Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2001. Die SZ berichtet über Ulrich Becks Vergleich der Tschernobyl-Katastrophe mit dem 11. September. In der FAZ analysiert Walter Laqueur das Versagen der CIA, während ein Sprecher der Firma Advanced Cell Technologies uns aufklärt, was man mit gefrorenen Embryonen noch so alles anstellen kann. In der NZZ (und anderswo) findet man die neue Wehrmachtsausstellung gut gemacht.

FAZ, 29.11.2001

faz

Ronald M. Green von der Klonfirma ACT macht uns im Interview mit Christian Schwägerl mit weiteren Plänen seiner Firma bekannt: "Das Unternehmen will nun die Gewinnung von embryonalen Stammzellen aus Embryonen untersuchen. Dabei geht es um die Frage, ob gefrorene Embryonen verwendet werden sollen. Wir beschäftigen uns auch mit der Praxis am Jones Institute, Embryonen eigens für die Versuche zu schaffen."

Walter Laqueur, Kriegshistoriker vom Center for Strategic Studies and International Studies in Wahsington, analysiert das Versagen der CIA, die bekanntlich kaum Agenten hat, die arabisch sprechen. Aber nach Laqueur haben auch die Journalisten und Wissenschaftler versagt. "In den Vereinigten Staaten zählt die Orientalistik zu den schwächsten Fächern im großen Bereich der 'Regional Studies'. Andere Schwierigkeiten kamen hinzu. Regionalexperten neigen dazu, sich förmlich in ihren Forschungsgegenstand zu verlieben, was sich abträglich auf ihre Kritikfähigkeit auswirkt."

Michael Jeismann zieht folgende Lehre aus der neuen Wehrmachtsausstellung: "Nicht jeder Soldat der Wehrmacht war ein Verbrecher, auch nicht an der Ostfront, aber jeder unterlag einem Krieg, der in seinen Intentionen und Mitteln verbrecherisch war und jeden Soldaten jederzeit zum Verbrecher machen konnte."

Weitere Artikel: Michael Althen, Andreas Kilb und Peter Körte (in der FAZ tummelt sich die Elite der deutschen Filmkritik) interviewen die Filmproduzenten Bernd Eichinger und Nico Hoffmann über den Stand der Dinge im deutschen Kino ? Hofmann verlangt gute Kritiken: "Ohne ein großes Bündnis, durchaus ein kritisches, gelangt man im Moment mit einem deutschen Programm weder im Fernsehen noch im Kino zum Erfolg." Dirk Schümer lässt es in seiner heutigen Venedigkolumne heute um Goethe und Venedig gehen. Norbert Blüm, CDU, schreibt zum Tod von Ria Maternus, Wirtin in Bad Godesberg "noch vor 14 Tagen". Andreas Rossmann resümiert eine Tagung der deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Bochum. Freddy Langer schreibt zum Tod des Fotografen Seydou Keita. Timo Jahn bringt uns auf den Stand über den Besitz derer von Fürstenberg, der aus pekuniärem Bedarf in alle Welt verstreut wird. Und auf der letzten Seit schickt Hans-Joachim Neubauer eine Reportage aus Belgrad.

Besprochen werden die Ausstellung "Picasso und die Schweiz" in Bern, der Film "Eureka", und das südafrikanische DNA Dance Theatre auf Europa-Tournee.

Zeit, 29.11.2001

Ein Verriss, aber so was von liebevoll! Klaus Harpprecht schreibt im Aufmacher des Zeit-Feuilletons über Heinrich Breloers Dokudrama "Die Manns". "Zehn Hauptdarsteller nennt die Besetzungsliste und achtzehn Nebenrollen, die mehr verlangen als gehobene Statisterie. Sie stehen auch für Persönlichkeiten von Rang und Gewicht" wie Joseph Roth, von dem wir nicht viel mehr erfahren als "den melancholischen Hinweis, dass er im Begriff war, sich zu Tode zu saufen". Und was nicht alles fehlt in diesem 270-minütigen Dreiteiler! Bruderliebe und Bruderhass, das "Generalthema", die Todessehnsucht, das "fatale Laster" der Manns, die Literatur, das "Lebenselixier" der Familie: "verschenkt". Dafür dominiert die Homoerotik. Und doch: aus jeder Zeile liest man, wie glücklich unser Rezensent ist, dass es überhaupt einen Film über die Manns gibt. Er empfiehlt allerdings, sich auf das Epos durch die Lektüre des Begleitbuchs vorzubereiten, für das sich die Autoren "unschätzbares Verdienst" erworben hätten.

