Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2002. Als hätten sie sich abgesprochen: SZ, FR und FAZ besprechen den neuen Roman von Peter Handke. In der NZZ denkt Jan Assmann über die Revolution der Schrift nach, außerdem entwirft die Zeitung ein tristes Bild der deutschen Kulturhauptstadt. Die taz macht den Talkmaster Peter Sloterdijk zum Tagesthema.

SZ, 19.01.2002

Da das SZ-Feuilleton um halb elf noch nicht im Netz war, müssen wir es sehr kurz und vorerst ohne Links zusammenfassen. Wir empfehlen später noch mal hier nachzusehen.
Im Aufmacher schreibt Thomas Steinfeld über den neuen Handke-Roman. Er nennt ihn das "große Gegenbuch unserer aktuellen Literatur". Ulrich Raulff kündigt Sloterdijks Philosophisches Quartett an, dass am Sonntag im ZDF startet. Lothar Müller schreibt über Carl Zuckmayer und seinen Geheimreport und amüsiert sich nicht wenig darüber, dass die Welt ohne Genehmigung Teile aus dem Report abgedruckt hatte, wofür die FAZ, die am nächsten Tag nachzog, bezahlt hatte.

Weitere Artikel: Ralph Hammerthaler schreibt über die erste Rheinsberger Opernwerkstatt. Frauke Hanck gratuliert dem polnischen Regisseur Jerzy Kawalerowicz zum Achtzigsten. Hanns Schifferle gratuliert Richard Lester zum Siebzigsten. Uwe Mattheis berichtet über den Kampf der Österreichischen Rechten gegen das Kernkraftwerk Temelin. Christian Jostmann singt ein Loblied auf Halle an der Saale, der "heimlichen Hauptstadt der gelehrten Republik". Abgedruckt ist die Rede, die Amos Oz am Mittwoch in der Evangelischen Akademie in Tutzing hielt. Und der amerikanische Politologe Benjamin Barber verkündet das Ende des amerikanischen Isolationismus.

Besprochen werden Stefan Bachmanns "Hamlet"-Inszenierung am Basler Schauspielhaus, Lone Scherfigs Frauen-Dogma-Film "Italienisch für Anfänger" und Bücher, darunter der Briefwechsel von Marieluise Fleißer (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende schreibt Burkhard Müller-Ullrich über den "Enigma"-Film, der in England zu einer Sensation wurde.

NZZ, 19.01.2002

"Berliner Kulturpolitik - wird's besser, wird's schlimmer?", fragt Claudia Schwartz. Es wird wohl schlimmer: "Die hochfliegenden Visionen der 'Kulturhauptstadt' stehen im krassen Gegensatz zur Wirklichkeit eines Provinztheaters, das seit drei Jahren strukturelle Änderungen als Geisterbeschwörung betreibt: Man redet von ihnen, um sie von sich fernzuhalten. Nachdem die Opernreform des Vorvorkultursenators Christoph Stölzl erfolgreich abgewehrt worden ist, graben sich die Berliner Opernhäuser weiterhin gegenseitig das Wasser ab und spielen in der gleichen Saison den 'Barbier von Sevilla' (Lindenoper, Komische Oper), 'Fidelio' (Komische Oper, Deutsche Oper) oder die 'Zauberflöte' (Lindenoper, Komische Oper, Deutsche Oper)."

Weiteres: Matthias Frehner kommentiert den erzwungenen Abschied Christoph Vitalis aus München. Hubertus Adam schreibt zur Eröffnung des Teatro degli Arcimboldi in Mailand. Besprochen werden Shakespeares "Hamlet" zur Eröffnung des neuen Theaters in Basel, Matthias Zschokkes "Singende Kommissarin" in Berlin, die "Odyssee 2002" am Luzerner Theater und einige Bücher, darunter Joachim Sartorius' lyrische Anthologie über Alexandria. (Siehe auch unsere Bücherschau morgen ab elf Uhr.)

