Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2002. Drei Namen dominieren die heutigen Feuilletons: Tom Tykwer, Michel Houellebecq und Marcel Reich-Ranicki. Tykwer schimpft in der Zeit auf "diese Drecksdrehbücher". Michel Houellebecq wurde von der FAZ beim Küssen einer (schönen!) Frau beobachtet und erklärt in der SZ, was er an Frankreich "grotesk" findet. Marcel Reich-Ranickis Solo fanden die meisten so lala.

FAZ, 07.02.2002

Wie war er nun, der Hoffnungsträger des deutschen Films? Michael Althen scheint recht angetan von Tom Tykwers "Heaven" - oder will er ihn nur nicht verreißen? "Schon bald stellt sich heraus", schreibt er, "dass in diesem Gemisch aus amerikanischem Geld, italienischen Schauplätzen, polnischem Drehbuch, australischer Hauptdarstellerin und deutschem Stab vor allem eines hervorsticht - und das ist der Ausdruckswille des Regisseurs, der in diesem Kuddelmuddel seine persönliche Handschrift durchsetzt und sein bisheriges Werk nahtlos fortschreibt." Ist ja schon mal was. Eine ganze Seite ist übrigens dem Fesitval gewidmet. Es gibt ein Berlinale-ABC. Michael Althen stellt die Kalifornien-Filme James Bennings vor. Und in einem Artikel zur Sechziger-Jahre-Retrospektive geht es um die Filme "Rote Sonne" und Pierrot le fou".

Die FAZ möchte Michel Houellebecqs neuen Roman "Plattform" ja nicht mehr "für Deutschland" rezipieren, nachdem sie jüngst schon die französische Ausgabe besprach. Aber Houellebecq ist auf Lesetour, und das ließ sich Volker Weidermann nicht entgehen: "Er schlurft voran, den Kopf gebeugt, die Schultern schwer. Er hebt den Kopf und strahlt. Er hat eine junge Frau, eine sehr schöne Frau in der Menge entdeckt, läuft auf sie zu, nimmt ihren Kopf zwischen die Hände, küsst sie, schaut ihr tief in die Augen und lässt den Kopf gar nicht mehr los. Eine etwas peinliche Situation für die schöne Frau, alle schauen auf das Sekunden-Liebespaar, bis der Dichter sie freigibt und strahlend und allein weiter Richtung Bühne strebt." Welcher deutsche Dichter würde so etwas tun?

Weiteres: Ernst-Ludwig Winnacker von der Deutschen Forschungsgemeinschaft äußert sich im ganzseitigen Interview mit Christan Schwägerl nicht unzufrieden mit der Stammzellentscheidung des Bundestags. Jürgen Kaube nimmt eine Stellungnahme der Wirtschaft zur deutschen Schule auseinander - "die Wirtschaft verwechselt die Schule mit einem Trainingslager". Auf der Medienseite porträtiert Michael Martens den Journalisten Ahmed Rashid, dessen Buch über die Taliban so einflussreich war. Paul Ingendaay fand "Marcel Reich-Ranicki solo" zu solo. Jörg Hahn fragt, was die Olympiade im Fernsehen kostet. Und Michael Hanfeld warnt angesichts der Kirch-Krise: "Rupert Murdoch ante portas". Auf der letzten Seite befasst sich Irene Bazinger mit der Lage des Kindertheaters in Berlin. Und Hans-Dieter Seidel empört sich über die Art und Weise, wie die Leiterin des Saarbrücker Ophüls-Festivals Christel Drawer vor die Tür gesetzt wurde.

Ferner resümiert Tilman Spreckelsen einen Vortrag Peter von Matts über "Theorie und Praxis der Intrige in der Literatur". In Carl Zuckmayers (von Marcel Reich-Ranicki solo so gelobter) Geheimdienstkolumne geht's um Hans Albers. In einer Meldung lesen wir, dass sich Günter Grass in einem Interview mit der Woche für eine kommentierte Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" ausspricht. In Dirk Schümers Kolumne "Leben in Venedig" geht es saisongemäß um den Karneval. Gina Thomas berichtet von einer Gedenkveranstaltung für Ernst Gombrich in London.

Besprochen werden die Ausstellung in der renovierten Essener Domschatzkammer (in der wir eine hinreißende Madonna mit den schreckgeweiteten Augen sehen können), ein Auftritt der Folksängerin Kathryn Williams in Hamburg, ein "Macbeth" an der Berliner Schaubühne und Choreografien Richard Wherlocks zu Strawinsky und Mahler in Basel.