Der syrische Dichter Adonis beklagt, dass westliche Intellektuelle den Afghanistan-Krieg befürworten, statt die arabisch-islamische Welt "so zu unterstützen, dass sie aus eigener Kraft der Rückschrittlichkeit, Menschen Verachtung und dem Terrorismus den Krieg erklären". Dass die Moslems aus eigener Kraft etwas tun müssen, dass Bin Laden "nur von innen" besiegt werden kann und muss, zeigt Adonis in seinem Artikel immerhin eindrucksvoll auf: Sie sollen einen "Krieg für Demokratie, Freiheiten, Menschenrechte und für Institutionen, die diese Werte schützen" führen. Wenn die moslemischen Intellektuellen diesen Krieg nur endlich führen würden, kämen die westlichen Intellektuellen schon nach.

Weitere Artikel: Ausstellungsmacherin Ulrike Jureit erklärt im Interview, was die neue von der alten Wehrmachtsausstellung unterscheidet ("es gibt deutlich weniger Fotos"). Petra Kipphoff freut sich über die restaurierte Alte Nationalgalerie in Berlin ("Die Prinzessinnen. Sie sind wieder da."). Christof Siemes analysiert die generalstabsmäßige Planung des Musicals "König der Löwen". Walter Moers hat auf einer ganzen Seite eine Liebeserklärung an Walt Disney gezeichnet. Hanno Rauterberg stellt Bauminister Kurt Boediwgs Report zur Lage der Baukultur in Deutschland vor. Und Claudia Herstatt berichtet über Objekte des Art deco und des Jugendstils, die "begehrt und rar" seien.

Besprochen werden Aoyma Shinjis "großartiger" Film "Eureka", die neue CD "Romantik" der Element of Crime ("Es ist der Altberliner Kneipenblues, den Regeners, tja: rauchzarte Stimme heraufbeschwört. Kreuzberger Nächte und Schöneberger Abstürze revisited", schreibt Thomas Gross, der es wissen muss) und Globalisierungstheater: "Smarthouse" in Stuttgart und "Push Up 1 ? 3" in Berlin.

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Elisabeth von Thadden ein Buch des Wirtschaftshistorikers Ernst Peter Fischer: "Die andere Bildung". Das Zeit-Dossier ist Afghanistan gewidmet.

NZZ, 29.11.2001

Heribert Seifert hat sich die neue Wehrmachtsaustellung in den Berliner Kunst-Werken angesehen und beschreibt den Unterschied zur alten so: War vorher "der schockierende Foto-Strip das Leitmedium gewesen, so ist es jetzt die 'Sitzvitrine': Man kann sich hier an zahlreiche Tische setzen, in die auf feste Tafeln aufgezogene Dokumente, Darstellungen, Karten und Schaubilder eingelassen sind. Diese Arbeitsplätze sind jeweils von Glaskästen umgeben, die an die Unterbringung Adolf Eichmanns im Jerusalemer Gerichtssaal erinnern." Statt "Inszenierung eines Affektsturms durch suggestive Bilder des Schreckens nun die nüchtern-sachlichen Mittel des historischen Seminars, die an die Grenzen dessen gehen, was eine Ausstellung dem bildhungrigen Besucher zumuten kann." Seifert ist zufrieden.