Schließlich Literatur und Kunst:

An der Schwelle eines neuen Zeitalters, in dem das Computer die bisherigen Notationssysteme ablöst, denkt der Kulturwissenschaftler Jan Assmann in einem langen Essay über die vergangene Revolution der Schrift nach: " Am Beispiel von Schrift und Staat kann man sehen, dass die Schrift eine Grenzüberschreitung ermöglicht: vom Dorf zur Stadt, von der Face-to- face-Gemeinschaft zur grossräumigen politischen Organisation, von der Subsistenzwirtschaft zur Versorgungswirtschaft, eine Grenzüberschreitung, die im alten Ägypten etwa die Form eines Sprungs, einer unglaublich kurzfristigen und durchgreifenden Veränderung zu etwas qualitativ und quantitativ vollkommen Neuem angenommen hat."

Weiteres: Stefan Weidner gedenkt des türkischen Dichters Nazim Hikmet, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Ralf Müller unterhält sich mit D.E. Sattler, dem Herausgeber der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, deren Abschluss mit der Edition der "Gesänge" von Ralf Müller gewürdigt wird. Wolfram Groddeck bespricht dann auch gleich noch eine neue italienische Hölderlin-Ausgabe, und Hanno Helbling denkt anhand der italienischen Ausgabe darüber nach, ob Hölderlin überhaupt übersetzbar ist.

Besprochen werden auch noch andere Bücher, darunter eine Übersetzung der Gedichte von Derek Walcott, die Bruno von Lutz "mangelhaft" findet, und ein Buch von Michael Theunissen über "Reichweite und Grenzen der Erinnerung".

FR, 19.01.2002

Ina Hartwig war so hilfsbereit, den neuen Roman von Peter Handke ("Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos") für uns quer zu lesen. Bei 759 Seiten immer noch eine echte Fähnlein-Fieselschweif-Tat. Obwohl: Hartwig ist auch mächtig beruhigt. Schließlich hatte sie Handke nach seinen "Serbien-Einlassungen" schon als Bösen vom Dienst abgestempelt. Und nun? Nun knüpft Handke "nahtlos an die Zeit vor den umstrittenen Kriegs-Reiseberichten an" und lässt die Literatur sich ? gottlob! ? wieder um sich selber drehen, um Bilder, Poesie und Sprache, wie es aussieht. Das Buch, so Hartwig, stelle "endlich wieder eine Herausforderung für die Kritik dar. Und nicht nur für den politischen Kommentar".

In München wurde Hilmar Hoffmann in seiner Funktion als Direktor des Goethe-Instituts verabschiedet. In einem Beitrag rekurriert Rüdiger Suchsland auf Hoffmanns auf ein Wort von Willy Brandt zurückgehende Forderung "einer Aufwertung der Kulturpolitik als dritter Säule der Außenpolitik". Eine Forderung, die sich für Suchsland wie selbstverständlich aus den "psycho-sozialen Bedingungen von Antimodernismus und fundamentalistischem Terror" ergibt. "Die Gründe, warum trotzdem nichts getan wird, liegen im Inland. Es ist ein Denken im Kurzatmigen, dass breite Kreise der politischen Klasse der Republik prägt, und notwendig langfristig angelegte Kulturpolitik kaum zulässt. Das Goethe-Institut ist hierfür nur ein prominentes Beispiel."

Außerdem: Der aus Frankfurt am Main gebürtige Schriftsteller Martin Mosebach ("Der Nebelfürst") erzählt von seinem fantasierten, schönen und seinem wirklichen, fies-hässlichen Frankfurt, Michael Buselmeier durchkämmt neueste Nummern von "manuskripte", "wespennest", "kolik" und "Theater heute", Johannes Wendland berichtet von der Vorstellung der neuen Stipendiaten ("Spring Fellows") der Berliner American Academy, und Hans-Jürgen Heinrichs widmet sich dem griechischen "Dichter-Historiker" Konstantinos Kavafis und dessen lyrischem Werk.

Besprochen werden die Uraufführung von Lutz Hübners neuem Stück "winner & loser" in Hannover, der Dogma-Film Nummer 12 "Italienisch für Anfänger" von Lone Scherfig, "The Aspern Papers" von Henry James auf der Bühne des Theaters Vidy-Lausanne, der Spielfilm "Schwarze Tafeln" von der Iranerin Samira Makhmalbaf, David Mamets Essayband "Ende der Jagdzeit", Stewart O'Nans Roman "Das Glück der anderen" sowie Elisabeth Conradis Versuch einer Grundlegung einer Ethik der Achtsamkeit: "Take Care" (auch in unserer Bücherschau Sonntag um11).

