Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.11.2001. Die FAZ präsentiert ein opulentes Dossier zum ersten geklonten menschlichen Embryo. Die SZ fragt allerdings, ob es sich bei diesem Embryo überhaupt um einen Embryo handelt. Die FR beklagt derweil die mangelnde Diskursfähigkeit der islamischen Welt und die NZZ liefert Reisenotizen aus Georgien.

FAZ, 27.11.2001

Wie konnte das geschehen? Kaum ist der erste Embryo geklont, stellt er schon die Machtfrage. Frank Schirrmacher kommentiert die Nachricht, dass es zum ersten Mal gelang, menschliche Embryozellen zu duplizieren: "Nicht mehr die Natur, sondern Menschen entscheiden über die Biologie von Menschen, also über die aller künftiger Generationen. Was wird das für eine Gesellschaft sein, die in der Lage ist, einen Teil ihres Nachwuchses, also ihrer Embyronen, zu Reparaturzwecken zu gebrauchen und den anderen, wenn nicht abzutreiben, dann nach eigenen Kriterien zu selektieren? Wie wird man sich dort, wo dies zur gesellschaftlichen Routine geworden ist, eigentlich in die Augen schauen? Ein zweites Ich schaffen, um sich zu regenerieren? Der namenlose Sprössling aus Worcester ist der Homunkulus all unserer Zukunftsfragen."

Die FAZ war mal wieder schneller als all die anderen die und präsentiert, verteilt aufs Feuilleton, einen ganzen Strauß von Artikeln zur Nachricht.

Joachim Müller-Jung ist nach Worcester bei Boston gefahren und besucht den Vater des geklonten Embryos, Robert Lanza, bei Advanced Cell Technologies. Offensichtlich ein brillanter Mann: "Als Medizinstudent arbeitete er bei Nobelpreisträger Gerald Edelman an der Rockefeller University und bei dem Impfstoffpionier Jonas Salk. Er veröffentlichte Aufsätze mit dem Harvard-Psychologen B. F. Skinner und dem berühmten Herzchirurgen Christiaan Barnard. Vor sechs Jahren brachte er zusammen mit Expräsident Jimmy Carter ein populäres Buch 'One World' heraus, in dem er seine Utopie vom 'Überleben der Menschheit im 21. Jahrhundert' skizzierte - die Illusionen eines Medizinforschers, die viel konkreter freilich in seinem neuen, mehr als 1400 Seiten starken Standardwerk 'Prinzipien der Gewebezüchtung' nachzulesen sind."

Christian Schwägerl erläutert, was man mit den geklonten Embryos eigentlich tun will: "Den Embryo würde man beim therapeutischen Klonen schon in einem Frühstadium, also nach maximal 14 Tagen Entwicklung, zerpflücken, um ihm Stammzellen zu entnehmen. Diese könnten anschließend nach Zugabe von Wachstumsfaktoren zu speziellen Geweben herangezüchtet werden, etwa zu Nervengewebe für Parkinsonkranke oder insulinproduzierenden Zellen für Diabetiker. Die therapeutische Anwendung gibt dem Verfahren seinen Namen. Für den Embryo endet der Vorgang allerdings tödlich."

Weitere Artikel zum Thema: Dokumentiert wird eine Rede des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl zur Frage, ab wann ein Mensch ein Mensch ist. So viel ist sicher: "So wenig ein Australopithecus ein Homo, eine Raupe ein Schmetterling, ein Ei ein Huhn, ein Verdächtiger ein Schuldiger oder ein Student ein Professor ist - obwohl sie es 'potenziell' alle werden können -, sowenig ist der potenzielle Mensch schon ein wirklicher Mensch, obwohl er es sehr wohl werden kann." (Vor allem das mit Student und Professor musste doch mal klargestellt werden!) Achim Bahnen informiert uns über den Stand des Embryonenschutzgesetzes in Deutschland und die Ungeduld der deutschen Forscher. Auf der letzten Seite findet sich dann noch eine Chronik der Biotechnik und ein Porträt des "Tiger Woods der Klonforscher" - Teruhiko Wakayama: Keiner hält die Pipette so ruhig, wenn es darum geht, denn Zellkern aus seiner Hülle zu saugen.