TAZ, 07.02.2002

Marina Collaci berichtet über die Demonstration in Rom, wo vergangenen Samstag 5.000 Menschen, darunter der Filmregisseur Nanni Moretti, auf der Piazza Navona gegen Berlusconis Umgang mit der Justiz protestierten:"Einigermaßen lustlos, wie immer in den letzten Monaten, war die gesamte Führungsspitze des Ulivo-Bündnisses - Francesco Rutelli, Piero Fassino, Massimo DAlema und all die anderen - auf dem Podium versammelt. Die Kundgebung war schon gelaufen - da trat Moretti ans Mikro. Ein paar Sätze wie Peitschenhiebe: 'Die Linkswähler haben das Spektakel ihrer Führungsleute nicht verdient. Mit dieser Sorte Parteiführern werden wir niemals gewinnen.' Rutelli und Fassino verrutschten die Gesichtszüge - doch fünf Minuten später hatten sie sich wieder gefangen. War da was? Ein 'Künstler' habe da gesprochen, verfügte Rutelli, und in seiner Stimme schwang Verachtung." (Siehe dazu auch unsere Post aus Neapel) Weitere Artikel: Auf den Berlinale-Seiten der taz zeigt sich Christina Nord wenig begeistert von Tom Tykwers "Heaven": "Er will das Pathos und das Antirationale, er will Figuren, die sich selber richten, aber bitte in goutierbaren Bildern." Besprochen werden weiter Christina Paulhofers Inszenierung des "Macbeth" an der Berliner Schaubühne, die CD "Come with us" von den Chemical Brothers und Bret Ratners Film mit viel "Hip-Hop-Clownerei" von Chris Tucker und "Martial-Arts-Schmonzes" von Jackie Chan "Rush Hour 2". Hinzuweisen ist noch auf die Tagesthemenseiten, wo Wolfgang Schomburg, Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, in einem Interview die abschreckende und befriedende Wirkung des Tribunals schildert. Die Medienseite hält uns auf dem Laufenden über den Stand der Dinge im Springer-Kirch Match.

Schließlich Tom.

NZZ, 07.02.2002

Dorothea Dieckmann ist sehr streng mit "MRR solo": "Nun aber, da der Platzhirsch solo spielt, zeigt sich die wahre Macht des Mediums, das seine Protagonisten in Comicfiguren verwandelt. Der Übriggebliebene scheint es zu spüren, er fühlt sich allein. Wenn er 'wir' sagt, wirkt es wie der Pluralis Maiestatis eines von seinem Stammtisch verlassenen Alleinunterhalters." Der nicht mal richtig unterhaltsam war.

Neben einem Konzert mit Anne-Sophie Mutter in Zürich bespricht die NZZ ausschließlich Bücher. Unter anderem geht's um Albrecht Schönes Band über "Schillers Schädel", um eine Biografie des "Tintin"-Erfinders Herge als Comic, um eine biografische Recherche zu Wolfgang Koeppen und um Bernhard Schlinks "enttäuschenden Krimi" "Selbs Mord" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.) Und zuguterletzt erfahren wir von "m. v.", dass die Bregenzer Festspiele ab 2003 unter der Leitung des britischen Regisseurs David Pountney stehen.

FR, 07.02.2002

Esther Blank Walker beschreibt, wie unter Australiens Intellektuellen der Widerstand gegen die Asylpolitik des Landes wächst. Seit zehn Jahren werde hier jeder Mann, jede Frau jedes Kind, das "im wackeligen Fischerboot" an den Küsten Australiens lande, unter unmenschlichen Bedingungen in Auffanglagern "eingekerkert". Einer der Wortführer sei der Schriftsteller Tom Keneally ("Schindlers Liste"), der die Auffanglager als "Konzentrationslager ohne Gasöfen" bezeichnet hat. Auch der Schriftsteller Peter Carey prangere das Leben der Menschen in den Auffanglagern als Folter und reinen Terror an. "Die rigorose Asylpolitik der australischen Regierung sei abstoßend. Sie brutalisiere die Seele Australiens." Von der australischen Regierung allerdings werde solche Kritik als Mäkeleien einer "Chardonnay nippenden elitären Clique" abgeschüttelt, die "für sich selbst in Anspruch nimmt, für das einfache australische Volk zu sprechen".

