky spitzte die Ohren und fasst noch einmal die Leistung der Kommission zusammen: "An die Stelle des Grundsatzstreits Schlüter gegen die Bundesarchitektenkammer hatte sie im Interesse der Stadt, nicht der Baukunst überhaupt die kleinteilige, stückweise Entscheidung gesetzt: Nutzungskonzept, städtebauliche Einbindung, Fassadenfrage, Finanzierung. Man hat sich über alles irgendwie einigen können, nur in Sachen Fassaden gab es ein äußerst knappes Ergebnis."

Wofür sicher auch der Präsident der Bundesarchitektenkammer, Peter Conradi, mitverantwortlich ist. In einem Beitrag kritisiert er die Ergebnisse der Kommission nach Kräften: Ein Nachbau des massigen Gebäudes mit seinen monoton addierten flachen Fassaden und der überdimensionierten Kuppel sei weder städtebaulich noch kunsthistorisch erstrebenswert, schreibt er, für die vorgesehene Nutzung (u.a. für die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) sei ein Baukörper in den Maßen des ehemaligen Schlosses ungeeignet. "Ein (nachgebautes) Schloss wäre möglicherweise für eine traditionelle Gemäldegalerie geeignet, dort Südseeboote und Indianerzelte auszustellen, ist abwegig."

Vom Tarnfleckenoutfit der Spaßgesellschaft zu den ersten Body-Bags. Gustav Seibt macht sich Gedanken über das Soldatische im Land und fragt sich, wie lange die Sinngebung des Sinnlosen noch funktionieren wird. "Gewiss so lange, wie die Zahl der Opfer einstellig bleibt und jeder Tote mit einer eigenen Boulevardzeitungsseite in der Heimat empfangen werden kann. Aber wird es dabei bleiben? Die letzten zehn Jahre haben so viel zuvor Unvorstellbares gebracht, dass mit allem Möglichen zu rechnen ist. Dann wird die Ausdifferenzierung des Soldatischen als Beruf und Mode ebenso wenig ausreichen wie die Mobilisierung verschlissener patriotischer Gefühlsmuster. Für Deutschland dürfte sich zeigen: Das Land ist im Kern pazifistisch geblieben und zu Opfern wenig geneigt."

Weitere Artikel: Antje Weber berichtet über die Umstrukturierung (vulgo Stellenabbau) bei Random House. Christiane Schlötzer überlegt, ob die Türkei in der Kurdenfrage neuerdings an Liberalisierung denkt. Bernd Feuchtner verabschiedet Harry Kupfer nach 21 Jahren Chefregie an der Komischen Oper Berlin. Aus Anlass des Internationalen Frauentags erinnert Petra Steinberger an das Schicksal afghanischer Frauen. Es gibt ein Gespräch mit Harvey Keitel über seinen neuen Film "Taking Sides" und die lohnenswerte Lektüre von Wolframs "Parzival". Peter F. Barrenstein, Director bei McKinsey München, verrät, was die Kirche von der Wirtschaft lernen sollte, und Jens Bisky stellt Volker Brauns neues Stück "Limes. Mark Aurel" vor - "eines der selten gewordenen Beispiele historisch-politischen Theaters" (aktuellen Theaters auch, schließlich geht's um das Schicksal von Imperien und Barbaren!)

Besprochen werden ein Konzert mit "Mars Volta" im Berliner SO 36, Werke von Orazio und Artemisia Gentileschi im New Yorker Metropolitan Museum und Bücher: Richard Powers Roman "Schattenflucht" sowie Theodor W. Adornos Briefwechsel mit Elisabeth Lenk (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 08.03.2002

