Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2001. Die FAZ bringt anlässlich Heinrich Breloers Dokudrama ein großes Dossier über die Manns. In der SZ analysiert Horst Bredekamp die Ikonograohie der Disney-Welt, mit der sich im übrigen auch die taz und die FR befassen. Die NZZ beklagt unterdes einen "cultural turn" an den deutschen Universitäten.

FAZ, 05.12.2001

Viel über die Manns in der heutigen FAZ, denn heute Abend läuft auf Arte der erste Teil von Heinrich Breloers Dokudrama über Thomas Mann. Michael Hanfeld porträtiert die Frau hinter Breloers Erfolgen, die Cutterin Monika Bednarz-Rauschenbach, die es Breloer nie übel nahm wenn er für seine Filme über Wehner oder die RAF mit dreihundert Kassetten auftauchte. Auch "Die Manns" ist für Hanfeld ein Schnittkunstwerk: "Was zu Beginn des Films, im schnellen Wechsel, die Perspektive noch klar trennt - Dokumentation hier, Fiktion dort, wenn Elisabeth Mann-Borgese durch ihr ehemaliges Elternhaus schreitet -, wird im Laufe von dreimal hundertfünf Minuten zur Nabelschnur. Jede Nuance, die sich im Mienenspiel der Elisabeth Mann-Borgese abzeichnet, ist ein Haltepunkt, den der Schnitt von Monika Bednarz-Rauschenbach mit der Situation verbindet, welche die Erzählerin anspricht, schon folgt eine Spielszene, dann ein O-Ton von damals, das Gespräch geht weiter. Es ist, als würden wir Elisabeth Mann-Borgese und ihren verstorbenen Geschwistern Monika und Golo, die in Rückblenden zu Wort kommen, beim allmählichen Verfertigen der Erinnerung zusehen."

Weiteres über die Manns: Sandra Kegel schreibt ein kleines Porträt über den großen alten Fernsehmann Hans Abich, der in den fünfziger Jahren zusammen mit den Manns einige Thomas-Mann-Verfilmungen produzierte. Martin Thoemmes erzählt die Geschichte der Liebe zwischen Heinrich Mann und der aus einfachen Verhältnissen stammenden Nelly Kröger, die Thomas Mann im kalifornischen Exil gewaltig auf die Nerven ging. Edo Reents erinnert an Viktor, Thomas Manns jüngsten Bruder. Und Hannes Hintermeier erzählt, wie der einstige Star des Neuen Markts Florian Haffa das Grundstück der Manns in München erwarb, wo er ihre Villa wieder aufbauen wollte - der Crash kam dazwischen.

Und sonst? Jürgen Kaube hat auf dem CDU-Parteitag beobachtet, wie man sich um das einzige Thema, das alle interessierte, die Kandidatenfrage, herummogelte: "Immer daran denken, nie davon sprechen." Oliver Tolmein hält fest, dass George W. Bushs Erlass zur Einrichtung einer Militärgerichtsbarkeit "neueren internationalen Entwicklungen von Strafrecht und humanitärem Völkerrecht zuwiderläuft". Zhou Derong kommentiert den überraschend klaren Wahlsieg der Demokratisch-Progressiven Partei in Taiwan, der den Kommunisten auf dem Festland gar nicht in den Kram passt. Andreas Rosenfelder resümiert eine Wolfenbütteler Tagung über den literarischen Kanon. Jürg Altwegg gratuliert dem Schweizer Historiker Jean-Francois Bergier zum Siebzigsten. Jörg Magenau hat einer Berliner Tagung über die "Suche nach einer neuen Wertorientierung" in der Literatur" zugehört.

Ferner resümiert Frank Ebbinghaus eine Oldenburger Tagung über Ostpreußen. Eva Menasse orientiert uns über die Suche nach einem Direktor für den ORF. Auf der Stilseite porträtiert Jürgen Dollase den Koch Dieter Kaufmann, und Ingeborg Harms bespricht eine Ausstellung in New York über das Design der fünfziger Jahre.

Besprochen werden Woody Allens Film "Im Bann des Jade-Skorpions" (ein "großer Schauspielerfilm", meint Andreas Kilb), eine Ausstellung mit antiken Votivtafeln in Berlin, Sarah Kanes Stück "4.48 Psychose" an der Berliner Schaubühne, eine Ausstellung des romantischen Malers Ernst Fries in Heidelberg, eine Ausstellung über Eugeen van Mieghem in Hamburg, eine Ausstellung über Museumsarchitektur in Stuttgart, die Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik, das Holland Dance Festival, ein "Faust" in früher Fassung in Mannheim und Mozarts "Zaide" in Hannover.