Im FR-Magazin schließlich ist zu lesen, was die "Tote Hose" Campino unter Lust am Risiko versteht (Hechtsprünge ins Publikum) und wie der neue Springer-Chef Döpfner die "Bild" sieht. Als einen leidenschaftlichen, lauten Politikbeobachter nämlich, der "in der lutheranischen Klarheit seiner Sprache" nach allen Seiten austeilt.

FAZ, 19.01.2002

Henning Ritter hat sich ehrenwerterweise einige Tage Zeit gelassen mit seiner Besprechung der Holocaust-Ausstellung im Deutschen Historischen Museums. Er sieht sie durchaus kritisch: "Die Furcht, wie die Wehrmachtsausstellung durch eine These zu provozieren, hat offenbar dazu geführt, alle emotionalen Valeurs zurückzudrängen. Auch die Berliner Ausstellung setzt jene Arbeitsteilung zwischen Historie und Gedenken voraus, wie sie bald auch im Berliner Holocaust-Mahnmal anschaulich werden wird - freilich auf Kosten des Zeugniswerts mancher Objekte, die sie zeigt. Ein Gegenstand mit ungeheuren emotionalen Dimensionen wird vom Penelopewerk der Didaktik überzogen."

Die Basler haben ein neues Haus für ihr Theater eröffnet. Gerhard Stadelmaier ist entsetzt: "Man sitzt in einer grauen, leeren, kalten, atmosphäre- und geheimnislosen Sichtbetonschachtel mit zwei Rängen, schaut auf die billigen Pressspanplatten an den Wänden, wiegt sich in den wackeligen Sesseln, hat zuvor das Foyer durchmessen, das den Charme eines Gepäckabfertigungsbüros versprüht, ist über Holztreppen a la Zwergschulhaus zu den schmalen Galerieumgängen zwischen rotangestrichenen Betonwänden und der verglasten Außenfront vorgedrungen, als sei man der unerwünschte Gast in einer Sardinenbüchse - und denkt: Wenn dies das Theater des einundzwanzigsten Jahrhunderts sein soll, dann möchte man in diesem Jahrhundert kein Theater mehr sehen."

Wenn Victor Hugo einen runden Geburtstag hat, dann ist das so wie bei uns mit Goethe. Es wird in Frankreich gefeiert und gedacht bis zum Abwinken. Oder schlimmer? "Um ihn inszeniert die Republik einen Personenkult wie Vichy mit Petain", bemerkt Jürg Altwegg über den Auftrieb zum 200. Geburtstag des Dichters und zitiert den Vorsitzenden des Festkomitees, Bertrand Poiro-Delpech: "Wir dürfen unsere denkwürdigen Geburtstage nie vergessen. Wenn die Nacht zurückzukommen versucht, muss man die großen Daten erleuchten - wie Fackeln, die man anzündet." Ein solches Pathos wäre bei uns nun wieder undenkbar.

Weiteres: Renate Schostak bedauert die Art und Weise, wie der Ausstellungsmacher des Hauses der Kunst in München, Christoph Vitali vom bayerischen Kulturminister abserviert wird. Johan Schloemann lobt die zurückhaltung der Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in ihrem Bericht über die Anglizismen in der deutschen Sprache. Die grammatische Integrationsfähigkeit der Sprache sei nicht bedroht (wird hier nicht ein altes Klischee recyclt?) Tilman Spreckelsen meldet, dass das Urhebervertragsgesetz, das nun am nächsten Freitag beschlossen werden soll, zum Entsetzen der Interessenverbände nun doch wieder ein wenig verschärft wurde. Lorenz Jäger berichtet, dass der Klostermann-Verlag sein Archiv - also unter anderem den Briefwechsel Vittorio Klostermanns mit Heidegger - ans Deutsche Literaturarchiv in Marbach übergibt.

Dieter Bartetzko meldet, dass die Frankfurter Matthäuskirche, der man auf dem Weg zur Messe begegnet, vom Evangelischen Regionalverband für 35 Millionen Euro "auf Abriss" verkauft wird - sie wird einem weiteren Hochhaus weichen. Andreas Kilb gratuliert dem britischen Regisseur Richard Lester zum Siebzigsten. Aus der Reihe mit Profilen von Kollegen, die Carl Zuckmayer im Exil für den amerikanischen Geheimdienst verfasste, präsentiert man heute den Text über Gottfried Benn ("es soll nicht einen Augenblick bezweifelt werden, dass Benn, auch wenn er dem Rassenmythus und der Blutmystik verfiel, es ehrlich meinte und keinerlei Anschmeißerei betrieb") Klaus Ungerer setzt die Berichterstattung über die Bochumer Ringvorlesung "Die Zukunft des Fußballs" fort. Eberhard Rathgeb resümiert einen Vortrag des Islamwissenschaftlers Udo Steinbach über die Schuld des Westens am 11. September.