"Nachfolger verzweifelt gesucht", konstatiert Joachim Güntner in einer Tour d'horizon durch die deutsche Verlagsszene. Die Verleger altern, die Verlage werden entweder an Konzerne verkauft oder zu Stiftungen zementiert, und selbst in den Konzernverlagen gebe es Nachfolgeprobleme. Interessant seine Spekulation über Holtzbrinck, wo die Erbin Monika Schoeller sich zurückziehen könnte. Güntner sieht den Kiepenheuer & Witsch-Lektor Helge Malchow als Nachfolger: "Der ehemalige Deutschlehrer kennt das Verlagsgeschäft von Grund auf, er hat 1983 als Volontär bei Kiepenheuer & Witsch begonnen, prägte dort ein Jahrzehnt lang als Cheflektor das Programm, leitet seit dem Rückzug von Reinhold Neven Du Mont das Haus, gehört dadurch ohnehin zum Holtzbrinck-Imperium und ist mit Anfang fünfzig genau im richtigen Alter. Außerdem sagt man ihm einen ausgezeichneten Draht zu Autoren nach. Wie Alexander Fest steht er für jenen Typ von Verleger, dem man zutrauen darf, das Kontrafaktische zu leisten: Schriftstellern das Gefühl familiärer Atmosphäre selbst dort noch zu geben, wo die Strukturen dies tendenziell unmöglich machen..."

Weiteres: Ruth Wüst schickt eine Reportage über den Karneval in Trinidad. Rahel Hartmann stellt Massimiliano Fuksas' Kirchenprojekt für die Diözese Foligno vor. Besprochen werden die große Hethiter-Ausstellung in Bonn, und ein Konzert von Frans Brüggen in Zürich. In einer Meldung erfahren wir von der Stiftung eines hochdotierten Astrid-Lindgren-Preises für Kinderbücher - er wird immerhin halb so viel einbringen wie der Nobelpreis. Für Lindgren wird heute, am Tag der Frau, die Trauerfeier in Stockholm abgehalten. Auf der Filmseite porträtiert Michel Bodmer den Schweizer Regisseur Marc Forster ("Monster's Ball"), daneben gibt es eine Besprechung des Films. Und Gerhart Waeger unterhält sich mit dem bosnischen Filmautor Danis Tanovic über dessen Film "No Man's Land".

FR, 08.03.2002

Peter Glotz (mehr hier) denkt im Interview darüber nach, ob man "die Woche" hätte retten können: "Ja, sicher, wenn sich ein strategischer Investor gefunden hätte. Das Blatt war vorzüglich. Was ihm fehlte, war genügend Geld, um sich zu bewegen, um Marketing zu machen, um an die Leute heranzukommen. Leider ist diese Suche nach einem strategischen Investor missglückt."

Der Bishara-Prozess - die Dreyfus-Affäre Israels? Im Fall des israelisch-arabischen Parlamentariers Azmi Bishara, der von Israel wegen seiner israelfeindlichen Äußerungen angeklagt wurde (mehr hier), ist für Natan Sznaider was oberfaul: "Was jetzt passiert", schreibt er, "entspricht der von Marx aufgestellten Regel, dass welthistorische Ereignisse zweimal auftreten: einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Nur so kann man sich den großen Aufruf der neuen französischen Dreyfusianer erklären, die ihre Solidarität mit Bishara bekundeten. Große Namen haben unterzeichnet, Jacques Derrida etwa, und sogar Pierre Bourdieu, noch kurz vor seinem Tode." Für Sznaider ist Bishara dagegen ein "extremistischer arabischer Nationalist, der sich der globalen liberalen Rhetorik bedient, im Dienste seiner eigenen politischen Agenda."

Außerdem: Julian Nida-Rümelin streitet wieder einmal für seine Bundeskulturstiftung und erklärt in einem ellenlangen (online sogar ungekürzt zu lesenden) Artikel, wie sich Föderalismus und Bundeskultur vertragen könnten. Ursula März untersucht den neuesten Biografiekult um die Frau um die 40. Christian Thomas denkt nach über architektonische Renaissancen in Berlin, Frankfurt und Venedig. Georg-Friedrich Kühn begleitet das WDR-Sinfonieorchester (mehr hier) auf seiner Amerika-Tournee (die US-Presse fand's eher dröge), und Arnulf Herbst besichtigt La dolce vita - in einer Ausstellung über Kunst und Kultur im Rom der 50er, zu sehen im Palazzo delle Esposizioni in Rom.

