Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.02.2002. Die NZZ fragt nach der Seelenlage der amerikanischen Intellektuellen im Krieg. In der SZ verteidigt Richard von Weizsäcker seine Familie und Arnold Schwarzenegger zitiert Nietzsche. Die taz erhebt literarische Einwände gegen Günter Grass' neue Novelle. in der FR lobt Stuckrad-Barre einen "bezaubernden Bruchteil" seiner Generation, nämlich sich.

TAZ, 20.02.2002

Kempowski, Kluge oder Grass? "Eigenartiges Wettrennen", kommentiert Dirk Knipphals die (schrecklich öde) Grass-Debatte. "Gibt es mit der Erstbeschreibung deutscher Ertrinkender im Zweiten Weltkrieg mittlerweile Preise zu gewinnen?" Sofern es sich bei der Novelle "Im Krebsgang" allerdings doch um ein literarisches Unternehmen handelt, hat Knipphals einiges einzuwenden: Lose Fäden an allen Ecken und Enden, zu viele Platitüden, mangelndes Interesse des Autors an seinen Figuren... "Wahrscheinlich ist es gut, einfach mal hinzuschreiben, dass dies nicht das große 'Gustloff'-Buch ist, das man nach allem, was in den vergangenen Tagen zu hören war, erwarten mag. Dies ist zum einen ein literarisch tapeziertes historisches Feature rund um die Versenkung eines Schiffes, die 7.000 Tote forderte ... Zum anderen aber ist es ein oberflächliches Traktat darüber, wie die NS-Ideologie immer wieder an die gesellschaftliche Oberfläche kommt. Zum Dritten ist es eine seltsam verrutschte, immer wieder nur angerissene und im Ganzen erzählerisch versenkte Familiengeschichte."

Weiteres: Stefan Kuzmany findet, dass die neuen Enterprise-Folgen ein realitätsnahes Bild der amerikanischen Außenpolitik entwerfen ("Die Menschen haben den Warp-Antrieb, und niemand soll ihnen jetzt mehr dumm kommen"), und Manfred Hermes konstatiert die Rückkehr des ideologischen Kinos im neuen Schwarzenegger-Film "Collateral Damage".

Schließlich Tom.

SZ, 20.02.2002

In der SZ nimmt Richard von Weizsäcker Stellung zu Gustav Seibts Artikel vom 11. Februar: "Wege in der Gefahr. Eine deutsche Familie in ihrem Jahrhundert: die Weizsäckers". Weizsäcker ist, um es mal so zu sagen, nicht ganz einverstanden mit Seibts "Pauschalurteilen" über seine Familie, etwa über ihre vermeintliche Immunität im Fall eines Atomkriegs unter Hitler. Familiensagas und menschlich gerechte Urteile über die Personen seien nicht dasselbe, so Weizsäcker. Mehr als einer aus seiner Familie habe sich in diesem Jahrhundert "immer von neuem für 'Wege aus der Gefahr' eingesetzt. Ob er sich dabei bewährt oder versagt, liegt an ihm, nicht am angeborenen Namen ... er weiß, dass es eben auch für Familien weder Kollektivleistung noch Kollektivschuld gibt, weder Bonus noch Stigmatisierung".

Im Interview zu seinem nach einem halben Jahr Schonfrist nun doch über uns hereinbrechenden Film "Collateral Damage" (hier die Besprechung) erzählt Arnold Schwarzenegger, wie er den Terror mit guter Ernährung kleinkriegen will. Und er zitiert Nietzsche: "Nietzsche hat gesagt: Jeder Schlag hat eine Abwehr."

Der Erlanger Germanist Theodor Ickler wundert sich einmal mehr über die Undurchsichtigkeit des mit der Rechtschreibreform staatlich verordneten Babels. Für Ickler bleiben nicht nur die ursprünglichen Neuerungen rätselhaft, ja sinnverstellend, die späterhin durchgeführten Revisionen bei von der Reform angeblich ausgenommenen Fachsprachen (in Gesetzestexten etwa) haben seiner Meinung nach die Konfusion wiederum vergrößert. Zumindest den Behörden empfiehlt Ickler, mit der Umarbeitung aller Gesetzes- und Verwaltungstexte zu warten, "bis der Rückbau der Rechtschreibreform zu einem wenigstens vorläufigen Abschluß gekommen ist."

