Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2002. In der taz stellt Christian Semler wichtige Fragen zur Berliner Schlossdebatte. In der FAZ denkt Götz Aly über die Wannseekonferenz nach. Die FR freut sich, dass David Lynch die Rätsel seiner Filme im Internet von den Zuschauern lösen lässt. Die NZZ besuchte Maxim Biller in Berlin und die SZ steht unter Protein-Schock.

TAZ, 15.01.2002

Christian Semler berichtet ausführlich von einem deutsch-polnischen Workshop in Berlin, auf dem es um "Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten" ging. Ein Thema, das durch die Diskussion um das Berliner Stadtschlosses aktuelle Relevanz erhielt. In zuweilen hitziger Debatte ging es um die Fragen "Identitätsstiftung oder Vernichtung von Geschichte durch den Neubau, Disneyland oder notwendige geistige Vergegenwärtigung? Also die alten Fronten, neu aufgelegt", resümiert Semler. Gespiegelt wurde die europäische Perspektive durch einen amerikanischen Beitrag, der die unterschiedlichen Positionen zum Umgang mit dem Ground Zero in Manhattan erläuterte.

David Lauer hat bei den "Berliner Lektionen" Hans Küng zugehört, der einmal mehr seine Formel vom "Weltethos" durchbuchstabierte. Im Gegensatz zum Auditorium findet Lauer Küngs These allerdings zu kurz gegriffen, und widerspricht: "Wer mehr Menschenrechte will, braucht nicht mehr Ethos, sondern mehr Reflexivität, mehr Dezentrierung: mehr Aufklärung."

Lutz Hieber bespricht den neuen Roman von Sarah Schulman, in dem sie die McCarthy-Ära besichtigt und die Vorgeschichte der amerikanischen Gegenkultur beschreibt. "Ebenso lapidar wie brillant erzählt" urteilt Robert Brack über den satirischen Roman von Frank Witzel "Bluemoon Baby". Und Susanne Messmer charakterisiert das neue Album von No Doubt und seiner Sängerin Gwen Stefani als "ein einziges Lob der Faulheit". Außerdem ist ein Nachruf auf Gregorio Fuentes zu lesen.
 
In der Abteilung Politisches Buch rezensiert Manfred Kriener zwei Bücher zur Agrar- respektive Ökowende, Hermannus Pfeiffer beschäftigt sich mit dem "Schwarzbuch Markenfirmen" und damit den "Machenschaften der Weltkonzerne", und Reiner Metzger stellt Marion Hahns Buch "Umweltkrank durch NATO-Treibstoff?"vor, in dem die an Multipler Chemikalien-Sensitivität erkrankte Autorin Aufklärung von den Militärs fordert (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

SZ, 15.01.2002

Rainer Erlinger denkt in einem kleinen Essay über "das Verhältnis von Kopf zu Arm, von Gehirn zu Muskel, von Intelligenz und Information zu Gewalt und Kraft". Und kommt, nach Betrachtungen über eine Automesse, den 11. September, die Pisa-Studie, Sven Hannawald, Robert Musil und neueste Erkenntnisse aus der Protein-Forschung, zu dem Schluss: "Das Zeitalter der Protein- und Muskel-Bewunderung hat wieder begonnen. Die Kraft erobert sich ihre ursprüngliche Vormachtstellung zurück, wenn es sein muss - und es muss in diesen Zeiten, wie es scheint, immer öfter sein - mit Gewalt."

Weitere Themen: ein Interview mit Buchautor Andrew Solomon ("Saturns Schatten") über Depressionen; der Frontbericht eines Betroffenen der Hochschulreform; ein fiktives Gespräch zwischen den geplagten Teenager-Vätern Tony Blair und Charles Windsor; eine angenehm unverständliche Betrachtung von Hermann Unterstöger mit dem Titel "Alles treibet und waberet"; ein Hinweis auf eine Ausstellung in Singapur, die zu drastischen Geruchstests einlädt; ein Nachruf auf den kubanischen Fischer Gregorio Fuentes, das Vorbild für die Hauptfigur in Hemingways "Der alte Mann und das Meer"; eine heimatkundliche Abhandlung über den frisch gekürten Kandidaten und seine schöne Herkunftsregion; und Überlegungen zu den Wiedergeburtsmöglichkeiten des Dalai Lama, der keinesfalls noch einmal in chinesischem Hoheitsgebiet leben möchte.

Fritz Göttler berichtet aus gleich mehreren gegebenen Anlässen über Hollywoods Lust am Remake; Rebecca Casati schreibt über die seltsam glückliche Teilhabe am Unglück von Mariah Carey; Andreas Bernard durchstreift deutsche Journale auf der Suche nach "Pop als Disziplinarmaschine"; Julia Encke erzählt von den nun gerichtsnotorischen Gedächnislücken von Alfred Sirven, einem der Drahtzieher in der Leuna-Affäre; und Jens Bisky berichtet vom deutsch-polnischen Workshop über Schleifung und Wiederaufbau in Berlin.

