Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2002. In der SZ wird heftig über Heinz Schlaffers allzu "Kurze Geschichte der deutschen Literatur" gestritten. Die NZZ bereitet uns auf eine Dreihundertjahrfeier vor: Wird Sankt Petersburg wieder russische Hauptstadt? Die taz konstatiert eine auffallende Großmut zwischen Kunst und Wirtschaft. Die FAZ verzeichnet eine neue Milde im drakonischen Rechtssystem von Kalifornien - schon weil es so teuer ist.

FAZ, 05.03.2002

Im kalifornischen Rechtssystem gilt die sogenannte "Drei-Sünden-Regel". Wer zum dritten Mal straffällig wird, kommt lebenslang ins Gefängnis, auch wenn er zuletzt nur Ladendiebstahl beging. Inzwischen verzeichnet Heinrich Wefing aber eine "Wiederentdeckung der Nachsicht", die durch die jüngsten Kriminalstatistiken befördert werde. "Schon seit mehreren Jahren sinkt die Zahl der Verbrechen in Kalifornien, stärker sogar noch als im Durchschnitt der Vereinigten Staaten, während zugleich, absurd genug, die Häftlingszahlen weiter stiegen: Immer weniger Straftaten wurden immer unnachsichtiger geahndet." Auch ökonomische Gründe spielen eine Rolle: "Schon heute gibt der Staat Kalifornien mehr für seine Haftanstalten aus als für seine höheren Schulen: gut viereinhalb Milliarden Dollar."

Braucht Berlin wirklich noch ein Rosa-Luxemburg-Denkmal? Die rot-rote Koalition hat es so gewollt, aber inzwischen kommen der SPD Bedenken, meldet Jürgen Kaube. Und er ahnt schon, wie eine nun einzurichtende Geschichtskommission diskutieren wird. "Ja, Rosa Luxemburg war eine Lichtgestalt des Sozialismus. Nein, sie war keine Demokratin. Ja, aber Bismarck-Denkmäler gibt es auch. Nein, sie hat die Sozialdemokratie einen stinkenden Leichnam genannt. Ja, aber sie hat die Widersprüche ihrer Zeit 'gelebt'. Nein, sie hat die Freiheit Andersdenkender nur so lange hochgehalten, wie es ihr recht war. Ja, aber man muss sie im Kontext ihrer Epoche sehen."

Weitere Artikel: Über einen Höhepunkt bizarrer Grausigkeit im Nahostkonflikt berichtet Joseph Croitoru - rechtsextreme israelische Siedler stecken Leichenteile palästinensischer Selbstmordattentäter in Schweinehäute, damit sie "unrein" werden und um ihre Himmelfahrt betrogen werden. Aber islamische Theologen reagieren gelassen: Die Heiligkeit ihrer Mörder ist unantastbar. Enrico Santifaller stellt den neuen Würzburger Kulturspeicher der Architekten Brückner und Brückner vor. Pia Reinacher berichtet über neue und alte Probleme bei der Stiftung Pro Helvetia. Robert von Lucius annonciert die Einrichtung eines Holocaust-Zentrums in Norwegen. Andreas Rossmann resümiert ein Bonner Kolloquium über den Bergbau. Heinz Ludwig Arnold schreibt zum Tod des Schriftstellers Friedrich Gorenstein. Auf der Medienseite bespricht Heike Hupertz den Auftritt von Monica Lewinsky im Sender HBO, und Michael Hanfeld stellt die neue Vorabend-Fernsehserie "Berlin, Berlin" vor (die trotz des Titels offensichtlich ohne Günther Pfitzmann auskommt). Auf der Bücher-und-Themen-Seite wird ein Vorwort Georg Kleins zu einer Neuausgabe des "Steinernen Herzen" von Arno Schmidt abgedruckt. Auf der letzten Seite erzählt Arnold Bartetzky über Leipziger Bestrebungen, alte Leuchtreklamen der DDR zu erhalten. Und Matthias Oppermann porträtiert die Sachbuchagentin Christine Proske.

Besprochen werden eine Ausstellung über Burgunder Teppiche in Bern, Raoul Schrotts "Gilgamesch"-Fassung im Wiener Akademietheater, ein Auftritt des WDR-Sinfonieorchesters unter Semyon Bychkov in New York, Richard Farbers Oper "Operation Mitternacht" in Bonn und Shakespeares "Sommernachtstraum" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

NZZ, 05.03.2002

Im nächsten Jahr wird Sankt Petersburg den 300. Jahrestag seiner Gründung begehen. Die Stadt befindet sich im wirtschaftlichen Niedergang, und die Bausubstanz ist marode - und darum werden immer öfter Forderungen laut, sie wieder zur Hauptstadt zu machen, erzählt Felix Philipp Ingold. Auch über Peter den Großen wird nachgedacht. Ingold zitiert aus einen kritischen Text der Historikerin Olga Tschaikowskaja in der Literaturnaja Gaseta: "Russland war für ihn eine Staatsmacht und kein Land. Fast will es scheinen, als wäre Russland für ihn nicht mit Menschen bevölkert, sondern lediglich ein Nährgrund für all das gewesen, was der Staat benötigte, darunter Soldaten, Landarbeiter, Matrosen, Kaufleute, Handwerker - jene also, die man in den Krieg schicken oder denen man (und sei's unter der Folter) die dazu benötigten Abgaben und Steuern abpressen konnte."