Weitere Artikel: Genevieve Lüscher stellt Publikationen der Stiftung Bibliotheca Afghanica vor. Und Georg-Friedrich Kühn berichtet über Baupläne der Berliner "Zeitgenössischen Oper". Die Truppe hat ein Modell von dem Architekturbüro Gewers Kühn & Kühn entwerfen lassen, "das den Bertelsmann-Pavillon für die Expo entwarf und auch den soeben begonnenen Bau des Probengebäudes für die Bayerische Staatsoper". 50-75 Millionen Euro soll der Bau etwa kosten und 10 Millionen Euro jährlich der Betrieb, zitiert Kühn den Sprecher der "Zeitgenössischen Oper", Andreas Rocholl.

Besprochen werden Aki Nawaz und Fun'da'mental's neue CD "There Shall Be Love!", Mick Jaggers Solo-Album "Goddess In The Doorway" und Bücher, darunter Mela Hartwigs Roman "Bin ich ein überflüssiger Mensch?"

SZ, 29.11.2001

Sonja Zerki berichtet von einem denkwürdigen Auftritt Ulrich Becks, der als als erster Wissenschaftler vor den Abgeordneten der Russischen Staatsduma über die "Weltrisikogesellschaft" nach dem 11. September sprach. Der Globalisierungskritiker Beck habe die New Yorker Anschläge als "Tschernobyl der Globalisierung", bewertet, und dem Neoliberalismus eine Mitschuld am Erfolg der Terroristen angelastet. Das totaleVersagen der mit Fast-Food-Jobs besetzten US-Flugsicherheit habe es bewiesen: "Ein Land kann sich zu Tode neoliberalisieren."

"Nachrichten über Klonen haben anscheinend unweigerlich das Klonen von Nachrichten zur Folge," wettert Max-Planck-Präsident Hubert Markl. Der Pawlow-Reflex biopolitischer Sofortentrüstung sei zuverlässig abrufbar. Dass einige Medien nicht aufhören, ein paar ausländischen Reproduktionsexhibitionisten oder Sektennarren ein ständig neu bereitetes Massenforum zu bieten, sollte deswegen nicht als schaudererregende Nachrichten über das Klonen, bewertet werden. Dann stellt Markl einiges klar, zum Beispiel dass therapeutisches Klonen nach gegenwärtigem Kenntnisstand überhaupt nicht unbedingt therapeutisch, sondern möglicherweise auch umgekehrt wirkt. Und außerdem gehöre das Klonen sowieso verboten. Reymer Klüver stellt ein wunderliches Archiv vor, nämlich die Sammlung von Dokumenten aus der Protest-Bewegung im Hamburger Institut für Sozialforschung. Klüver zitiert den Leiter der Sammlung, Reinhart Schwarz: Gesammelt werde, was in den gesellschaftspolitischen Debatten und kulturellen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik an Protest artikuliert werde, aber flüchtig sei, weil es sonst kaum festgehalten würde: "das, was eher randständig ist". Das Kernstück bilden allerdings die Aktenbestände, bei denen wiederum die Dokumente aus der Zeit der Studentenbewegung im Zentrum stehen würden: ganze Regale voll mit den Papieren des 'Anwaltskollektivs', fünf Meter 'Kommune 1', 15 Ordner 'Dutschke', fünf Ordner 'Klarsfeld/Ohrfeige', 900 Boxen 'RAF, 1. Generation'. Weitere Artikel: Hans Schifferle berichtet von der Eröffnung des internationale Queer-Filmfestivals. Hubert Filser schreibt schreibt zum Tod des Fotografen Seydou Keïta. Thomas Mauch untersucht die Musik und Clubscene in Berlin, und verteidigt das "Wohnzimmer Berlin" gegen hauptstädtische Großmannsucht. Michael Hagner schreibt schreibt über die Sammlung des Hirnanatomen Franz Joseph Gall in Baden bei Wien. Florian Schneider surft durch Websites und Mailinglists, und wundert sich über Intime Tagebücher als Hype.Wolfgang Jean Stock schreibt über einen deutscher Beitrag zur Baukultur Afghanistans. Andreas Bernhard berichtet, dass sich eine Forschungsgruppe der Freien Universität Berlin, unter der Leitung des Germanisten Rolf-Peter Janz, nun mit der "kulturwissenschaftlichen Analyse von Schwindelerfahrungen" beschäftigt.