Vorgestellt wird der Backstage-Film "Rock Star" von Stephen Herek, mit Distanz gesehen wurde eine Shakespeare-Inszenierung von Stephan Kimmig im Hamburger Thalia Theater, und einen Verriss erntet die Ulmer Uraufführung von Mathias Husmanns Oper "Vivaldi".

Rezensiert werden weiter Bücher: Bill Broadys Roman aus dem Leistungssport "Schwimmerin", neue Erzählungen von Assia Djebar, ein Sammelband über "völkische Religionen" und eine Kulturgeschichte des Akkordeons (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 15.01.2002

Robert Kaltenbrunner porträtiert im Aufmachertext Istanbul als "die Metropolis schlechthin, der Musterpatient für jedermann, über dessen krankem Körper sich besorgte Ärzte fragen, ob ein Organismus dieser Größe und in so desolater Verfassung überhaupt noch lebensfähig ist. ... Großstadt und Landleben prallen nahezu unvermittelt aufeinander. Während in Beyoglu ein urbanes Leben ostentativ zelebriert wird, wird nebenan auf Schuttbergen und Müllplätzen eine im heutigen Zeitalter überholte ländliche Subsistenzproduktion wiederbelebt." Und in Architektur, Stadt- oder Verkehrsplanung gelte das weltläufige Motto: "wo gehobelt wird, fallen Späne".

Christian Schlüter berichtet über eine Bielefelder Tagung, auf der Philosophen und Politologen die Berechtigung humanitärer Interventionen diskutierten. Die Haltung gegenüber militärischem Handeln fiel dabei erwartungsgemäß geteilt aus. Michael Walzer (Princeton) verwies abschließend auf "die prinzipielle Unmöglichkeit, ... allgemein gültige Gründe für oder gegen humanitäre Interventionen zu finden". Sein pragmatisches Fazit: "Das auf eine Intervention folgende neue Regime müsse nicht demokratisch sein, nicht einmal kapitalistisch; es dürfe nur nicht morden."

Marius Meller rätselt über die Rätsel, die der rätselhafte Regisseur David Lynch in seinen neuen rätselhaften Film "Mulholland Drive" eingebaut hat - aber auch über Lösungshinweise, die Lynch jetzt ins Internet gestellt hat (siehe hier). Zuschauer können nun Deutungsvorschläge einsenden, die prämiert werden. "Was wie ein PR-Trick aussieht", so Meller, "könnte sich leicht zu einer einzigartigen Konstellation entwickeln: zu einer gänzlich neuen Form der Interaktivität auf dem Gebiet der Interpretation von Kunst."

Besprochen werden eine Bonner Inszenierung des neuen Stücks von Tankred Dorst sowie zwei Stücke in Uraufführung von Werner Fritsch. Eva Schweitzer hat zwei Fotoausstellungen in New York gesehen, die Bilder vom Ground Zero und aus Vietnam zeigen. Und auch die FR bringt einen Nachruf auf Gregorio Fuentes.

Und schließlich ist noch die wahre Geschichte von einem Kassierer zu lesen, der Millionen klaute und "erst in Dänemark, dann in den Armen einer Thüringischen Köchin landet". Und dann vor Gericht.

FAZ, 15.01.2002

Götz Aly, renommierter Holocaustforscher und nebenbei ehemals tazler und neuerdings FAZler, hat heute seinen ersten großen Artikel auf der Bücher-und-Themen-Seite der FAZ. Er lässt einige neuere Bücher über den Holocaust Revue passieren und stellt zum sechzigsten Jahrestag der Wannsee-Konferenz fest, dass "anders als noch vor zehn Jahren, zur fünfzigsten Wiederkehr der Wannsee-Konferenz, in der deutschen Forschungsliteratur heute weitgehende Einigkeit und ein hochdetaillierter Kenntnisstand über die engere und weitere Vorgeschichte des 'Staatssekretärs-Treffens' (herrschen), das am 20. Januar 1942 am Großen Wannsee in Berlin stattfand."