Aus Anlass der Präsentation von jungem chinesischen Kino im Rahmen der Berliner Filmfestspiele, veröffentlicht die FR ein Manifest des chinesische Filmregisseurs Jia Zhangke (mehr hier), der als eine der Schlüsselfiguren des neuen Kinos in China gilt. Jia kündigt darin als Reaktion auf die Globalisierung und Kommerzialisierung des Kinos eine Renaissance des Amateurfilms an.

Besprochen werden: Tom Twykers Berlinale-Eröffnungsfilm "Heaven" ("meisterlich"). Christina Paulhofers "Macbeth" an der Berliner Schaubühne ("tollkühn"). Das Münchener Konzert von Bobby Conn ("unverbraucht, eigen"). Die fünfte und letzte von Patrick Roths Frankfurter Poetikvorlesungen ("No Fiction"). Der Neubau von von Clare und Sandy Wright für die Londoner "Women's Library" ("ökonomische, energiebewusst und gesellschaftlich integrativ") sowie die erste Sendung von Marcel Reich-Ranickis neuem Literaturmagazin "Solo" ("vital, unverwüstlich"). Und: Jochen Schimmang hat mal wieder Fernsehbilder von unserem Kanzler ausgewertet: "Alles scheint auf Ermattung hinzudeuten, ausgerechnet im Wahljahr."

Zeit, 07.02.2002

Merten Worthmann hat sich mit Tom Tykwer über seinen Film "Heaven" unterhalten, der gestern die Berlinale eröffnete. Tykwer hat einen Tipp an alle Regisseurskollegen, wie sie die allgemeine Qualität des Filmschaffens erhöhen können: "Wenn sich endlich alle weigern würden, diese ganzen Drecksdrehbücher zu verfilmen, dann würden diese Drecksdrehbücher vielleicht auch nicht mehr geschrieben. Ich bin mittlerweile der Meinung, dass man auch den Regisseuren vorwerfen soll, dass sie in Projekte eingestiegen sind, die nicht substanziell genug waren. Als Regisseur hat man eine Menge Macht, mit der man verhindern könnte, dass Dämlichkeit zu viel Raum gewinnt."

Der Philosoph Hans Joas antwortet recht spät, aber auch recht polemisch auf den Begriff der "postsäkularen Gesellschaft", den Jürgen Habermas in seiner Friedenspreisrede im letzten Herbst prägte. "'Postsäkular' ist für Habermas eine Gesellschaft, 'die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft einstellt'. Aber wer war denn bisher nicht auf diesen Fortbestand eingestellt? Vielleicht wäre es besser gewesen, eine bisherige Unterschätzung selbstkritisch einzuräumen - statt sie mit einem Begriff zu verkleiden, der nach Epochenwandel klingt."

Weiteres: Christoph Schlingensief schreibt den Nachruf auf Hildegard Knef ("ihr Tod erscheint mir deutscher als der noch bevorstehende Tod anderer älterer deutscher Schauspielerinnen, die man gern als 'Mutter der Nation' bezeichnet") Jörg Lau sieht neue Auseinandersetzungen über die Finanzierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz auf uns zukommen. Im Aufmacher sieht Thomas Assheuer die Welt in einer Ungerechtigkeit versinken, "die selbst hartgesottene Systemtheoretiker aus der Fassung bringt". Thomas E. Schmidt kommentiert in einer Leitglosse die Bundestagsentscheidung zum Stammzellimport. Werner A. Perger berichtet über das Erinnerungsbuch der Hitler-Sekretärin Traudl Junge und den Film, den Andre Heller über sie drehte. Hanno Rauterberg gratuliert dem Maler Gerhard Richter zum Siebzigsten. Und Peter Roos klagt, dass das von Ludwig Wittgenstein in Wien entworfene Haus "systematisch ruiniert" wird.

Besprochen wird Joanna Laurens' Stück "Die drei Vögel" nach Euripides und Ovid in Hannover. Im Aufmacher des Literaturteils beschreibt Jens Jessen den "Plattform"-Autor Michel Houellebecq als Epigonen Joris-Karl Huysmans' (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr). Ulrich Greiner kommentiert die Kür Alexander Fests zum Rowohlt-Chef. Besprochen wird außerdem Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang". Außerhalb des Feuilletons ist auf einen Essay von Ulrich Beck im politischen Teil hinzuweisen: "Der Arbeitsmarkt im Umbruch". Und im Wissen finden wir ein Interview mit dem Science-Fiction-Autor Terry Pratchett.