Besprochen werden eine Vladimir-Holub-Ausstellung in Duisburg, ein "Don Giovanni" in Hannover, ein Liederabend mit Renee Fleming und Jean-Yves Thibaudet und die Uraufführung von Matthias Zschokkes "Singender Kommissarin" in Berlin und natürlich Bücher, darunter Peter Handkes neuer Roman: ??? wundert sich über "das Nebeneinander von gesucht-pathetischen Ausdrücken und Floskeln, von mündlichem Tonfall und Kanzleistil, von mit traumwandlerischer Sicherheit glückenden Formulierungen und tastenden, suchenden, ans Stammeln grenzende Sätzen".

Auf der Medienseite kommentiert Michael Hanfeld die blamablen Vorgänge um die Wahl des ZDF-Intendanten (sie haben gestern immer noch keinen gefunden). Auf dem, was einmal Bilder und Zeiten war, gedenkt Ekkehard Eickhoff des mittelalterlichen Kaisers Otto III., Günter Feist erinnert an Max Lingner, dessen realsozialistisches Wandwerk im eheamligen "Haus der Ministerien"der DDR nun restauriert wurde. Und Hubert Spiegel stellt in der Frankfurter Anthologie ein Gedicht von Bertold Brecht vor - "Fragen":

"Schreib mir, was du anhast! Ist es warm? Schreib mir, wie du liegst! Liegst du auch weich? Schreib mir, wie du aussiehst! Ist's noch gleich? Schreib mir, was dir fehlt! Ist es mein Arm?..."

TAZ, 19.01.2002

Angesichts der Premiere des "Philosophischen Quartetts" am Sonntag im ZDF macht die taz noch rasch ein Interview mit Peter Sloterdijk zum Tagesthema. Darin erklärt der lustige Sloti, warum seine Fernsehpräsenz am Schisma zwischen Akademie und Populärphilosophie nicht viel ändern wird ("Dieses Schisma gibt es seit dem 19. Jahrhundert, seit es philosophische Schriftsteller gibt"), was er vom Euro hält ("das Geständnis dessen, dass die Europäer im Moment ihre Idee nicht haben") und welche biblischen Implikationen das Weltgeschehen seit dem 11. September aufzeigt. Außer einer verqueren Version der David-und-Goliath-Geschichte und einer Neufassung des Mythos vom Turm zu Babel erkennt Sloterdijk ein "Jakob-und-Esau-Problem auf weltpolitischem Niveau, die reinste Form eines Theodramas", bei dem Amerika die Stelle zur Rechten Gottes besetze. "Wir beobachten einen Doppelkreuzzug, zwei ineinander verhakte Kreuzzüge - ein orientalistischer und ein okzidentalistischer Kreuzzug sind in verblüffender Symmetrie ineinander verschränkt."

Ferner zu lesen: Ein Verriss des neuen Kinofilms von Werner Herzog; Philipp Gessler war auf einer "bahnbrechenden" Ausstellung über "Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933-45", die die nordelbische Landeskirche in der Hamburger St. Petri-Kirche ausrichtet, Frauke Meyer-Gosau bespricht Peter Handkes neue "Mordsmarathonpapierstrecke" "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos", einen utopischen Abenteuer-, Reise- und Liebesroman im Stile Cervantes', der sie anfangs erzählerisch beglückt, um sie sodann "aufs ideologische Streckbett" zu schnallen.

Und ein Magazin-Dossier befasst sich mit dem gebeutelten Argentinien, in einem Bericht von Bernd Pickert über die bislang letzte argentinische Militärdiktatur (1976-1983), die blutigste in ganz Lateinamerika, und einem Beitrag von Hans Rudolf Schär über das Schicksal einer Frau, die zwei Jahre lang von Heereseinheiten gefoltert wurde und mit Hilfe einer ihrer Peiniger schließlich entkam.

Schließlich Tom.