Weiteres: Hanno Helbling berichtet über die Einrichtung katholischer Bistümer in Russland, die auf empörte Reaktionen der orthodoxen Kirche stößt. Besprochen werden eine Ausstellung zur Architekturfotografie in Karlsruhe, Verdis "Falstaff" im Theater Basel, Raoul Schrotts "Gilgamesch"-Stück in Wien, Joseph Kesselrings "Arsen und Spitzenhäubchen" im Stadttheater Bern und einige Bücher, darunter Elke Naters' neuer Roman "Mau Mau" und Erzählungen von Anna Enquist. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FR, 05.03.2002

Anatolij Koroljow zieht eine Art "Alltagsbilanz" nach zwei Jahren Putin. Die Putin häufig attestierte Humorlosig- und Mittelmäßigkeit sieht Koroljow pragmatisch-gelassen: "Nach der Reihe charismatischer, für Russland zerstörerischer Führer wie Gorbatschow und Jelzin macht gerade der Mangel an dämonischen Charaktereigenschaften und großen Ambitionen Putin annehmbar für Millionen. Er ist so wie wir! Und das beruhigt." Darüber hinaus fällt sein Urteil eher gedämpft aus: "Was hat Putin bisher Bedeutendes getan? Er hat sein Wort gehalten, die Kursk zu heben: ein von einer Explosion verkrüppeltes Atom-U-Boot mit einer abgerissenen Nase und voller Leichen. Das ist das Symbol des heutigen Russlands, das langsam vom historischen Grund auftaucht als atomares Schiffsgrab ohne Ton und Licht."

Gabriella Vitiello empfiehlt die frisch restaurierten Fresken in den Thermen von Pompeji zur Besichtigung: "Von den ursprünglich sechzehn erotischen Abbildungen sind noch acht erkennbar. Die erotischen Fresken lesen sich wie ein Katalog der sexuellen Dienstleistungen. In einem erotischen Crescendo zeigen sie mögliche Positionen und Stellungen des Liebesspiels, zu zweit, zu dritt, Fellatio, Cunnilingus, Coitus a Tergo, bis hin zur fast akrobatischen Vierer-Konstellation, die zudem die einzige überlieferte Abbildung lesbischer Liebe ist. Den Abschluss des Reigens bildet die einsame Figur des nackten Poeten, der wohl nicht zufällig an einer krankhaften Vergrößerung des Skrotums leidet." Sehr schöne Skizzen zur Anlage der Stabianer Thermen bietet die Kantonsschule Zürich Unterland. Hier geht's zur Seite der italienischen Archäologen (das Wackeln des Bildes liegt nicht an Ihrem Computer). Viele weitere Links zu Ausgrabungen finden sich bei der Bradford University.

Weitere Artikel: Der Historiker K. Erik Franzen (mehr hier) erklärt uns, was es mit den sogenannten Benes-Dekreten auf sich hat, die bei der Vertreibung der Deutschen eine wichtige Rolle spielten und deshalb derzeit den EU-Beitritt Tschechiens gefährden. Jürgen Berger informiert über die Novellierung des neuen Stiftungrechts, mit dem die Kulturpflege angekurbelt werden soll. Der Präsident der Bundesarchitektenkammer und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi erläutert im Interview sein Plädoyer für einen Architekturwettbewerb für das Berliner Stadtschloss. Helmut Höge und sein mongolischer Kollege Batjargal untersuchen Bedeutung und Rolle des zaristischen Offiziers "Baron Ungern von Sternberg im Geschichtsbild der äußersten Mongolei". In der Kolumne "Times mager" werden die bayrischen Kommunalwahlen kommentiert ("alles Lemminge" oder so ähnlich). Außerdem zu lesen: eine Würdigung des verstorbenen russischen Schriftstellers Friedrich Gorenstein.

Besprochen werden die Uraufführung der "Gilgamesh"-Nachdichtung von Raoul Schrott am Wiener Akademietheater, Yasmina Rezas viertes Theaterstück "Der Mann des Zufalls" am Berliner Renaissancetheater, die Neuauflage von Al Greens "Let's Stay Together" und Songs von Otis Redding und Rem KolhaasStudie über "Shopping".

TAZ, 05.03.2002

Ein fast reines Rezensionsfeuilleton heute, aber ein unterhaltsames. Brigitte Werneburg hat die Ausstellung "Art & Economy" in den Hamburger Deichtorhallen (mehr hier) besucht, in der "trotz der teilweise sehr komplex angelegten Arbeiten" eine "ungemein aufgeräumte, frische und saubere Atmosphäre" vorherrscht. Sie konstatiert eine "auffallende Großmut auf beiden Seiten. Die Wirtschaft will in der Kunst nicht nur das Repräsentationsinstrument schlechthin für ihr vieles Geld sehen, das als Geld eben immer etwas unansehnlich ist; und die Unternehmen möchten nicht nur solche Kunst fördern, die unmittelbar dem Konzept ihrer Corporate Identity entspricht und ihrer Außendarstellung dient."