Weiteres: Carlos Fuentes (mehr hier) unternimmt eine Tour d'horizon durch Argentinien, Kolumbien, Vnezuela, Mexiko, aber auch Afghanistan, Irak und Israel, beklagt den amerikanischen Unilateralismus und ruft am Ende aus: "Wie traurig muss es sein, in einer solchen Welt jung zu sein." Hannes Hintermeier liefert Hintergründe zur Wahl des neuen Präsidenten des Goethe-Instituts - Jutta Limbach (Bild) gilt als konsensfähige Kandidatin. Der SPD-Politiker Chrisoph Zöpel eröffnet eine Reihe von Artikeln über das Ruhrgebiet, das er zu einer "global city" werden sieht. Jordan Mejias erzählt, wie New Yorker Künstler anderen New Yorker Künstlern helfen, die nach dem 11. September irgendwie zu Schaden kamen. Thomas Fischer erzählt in der Reihe zum besseren Verständnis des "Herrn der Ringe" (wahrlich, es ist Platz für viele Reihen in diesem Feuilleton!), was J.R.R. Tolkien am Finnischen so faszinierte ("Das Finnische... zeichnet sich durch großen Vokal- und Diphthongreichtum sowie ein überbordendes Morpheminventar aus") - nebenbei erfahren wir, dass sich die deutsche Tolkien-Gesellschaft polemisch von den "P-Büchern" einer gewissen Joanne K. Rowling absetzt, deren Figuren nicht mal richtig Latein können.

Ferner unterrichtet uns Jordan Mejias auf den Medienseiten über die Arthur S. DeMoss-Stiftung, deren Werbekampagne für das fundamentalchristliche Erbauungsbuch "Kraft zum Leben" nicht im Fernsehen geschaltet werden durfte (und darum wie ein Manna über gebeutelte Internetunternehmen herniederregnen wird). Auch lesen wir hier, dass MTV Fernsehsender für Homosexuelle plant und wen Leo Kirch als Intendanten für das ZDF vorsieht. Im Aufmacher des Feuilletons kolportiert Christian Geyer das Gerücht, Angela Merkel habe ihre Absicht zu kandidieren aufgegeben, nachdem sich Roland Koch ihr gegenüber wie ein Würgeengel aufgeführt habe, was wir uns bei diesem so sympathischen Politiker kaum vorstellen können. Mark Siemons zerbricht sich in seiner Hauptstadtkolumne den Kopf über die Frage, warum Franz Kafka in seiner Berliner Zeit ausgerechnet ins wenig hippe Steglitz zog. Eva Maria Magel stellt Claude Lanzmanns Dokumentarfilm über den Aufstand von Sobibor vor. Paul Ingendaay schreibt zum Tod des kubanischen Fischers und "alten Mannes" Gregorio Fuentes, der Hemingway nun doch um einiges überlebte. Jürgen Richter bringt uns über einen städtebaulichen Streit in Würzburg um einen Hotelturm auf den Stand.

Auf der letzten Seite kommentiert Dieter Bartetzko die Aufnahme von Fritz Langs Film "Metropolis" ins Weltkulturerbe. Roland Kany schildert einen innerkirchlichen Streit um die richtige Übersetzung liturgischer Texte. Und Gerhard R. Koch schreibt ein kleines Profil des Regisseurs Franco Zeffirelli, den sich Silvio Berlusconi als kulturpolitischen Berater zur Seite stellte.

Besprochen werden eine Ausstellung über das Werk des Renaissance-Künstlers Urs Graf in Basel, Sibylle Bergs Stück "Hund Frau Mann" in Wien, Carl Maria von Webers "Euryanthe" in Cagliari und die Ausstellung "Devices of Wonder" im Getty Center von Los Angeles.

NZZ, 15.01.2002

Martin Krumbholz besuchte den Schriftsteller Maxim Biller, der jetzt offensichtlich in Berlin lebt, darum seine Meinungen aber noch längst nicht geändert hat: "'Die Deutschen' - damit sind ausschließlich deutsche Christen gemeint - sind böse und kalt, temperamentlos und schwermütig, 'selbstsüchtige, kalte deutsche Monster', wie sie in dem Roman 'Die Tochter' (2000) einmal getauft werden, und das Land, in dem sie leben, heißt auch im Jahr 2000 noch 'Holocaust-Land'." Und Maxim Biller genießt die Gnade der politisch korrekten Geburt.

Paul Jandl profiliert den Wiener Picus-Verlag, der sich unter anderem um Exilliteratur verdient machte und trotz seines anspruchsvollen Programms ökonomische Erfolge vorweisen kann: "In der österreichischen Verlagsszene ist der Picus-Verlag einer der beständigsten. Während andere Verlage die mühsam erworbene Reputation nicht in ebenfalls respektable Umsätze verwandeln können und der Name allein nicht mehr halten kann, was sich die Banken versprechen, versucht man bei Picus, sich den Lorbeer der Arbeit nicht noch ins Grab nachwerfen lassen zu müssen. Mit den 'Lesereisen', schmalen Bänden über weite Reisen, ist seit 1998 ein ökonomisches Rückgrat entstanden, das den aufrechten Gang des Verlags erst ermöglicht."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel resümiert eine Tagung am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld über humanitäre (Militär-)interventionen in ethischer Perspektive. Stefan Dornuf stellt internationale Neuerscheinungen zu Georg Lukacs vor. Besprochen werden ein Liederabend von Renee Fleming und Jean-Yves Thibaudet in der Tonhalle Zürich und ein Gedichtband von Rolf Haufs (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).