Weitere Artikel: Holger Liebs kündigt an, dass die britische Künstlerin Tacita Dean (mehr hier) heute auf der ersten Seite des SZ-Feuilletons ein Kunstprojekt gestaltet hat (das wir im Netz nicht sehen können). Wolfgang Schreiber verrät, warum Riccardo Chailly Gewandhauskapellmeister in Leipzig wird. Andrian Kreye weiß von einer Symphonie über den Terror vom 11. September, an der John Adams gerade arbeitet. Für die "Museumsinseln" besucht Gustav Seibt das "Museo Storico della Liberazione" (hier ein Bild) in Rom, Annette Lettau freut sich über Johann Friedrich Overbecks Vorzeichnung zu dem Bild "Italia und Germania", das derzeit in Münchens Neuer Pinakothek zu sehen ist. Detlef Esslinger berichtet von dem kurzen Prozess gegen den Kasseler Oberbürgermeister Georg Lewandowski, der Gustav Langes documenta-"Treppe ins Nichts" abreißen ließ.

Besprochen werden Christophe Gans' Horrorfilm "Pakt der Wölfe", William Forsythes neues Ballett "The Room as It Was" in Frankfurt, ein Stuttgarter Symposion über die Moderne in der arabischen Kultur, außerdem Musik: ein Klavierabend mit Anna Gourari im Münchner Herkulessaal, eine (die wievielte?!) Hommage an Astor Piazolla von den "fabelhaften Gitarrenbrüdern" Sergio und Odair Assad auf CD, Neues vom finnischen Komponisten Esa-Pekka Salonen (mehr hier). Und schließlich Lektüre: u.a. der zentnerschwere "Gramophone Classical Good CD Guide 2002", Giorgio Agambens langerwarteter Essay über den "Homo sacer", der feinfühlige Debütroman der Holländerin Maya Rasker sowie eine kleine Biografie der großen Physikerin Lise Meitner (auch in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FR, 20.02.2002

Die FR druckt ein Gespräch mit dem amerikanischen Philosophen Michael Walzer (mehr hier und hier), der zu den Unterzeichnern des "What we're fighting for"-Dokuments gehört, eines Aufrufs für eine "bewaffnete Verteidigung" der Vereinigten Staaten und für eine Unterstützung von Präsident Bush. Walzer legt darin eine eher gemäßigte Position an den Tag, indem er etwa fordert, "dass uns bei allem Reden über den Krieg das politische und damit auch das moralische Vokabular nicht abhanden kommt", oder einräumt, "dass auch in den Vereinigten Staaten nicht alles zum Besten steht und dass es auch in unserem Land noch sehr viel zu tun gibt". Eigenartig klingt es wiederum, wenn Walzer solche Selbstkritik als "rhetorische und politische Strategie" bezeichnet, die "bisweilen notwendig" sei.

In einem anderen Artikel zieht Peter Wagner, Professor am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, eine Parallele zwischen dem vor hundert Jahren einsetzenden Klassenkampf und den im Zuge der Globalsierung entstehenden Konflikten unserer Tage. Damals wie heute gehe es nicht einfach um eine Umverteilung von Ressourcen, die Ungleichheit abbaut, so Wagner, sondern um unterschiedliche Perspektiven auf Gerechtigkeit, Freiheit und eine gute Gesellschaft. Hilfreich sei heute wie ehedem "in erster Linie ein Umdenken, nämlich die Bereitschaft, sich etwas anderes als die völlige Vernichtung oder Niederhaltung des Gegners als einen akzeptablen Ausgang aus dem Konflikt vorzustellen".