TAZ, 05.12.2001

Harald Fricke erklärt das Milliarden-Dollar-Konzept des Trickfilmers Walt Disney, der heute vor hundert Jahren geboren wurde: "Geschickt karikieren die tolpatschigen Wesen doch stets nur solche Bewegungen, die einem in der Normalität ohnehin unentwegt unterlaufen." Und was beim penibel gezeichneten Film noch von der Vorstellungskraft des Betrachters lebte, meint Fricke, war in den Disney-Parks "in seiner mythischen Überformung dem Leben komplett anverwandelt ? eine Simulation von vertrauter Fremdheit, die die eigene Fantasie lediglich wie einen unvollendeten Traum aussehen ließ ... Theoretiker wie Jean Baudrillard haben angesichts dieser 'Agonie des Realen', die dem Triumph der Zeichen über die Wirklichkeit folgt, beinahe den Verstand verloren. Walt Disney aber war immer so: Sein Glück bestand darin, auf einer Spielzeuglok durch seinen Garten zu fahren, als sei die Welt erst im Abgleich mit den selbst geschaffenen Verhältnissen zu ertragen."

Ferner zu lesen: David Lauer resümiert die Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an Richard Rorty und stolpert über die Diskrepanz zwischen dem mittelalterlichen Mystiker Eckhart und dem spätmodernen Atheisten Rorty. Hanns Zischler findet den neuen Woody Allen "Im Bann des Jade Scorpions" ein wenig allzu rückstandsfrei. Und Gisa Funck referiert Thesen des Wuppertaler Soziologen Sighard Neckel, der die Deutschen für ein Heer von Glücksrittern hält.

In den Themen des Tages schließlich gibt es ein Dossier zu den Ergebnissen des OECD-Schülerleistungstests Pisa, der den deutschen Bildungsnotstand als hausgemacht entlarvt. Und Sibylle Berg führt das Kriegstagebuch der taz weiter.

Schließlich Tom.

SZ, 05.12.2001

Disney-Tag, auch in der SZ. Der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp analysiert im Gespräch die Ikonographie der Disney-Welt und landet sowohl bei Einstein ("die Dehnung der Zeit durch die Zeichnung") als bei Panofsky, der die Kunst Disneys in der Metamorphose sah: "Das passiert hier andauernd, dass Figuren zu anderen Spezies werden und sich dann wieder in ihre alte Form zurückschrauben. Diese nicht dauerhaften, sondern momentanen Metamorphosen sind das Prinzip ... Das, was Lukrez in den Wolken sieht, die andauernde Veränderung der natürlichen Formen in immer neue, frei flottierende Spezies von Naturformen und deren Mischung. Also die Rückholung einer unendlichen Fantasie der Natur". Daneben untersucht Alex Rühle "Disneyland" und die Frage, in welchem Aggregatzustand sich Walt Disney heute befindet, .

Gustav Seibt schreibt über die Arte-Serie "Die Manns", die seiner Meinung nach daran krankt, das sie "diese Autorenfamilie ganz ohne ihre Werke zeigt". So gebe es bloß "Schrullen und Pathologien ohne ihren zureichenden Grund und ohne ihre Früchte" sowie "auf Rollen verteilte Positionen wie in den weltanschaulich so übersichtlichen Kartierungen des Alten: Tommy ist die Pflicht, sein Sohn Klaus die Neigung."

Weiteres: Ulrich Kühne über Ausstellung, Katalog, Briefmarke und Tagung zu Ehren von Werner Heisenbergs hundertstem Geburtstag, es gibt ein Interview mit der Punkrock-Sängerin Sally Timms ("Mekons") und Peter M. Boenisch erklärt, wie Philippe Cohen Solal ("Gotan Projekt") mit Akkordeon und Computer den Tango neu erfindet.

Besprochen werden Disneys "Atlantis, das Geheimnis der verlorenen Stadt", "Der König der Löwen" als Musical in Hamburg, das Album "Whatever, Mortal" von Papa M alias David Pajo und Bücher, darunter die von Joachim Sartorius herausgegebene "Alexandria"-Anthologie (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Schließlich, nicht zu vergessen, gibt es heute eine große SZ-Weihnachtsbücherbeilage. Aufmacher ist ein Essay von Peter Esterhazy über die Sprache des 21. Jahrhunderts, welche eine Sprache der Furcht sein müsse (während das 20. Jahrhundert von der Sprache der Diktatur, der Stille, geprägt war).