FAZ, 08.03.2002

Dem Ende der Wochenzeitung Die Woche (nicht mehr hier) widmet die Medienseite der FAZ den Aufmacher. Die Gespräche mit der SPD-nahen WAZ-Gruppe, die an eine Übernahme der Zeitung dachte, sind letztlich gescheitert, berichtet Souad Mekhennet: "Letztlich sei die WAZ nicht an der Woche, sondern an einer 'feindlichen Übernahme' der attraktiven Ganske-Verlagsgruppe interessiert gewesen, warf die soeben zur Chefredakteurin berufene Sabine Rosenbladt dem Essener Konzern vor. Dort herrschte gestern eisernes Schweigen. Es war jedoch immer wieder zu hören, dass der Verlag Westdeutsche Allgemeine Zeitung sich gern bei Ganskes attraktiven Zeitschriften engagiert hätte, um auf diesem Markt Fuß fassen zu können. Dazu war Thomas Ganske nicht bereit." Eberhard Rathgeb porträtiert zudem den Verleger Thomas Ganske vom Jahreszeiten-Verlag, der die Woche nach jahrelanger Subvention aufgab.

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier resümiert neue Diskussionen zwischen Bund und Ländern über Bundeskulturstiftung und "Entflechtung" kulturpolitischer Aufgaben. Klemens Ludwig informiert uns, dass der Dalai Lama gedenkt, sich außerhalb Tibets zu reinkarnieren - auf diese Weise bleibt seine neue Verkörperung dem chinesischen Einfluss entzogen. Niklas Maak resümiert eine Berliner Podiumsdiskussion über den Wiederaufbau (oder nicht) des Berliner Stadtschlosses. Christoph Markschies, Professor für Historische Theologie, skizziert einige umstrittene Vorschläge zur Reform der Evangelischen Kirche in Deutschland. Klaus-Dieter Lehmann von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz schildert am Beispiel der Sammlung Max Silberbergs Schwierigkeiten bei der Rückgabe von Kunst aus ehemals jüdischem Besitz. Hubert Spiegel gratuliert dem Germanisten Walter Hinck zum achtzigsten Geburtstag.

Ferner kommt Bettina Erche in einem Artikel zur Hochschulreform zu der Erkenntnis, dass die "Abschaffung der Habilitation an die Wurzeln individueller Gedankenfreiheit" rührt. Niklas Maak macht sich auf der letzten Seite Gedanken über die Architektur von Hundehütten und Tierhäusern in Zoos. Und Paul Ingendaay meldet, dass die Spanische Bischofskonferenz den Seligsprechungsprozess für die Königin Isabella wieder aufgenommen hat - für jene Königin also, die für die Vertreibung der Mauren und Juden verantwortlich war. Auf der Medienseite erzählt Michael Hanfeld, wie der Pressesprecher des nordrhein-westfälischen Innenministers versuchte, einen Journalisten zu desavouieren. Und "S.K." schreibt ein kleines Profil über den Bertelsmann-Manager Manfred Harnischfeger, der als ZDF-Intendant im Gespräch ist.

Besprochen werde die Ausstellung "Art & Economy" in Hamburg (mehr hier), zwei Irving-Penn-Ausstellungen im New Yorker Moma (Akte) und Whitney-Museum (Tanz), die Ausstellung der Lackkunst-Sammlung Marie Antoinettes im Museum für Lackkunst in Münster, das neue Programm des Düsseldorfer Kom(m)ödchens, der neue "Asterix"-Film, eine Münchner Ausstellung zu Marieluise Fleißer im Literaturhaus, ein Konzert der portugiesischen Band Madredeus auf Deutschlandtournee und das neue Rathaus der Stadt Utrecht.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um das von Bluesmusikern nachgespielte Weiße Album, um nachgelassene Songs von Joey Ramone und um eine Mendelssohn-CD des Alban-Berg-Quartetts.