Daniel Bax berichtet von einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing zum Thema "Frauen und Fundamentalismus", auf der Alice Schwarzer die Expertin gab und vor "unreflektierter Fremdenliebe" warnte. Und Helmut Höge hält ein Plädoyer für die Insolvenz als "zivilisatorischen Fortschritt in Theorie und Praxis", vor allem wohl in der privaten Praxis: "Mir wollte zum Beispiel das Finanzamt gerade das Honorar für diese Kolumne pfänden - es liegt jedoch mit 55 Cent pro Zeile deutlich darunter."

Rezensiert werden der Roman "Das Aquarium" von Thommie Bayer, ein Sammelband mit sämtlichen Stücken der englischen Dramatikerin Sarah Kane und ein Finanzthriller von Michael Ridpath. Im Ressort Politisches Buch bespricht Heide Platen Ulrike Heiders Erinnerungen an ihre wilden Jahre in der Frankfurter Sponti-Szene, Wolfgang Gast rezensiert ein Buch über "Die braunen Wurzeln des BKA", und Hannes Koch stellt ein Plädoyer für das "Ende der Risikospirale" und die "Zivilisierung der New Economy" vor.

Und hier TOM.

SZ, 05.03.2002

So nicht! Martin Mosebach (mehr hier) widerspricht zornig Ulrich Raulffs enthusiastischer Besprechung von Heinz Schlaffers Kurzer Geschichte der deutschen Literatur. Lauter Klischees und fragwürdige Thesen findet Mosebach bei Schlaffer, "herablassend schreibt er von 'den Stifters und Mörikes und Eichendorffs' - allein dieser Plural sollte ein gerichtliches Nachspiel haben", und wen der Mann alles nicht erwähnt hat! Heimito von Doderer, den Struwelpeter, Richard Wagner, Johann Georg Hamann, Dialektdichter, Schopenhauer und Nietzsche. Offenbar sei Schlaffer frustriert, dass in der deutschen Literatur "ausschließlich Geister zweiten Ranges" die "radikale Aufklärung" pflegten, meint Mosebach. "Es mag ihm mit der Germanistik gehen wie Prousts Monsieur Swann mit seiner einstigen Liebe Odette, als er erkennt, dass er seine ganze Leidenschaft für eine Frau verschwendet hat, 'die nicht sein Genre war'."

Ilija Trojanov (mehr hier) analysiert die Unruhen in Indien und meint, dass sie mit religiösem Hass wenig zu tun haben. "Diese Fixierung auf das Offensichtliche übersieht die vielfältigen sozialpolitischen Hintergründe der Gewalt; sie vermag nicht zu erkennen, dass innerhalb der vorherrschenden Machtkämpfe Glaube längst als Ideologie neu definiert worden ist, die bestimmten Gruppeninteressen zu dienen hat. Durch ihre Simplifizierungen arbeiten die Medien den Ideologen in die Hände, die homogene Identitäten ('der Hindu', 'der Moslem') konstruieren, um diese dann aussondern und angreifen zu können."

Weitere Themen: Jonathan Fischer thematisiert das "neue afrodeutsche Bewusstsein in Politik und Pop-Kultur". Christian Möller berichtet über diverse Werbekampagnen der evangelischen Kirche, die unter dem Motto 'raus aus dem Kommunikationsghetto' bisher bestenfalls für Erheiterung sorgen. Im Rahmen der SZ-Serie "Museumsinseln" steht diesmal das Landesmuseum Hannover auf dem Plan, das "die entlegensten Sammlungen" unter einem Dach vereint. Wir lesen einen Nachruf auf den russischen Dichter Friedrich Gorenstein (mehr hier), Fritz Göttler unternimmt einen Streifzug durch internationale Journale, Hermann Unterstöger stimmt verlässlich verwickelt auf den Gabi-Bauer-Talkshow-Start am Mittwoch ein (mit Gedicht!), und Hubert Filser rezensiert die aktuelle Werbebroschüre "Familienidylle" von H & M. In der Kolumne "Blickwechsel" geht es unter dem Titel "Stadt, Land, Stuss" nachlesend um die bayrischen Kommunalwahlen, außerdem erfahren wir, wie Hans Magnus Enzensberger die Norweger beleidigt hat. Gemeldet wird schließlich noch die Verleihung des Leibnizpreises der Deutschen Forschungsgemeinschaft an den Volkskundler Thomas Hengartner.

Besprochen werden eine Ausstellung amerikanischer Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts in der Londoner Tate Britain, eine "verklebte" Inszenierung des "Sommernachtsstraums" am Hamburger Schauspielhaus, die Uraufführung von Raoul Schrotts "Gilgamesh"-Nachdichtung am Wiener Akademietheater, ein gescheiterter "Fidelio" an der Deutschen Oper Berlin, ein "Falstaff" als "Triumph ohne Chefdirigentin" am Theater Basel und Bücher, darunter die Erziehungsfibel "Konsum-Kinder" von Gerlinde Unverzagt und Klaus Hurrelmann (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)