Weitere Artikel: Benjamin von Stuckrad-Barre (mehr hier) spricht im Interview über sein neues Buch "Deutsches Theater" und versucht eine Antwort darauf zu finden, warum junge Menschen seine Bücher lesen: "... nicht weil es Bücher für diese Generation sind, sondern Bücher von dieser Generation, und zwar von einem bezaubernden Bruchteil dieser Generation - nämlich von mir." Hannelore Schlaffer resümiert die Frankfurter Design-Messe "Ambiente", Peter Iden ist entzückt von Giulia Lazzarinis Comeback in Arthur Millers "Alle meine Söhne" im norditalienischen Cesena, Mathias Wedel beklagt das Aussterben der Ossi- und Wessiwitze, und Jörn Klare denkt über das Nachtleben von Tel Aviv nach und erkennt darin "die trotzige Behauptung einer Form von Normalität, die es unter den aktuellen politischen Bedingungen nicht geben kann".

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "Die Visionen des Arnold Schönberg - Jahre der Malerei" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, Sarah Kanes "4.48 Psychose" in Wien, Scott McGehees und David Siegels Ophüls-Remake "The Deep End" sowie einer Werkfolge des Turner-Preisträgers Douglas Gordon im Kunsthaus Bregenz.

NZZ, 20.02.2002

In einem Artikel über Amerikas Intellektuelle in Zeiten des Krieges berichtet Andrea Köhler über die angeblich "unterdrückte Fraktion der Kriegsbefürworter" an amerikanischen Universitäten. Der konservative patriotische Akademikerverein ACTA - American Council of Trustees and Alumni (Budget: fast 3 Milliarden Dollar) hat eine schwarze Liste (pdf) antiamerikanischer Statements veröffentlicht, um einer Entwicklung entgegenzuwirken, die, so der Verein selbst "nicht die Stimmung gegen die Terroristen, sondern gegen Amerika schürten." Empörung löste diese Offensive bei bekannten amerikanischen Intellektuellen, wie etwa Edward Said und Reverend Jesse Jackson aus. Köhler findet die List "eher ridikül", kritisiert aber die "Anheizung einer Atmosphäre, in der nahezu jede Äußerung - zum Teil gegen die in ihr angelegte Intention - als antiamerikanische Agitation lesbar wird".

Weitere Artikel: Urs Hafner berichtet von der kürzlich in Zürich abgehaltenen Tagung zum "Stand der Geschlechterrolle". Milo Rau analysiert das alles andere als nur "schnelle, trashige Großstadttheater" des Rene Pollesch, und Georges Waser schreibt einen Nachruf auf den abstrakt gestaltenden Bildhauer Kenneth Armitage.

Besprochen werden die Ausstellung "Das Tier in mir" in der staatlichen Kunsthalle Baden-Baden. Es geht dabei um das Bild, das der Menschen sich von seinen tierischen Gefährten macht und in wieweit diese "Ebenbilder" zur Selbstdefinition dienen. Um "Je zwei Rosinen " aus dem Bereich der Kammermusik handelt es sich bei den CDs mit Werken von Joachim Raff und Heinrich von Herzogenberg. Und ein kurzer Blick auf die derzeitige Schweizer Musiklandschaft zeigt, dass sich die Schweiz im Bereich der Neuen Musik schon lange nicht mehr verstecken muss. Besprochen werden weiter Bücher, darunter die "Topographien der Nation", eine Geschichte der Schweizer Kartographie und das Metzler-Lexikon amerikanischer Autoren (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 20.02.2002

Ganzseitig kämpft der Romanist Karlheinz Stierle für den "Eigensinn der Geisteswissenschaften". Er beklagt zunächst den immer stärkeren Einfluss der Ökonomie auf die Universität, der ihre Unabhängigkeit beschneide, begründet dann die "radikale Differenz" zwischen Studium der Geisteswissenschaft und Wissenschaft von der Natur und verteidigt schließlich die historischen und Kulturwissenschaften, als drohten sie morgen abgeschafft zu werden: "Die Zeit ist Europas vierte Dimension. Europa geht in der Horizontalität globaler Projekte und Netze nicht auf, seine Vergangenheit bis hin zu seinen fernsten Ursprüngen ist noch immer ein Teil seiner gegenwärtigen Wirklichkeit. Wissenschaft ist so global wie weltlos."