SZ, 07.02.2002

Ulrich Kühne schreibt , dass das Kopenhagener Niels-Bohr-Archiv 11 Dokumente veröffentlicht hat, die endlich den Besuch der deutschen Physiker Werner Heisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker bei Niels Bohr im Jahr 1941 erklärten sollen. Der Besuch der bedeutendsten deutschen Kernphysiker beim geistigen Vater der Kernphysik im besetzten Kopenhagen habe seit jeher wilde Spekulationen hervorgerufen und galt Kühne zufolge lange als eines der größten Mysterien des Atomzeitalters. Bei den Dokumenten handelt es sich um nicht abgeschickte Briefe und Briefentwürfe von Bohr an Heisenberg: "In diesem Punkt ist Bohr in allen Varianten der angefangenen und verworfenen Briefe eindeutig gewesen - und darin liegt die Sensation der neuen Dokumente: Heisenberg und Weizsäcker hätten unvermittelt und unverholen ihren Glauben an den deutschen Sieg ausgedrückt. Bohr schreibt in einer vorher ungehörten Deutlichkeit und im krassen Widerspruch zu den Beteuerungen von Heisenberg und Weizsäcker nach dem Krieg: 'Weizsäcker teilte mit, wie erfreulich es sei, dass Heisenbergs Arbeit so viel Bedeutung für den Krieg hat, weil das bedeute, dass die Nazis nach dem erwarteten großen Sieg ein größeres Verständnis für die Belange der deutschen Wissenschaft entwickeln werden.'"
Die Veröffentlichung der Dokumente aus dem Besitz der Bohr-Familie wird auch von Christoph Bartmann kommentiert .
In einem Interview spricht Michel Houllebecq, dessen neuer Roman "Plattform" gerade in Deutschland erschienen ist, über den Islam, den Neuen Menschen und die französische Gesellschaft: "Die Überschwemmung der Gesellschaft durch einen maroden Staat, die Heuchelei, die Etablissements für Pädophile ­- ich finde das alles grotesk, diese öffentliche Lügerei, dieses Reden, wie es gerade passt." Weitere Artikel: Zwei Artikel befassen sich mit den gestern abend eröffneten Internationalen Filmfestspielen in Berlin: Fritz Göttler ist "wahrhaft verzaubert" von Tom Tykwers Eröffnungsfilm "Heaven". Außerdem stellt Anne Sterneborg Schwerpunkte des Internationalen Forums des Jungen Films und der Reihe Panorama vor. Henning Klüver befasst sich mit dem Dilemma der politischen Kultur Italiens: "Die Streitfrage, ob die Politik Berlusconis die Wurzeln der Demokratie gefährdet oder nur alte Zöpfe abschneidet, sprengt alte ideologische Allianzen und wirkt polarisierend bis in Familiendebatten hinein." Miriam Neubert beobachtet einige Schwierigkeiten von Russlands präsidententreuer Jugendorganisation "Zusammen gehen", die Reinheit der russischen Literatur wieder herzustellen. Clemens Prokop schildert, wie Bremen in Zeiten der Not sein Orchester riskant umbaut. Burkhard Müller erzählt, wie sich Chemnitz in den letzten zehn Jahren verändert hat. Auf der Medienseite schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre über "Ranicki solo", und Hans Leyendecker beschreibt, "wie Gerhard Schröder dem klammen Leo Kirch helfen will". Besprochen werden: Martina Döckers Fernsehdokumentation "Peymanns Stuttgarter Kinder", die Berliner Uraufführung von Heinz Holligers Trakl-Gesängen, das neue Museum für Gegenwartskunst im Pariser Palais de Tokyo, Darren Aronofskys Drogendrama "Requiem for a Dream", wobei das besondere Augenmerk Hauptdarstellerin Ellen Burstyn gilt, asiatische Filme auf dem Filmfest Rotterdam und Bücher, darunter eine Sittengeschichte aus deutschen Vorstandsetagen: "Deutsche Pleiten" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr). Und schließlich lesen wir, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf der Olympiade in Salt Lake City ein goldenes Kondom ins Rennen schickt.