Besprochen werden eine Erro-Ausstellung im Kunstmuseum Reykjavik, Peter Chelsoms neuer Film "Weil es dich gibt", ein Konzert von Polt, Biermösl und Tote Hosen im Wiener Burgtheater, eine gefeierte Aufführung von "Tristan und Isolde" im Staatstheater von Melbourne und Bücher, darunter Thomas Etztemüllers Beschreibung des Falls Werner Conze.

FR, 29.11.2001

In der FR verteidigt sich die angefeindete Intendantin des Frankfurter Schauspiels Elisabeth Schweeger: Thema des Spielplanes sei die Krise des Ichs, was in einer Vielfalt von Theater-Sprachen widergespiegelt werden sollte. Vielfalt deswegen, weil es heute keine verbindliche, allgemein gültige Theatersprache mehr gebe. Elisabeth Schweeger macht sich außerdem Gedanken, warum das Theater seinen selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft verloren hat. Aber "nicht nur die Kunst steht in der Gefahr, sich im Elfenbeinturm einzusperren, sondern auch die Gesellschaft draußen, die sich mit eingefahrenen Sehgewohnheiten, Erwartungs- oder Konsumhaltungen abschottet und die Neugierde als Prinzip vergessen hat." 

Ulrich Speck kommentiert die überarbeitete Wehrmachtsausstellung als Lehrstück über die Grenzen zwischen legitimer und verbrecherischer Kriegsführung. Und er zieht eine aktuelle Lehre: "Wenn George Bush den Afghanistankrieg mit dem Holocaust begründet, könnte man ihm, mit Verweis auf die Wehrmachtsausstellung, entgegenhalten, dass gerade die Nichteinhaltung der Grenzen zwischen völkerrechtsgemäßer und völkerrechtswidriger Kriegführung in eine mehr als problematische Grauzone führt."

Weitere Artikel: Frank Keil stellt umfangreiche Beobachtungen zu Hamburgs Kultur-Senatorensuche an. Daniela Sannwald schreibt, dass Shinji Aoyamas Film "Eureka" eine magische Kinoreise gegen die Trauer ist. Georg-Friedrich Kühn berichtet wenig begeistert von Adriana Hölszky Oper "Tragödia" im Berliner Hebbel Theater. Von Martina Meister erfahren wir Einzelheiten über die Rekonstruktion von Franz Kafkas sowie deren Rückkehr nach Prag, was die Frage aufwirft, wie etwas rekonstruiertes eigentlich zurückkehren kann. Thorsten Jantschek schreibt über die Stuttgarter Urauufführung von Rene Polleschs "Smarthouse® (1 + 2)" . Christian Thomas hat den Architekten und ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordnete Conradi zum Zustand von Architektur und Städtebau in der Bundesrepublik befragt.

TAZ, 29.11.2001

Über Pläne der Berlusconi-Regierung, berühmte italienische Kulturdenkmäler und Museen zu privatisieren, berichtet Frank Helbert. Allerdings prophezeit er keine großen Gewinne. Der Plan sehe die Möglichkeit vor, Geschäftsführung und Personalverwaltung einiger Kulturgüter und daran angeschlossener Dienstleistungsbetriebe für eine Vertragsdauer von mindestens fünf Jahren an private Unternehmen zu verpachten, die sich dann über den Alltagsbetrieb hinaus um ein erweitertes Marketing kümmern würden, wird Kulturminister Urbani zitiert: "Wenn man etwa in der Nähe der Primavera von Botticelli eine Renaissance-Ecke einrichten könnte, in der mit Musik und Kostümen der damaligen Zeit Geschichte verständlich gemacht wird, dann ist das schon ein Fortschritt." Weitere Artikel: Sabine Leucht berichtet vom Münchner Theaterfestival "Spielart". Besprochen werden Rod Luries Film "Die letzte Festung", die Jens-Sparschuh-Verfilmung "Der Zimmerspringbrunnen" und Shinji Aoyamas "einzigartiger" Film "Eureka".