FR, 05.12.2001

Anlässlich des 100. Geburtstages von Walt Disney verteidigt Daniel Kothenschulte den "Disneystil" gegen den Verdacht auf künstlerisches Biedermeier. Kothenschulte erklärt, dass Disney Anfang der dreißiger Jahre noch in einem Atemzug mit Eisenstein, Chaplin und John Ford genannt wurde und das Museum of Modern Art 1937 Studioarbeiten von ihm in seiner großen Surrealismusausstellung gezeigt habe. Außerdem verweist er auf den "handfesten, oft durchaus sexualisierten ländlichen Humor" in den frühen Filmen: "Die Zensur befasste sich ständig mit Disneys Cartoons - meist, weil Micky wieder irgendetwas mit Kuheutern angestellt hatte." Ganz schön subversiv.

In einem anderen Artikel folgt Thomas Lemke einem interessanten Gedanken: Was, wenn künftig gar kein skandalöser Samenklau mehr nötig ist, um einen "kleinen Boris" zustande zu bringen, sondern bereits ein Haar oder ein Speicheltropfen ausreicht? Eine Schreckensvision für Prominente, meint Lemke und wirbt sogleich für die Geschäftsidee des amerikanischen DNA Copyright Institutes, das ängstlichen VIPs anbietet, ihr genetisches Profil zu erfassen und ihnen ein Urheberrecht darauf einzuräumen, um es vor unerlaubtem Zugriff zu schützen. Die Sache hat nur einen Haken: Wie kann jemand Urheber seiner selbst sein?

Weitere Artikel: Frauke Meyer-Gosau stellt vor: das "heilige Monstrum" Thomas Mann und seine Familie, der Arte ab heute Abend eine dreiteilige Serie widmet (siehe dazu auch die Kritik auf der Medienseite), Rolf C. Hemke war auf dem in vier Städten des Landes veranstalteten Bestentreffen des deutschsprachigen off-Theaters, "Impulse", Adam Olschewski berichtet vom Festival Transmusicales in Rennes, Judith Jammers avisiert die Verleihung des Turner-Preises und liefert die Buchmacherwetten zu den vier Kandidaten.

Und besprochen werden Sarah Kanes "4.48 Psychose" an der Berliner Schaubühne sowie eine choreografierte 8. Sinfonie von Bruckner in Leipzig.

NZZ, 05.12.2001

"Es herrscht Umverteilung im Zeichen eines cultural turn", schreibt Joachim Güntner über die deutschen Universitäten. Die Naturwissenschaften, vor allem die Biowissenschaften, werden aufgepäppelt, bei den Geisteswissenschaften wird abgebaut, so auch in der DFG, die die Druckkostenzuschüsse reduzieren will: "Wenn es wenigstens beträchtliche Summen zu sparen gälte. Aber gemessen am jährlichen Gesamtbedarf der DFG von zurzeit 2,3 Milliarden Mark bewegen sich die Druckkostenzuschüsse (8 Millionen) nur im Promillebereich. Die Zuschuss-Reformer argumentieren, ihnen gehe es vorrangig um die Gleichbehandlung aller Wissenschaften, daher sei die überproportionale Beanspruchung der Druckbeihilfe durch die Geistes- und Sozialwissenschaften abzubauen. Das Argument ist lächerlich. Gedruckte Publikationen gehören als wesentliche Arbeitsmittel zu den Geisteswissenschaften wie auf der Gegenseite Labors zu den Naturwissenschaften. Würde man diesen ihre - ungleich teureren - Instrumente wegnehmen, weil Geisteswissenschafter dergleichen nicht beanspruchen?"

Weiteres: Alfred Cattani schreibt zum Tod des langjährigen Generalsekretärs des Jüdischen Weltkongresses (WJC), Gerhart M. Riegner. Uwe Justus Wenzel berichtet über die Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an Richard Rorty. Suzanne Kappler hat sich den Bau von Herzog & de Meuron für die Kunstsammlung der Emanuel-Hoffmann-Stiftung in Basel angesehen - gerade wurde "Aufrichte" gefeiert.

Besprochen werden die Ausstellung "Radical Fashion" in London, die Oper "L'amour de loin" in Bern und einige Bücher, darunter Margit Schreiners Roman "Haus,Frauen, Sex" und eine Geschichte des Schamgefühls von Jean-Claude Bologne (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).