Karol Sauerland berichtet, dass die Arbeit der polnischen Gauck-Behörde, des "Instituts für nationales Gedenken", kaum dass es eingerichtet wurde ist, schon wieder eingestellt zu werden droht: " Im Sejm, in dem die Postkommunisten seit dem Herbst vorigen Jahres die stärkste Partei sind, hat eine entsprechende Kommission vor zwei Wochen vorgeschlagen, im Rahmen der Einsparungen im Haushaltsplan die Gelder für die Tätigkeit des Instituts radikal zu kürzen... Gegen die geplanten Kürzungen haben bereits bekannte Schauspieler, Regisseure, Wissenschaftler und Politiker in einem offenen Brief protestiert. Die Tätigkeit des Instituts würde damit prinzipiell in Frage gestellt, denn die Sicherung und Sichtung der Akten müssten vorläufig eingestellt, zahlreiche Angestellte entlassen werden."

Weiteres: Andreas Platthaus schreibt ein liebevolles Porträt des New Yorker Comiczeichners Ben Katchor, der zur Zeit mit einem Stipendium in Berlin weilt ? er sei unter anderem ein Chronist der deutsch-jüdischen Emigration in seiner Stadt, erzählt Platthaus, der es um so sträflicher findet, dass noch nichts von ihm übersetzt ist. Ulf von Rauchhaupt hat der Eröffnung einer Ausstellung über Werner Heisenberg als Wissenschaftspolitiker in Bonn beigewohnt. Henning Ritter erinnert an das Buch "Ein Bericht aus Ost- und Westpreußen 1945-1947 - Aufzeichnungen von Hans Graf von Lehndorff", das in den sechziger Jahren zu einem der wenigen Bestseller wurde, die die Vertreibung zum Gegenstand haben. Oliver Tolmein erzählt von einem amerikanischen Rechtsstreit über medizinische Versuche an Menschen ? die Berufung der Opfer auf den "Nürnberger Ärztekodex" von 1946 wurde vom Gericht nicht zugelassen, Tolmein fürchtet Folgen für die gesamte Medizin in den USA.

Ferner schreibt Walter Haubrich einen Nachruf auf Jose Ortega Spottorno, den Gründer von El Pais. Michael Gassmann schildert den Fortgang des Streits um die Orgel, mit der die wiederaufgebaute Frauenkirche zu bestücken ist. Dirk Bennett schreibt zum Tod des britischen Bildhauers Kenneth Armitage. Dietmar Polaczek schildert die Schwierigkeiten der Mailänder Scala im Teatro degli Arcimboldi, dem Neuabu, den sie für einige Jahre bezogen hat. Andreas Rossmann fürchet Kürzungen im nordrhein-westfälischen Kulturetat. Auf der letzten Seite erfahren wir von Roland Kany, dass der Vatikan Dokumente zum Dritten Reich freigibt. Und Christoph Albrecht schreibt ein kleines Porträt des brandenburgischen Politikers Alwin Ziel, der mit seinem Plädoyer für ein Bundesland Preußen die Aufmerksamkeit der FAZ auf sich zog.

Auf der Medienseite erzählt Monika Osberghaus, dass die Kinderzeitschrift Geolino wegen des Abdrucks einer umstrittenen Unicef-Kampagne gegen Gewalt gegen Kinder in Schwierigkeiten geriet. Stefan Niggemeier resümiert ein kleines, vom ZDF veranstaltetes Symposion zur Reaktion der Fernsehsender am und auf den 11. September. Souad Mekhennet erzählt Neues über ein Video mit bin Laden, das zum Streit zwischen CNN und Al Dschasira geführt hatte. Und auf der Stilseite hält Jürgen Dollase ein Plädoyer für das kenntnisreiche Schlemmen.

Besprochen werden eine Pariser Ausstellung mit Fotografien aus den 1850er Jahren, die vom Verfall bedrohte Bauwerke dokumentieren sollten, die Ausstellung "Gold. Magie - Mythos - Macht" in der archäologischen Staatssammlung in München, Verdis "Don Carlo" in Leipzig, der französische Kinothriller "Pakt der Wölfe" von Christophe Gans (mehr hier) und die Ausstellung "Das Tier in mir" in der Kunsthalle Baden-Baden.