Weiteres im heute sehr stoffreichen Feuilleton: ein ganzseitiges Interview mit Jan-Philipp Reemtsma zur neuen Wehrmachtsausstellung, die heute eröffnet wird - man erfährt unter anderem, dass die Auseinandersetzung um historische Fotos, die zur Schließung der ersten Ausstellung führt, in der zweiten nun thematisiert wird. Klaus Ungerer resümiert eine Tagung ergrauender Poptheoretiker, die in der Evangelischen Akademie Tutzing einen angemessenen Rahmen fand. Rudolf Schmitz zeichnet eine Tagung in der Evangelischen Bildungsakademie Hofgeismar über die legendäre Documenta 5 des Jahres 1972 nach. Achim Heidenreich hat einer Dresdner Tagung über die russische Musik "zwischen Emigration und Stalinismus" gelauscht". Auf der Bücher-und-Themen-Seite erinnert Friedmar Apel anhand älterer und neuerer Bücher an die Wandervogelbewegung.

Und Patrick Bahners zitiert aus einem (hier dokumentierten) BBC-Interview, in dem Boris Becker über die Deutschen nachdachte: "Wenn ich in die Augen meiner Fans blickte, dachte ich, ich sähe Monster. Als ich diese Art von blinder, emotionaler Hingabe sah, verstand ich, was uns in Nürnberg passiert war."

Auf der Medienseite erfahren wir von Alexander Bartl, dass die EU-Kommission deutschen Sendern vorwirft, es mit der Werbung zu übertreiben, was den zuständigen deutschen Behörden überaus peinlich zu sein scheint. Michael Hanfeld erzählt, wie der ARD-Reporter Arnim Stauth mit seinem Team unter Beschuss der Taliban geriet. Ferner erfahren wir, dass ARD und ZDF ihrem öffentlich-rechtlichen Auftrag mit immer mehr Unterhaltungssendungen nachkommen wollen und dass die Amerikaner einen Katalog der Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban zusammengestellt haben.

Besprochen werden ein Konzert der Jazzsängerin Diana Krall in Frankfurt, die Jazzkonzerte des Luzerner Klavierfestes, der von den Architekten Diezinger & Kramer entworfene Neubau des Sonderpädagogischen Förderzentrums in Eichstätt, eine Schlagerversion von "Romeo und Julia" an der Komischen Oper Berlin, das Stück "Das Theater, der Brief und die Wahrheit" nach Harry Mulisch in Frankfurt, Musils "Schwärmer" in Hamburg, die Gary-Hill-Retrospektive in Wolfsburg, Tankred Dorsts Stück "Kupsch" in Duisburg, ein Konzert der englischen Band Starsailor und das Kunstprojekt "InSicht" in Chemnitz.

TAZ, 27.11.2001

Peter Fuchs und Jörg Mussmann setzen ihre Beobachtungen in Pflegeheimen mit der fünften Folge fort: "Zeit, das ist das Zentralproblem der Einrichtungen, über die wir hier berichten. Sie muss offenbar so bewirtschaftet werden, dass alles möglichst so schnell geht, dass Weiteres auch möglichst so schnell gehen kann. Diese Bewirtschaftung setzt an Körpern an, an deren Funktionen, an den Notwendigkeiten der Versorgung, die durch die Körper selbst entstehen. Es geht also um körperorientierte Zeit - Essenszeit, Ausscheidungszeit, Säuberungszeit, Behandlungszeit."

Weiteres: Harald Fricke würdigt die Videoarbeiten Gary Hills, dem im Kunstmuseum Wolfsburg eine Retrospektive gewidmet wird. Jörg Heiser erörtert in der Warhol-Serie die Bedeutung der Popmusik für den Künstler. Besprochen werden Bücher, darunter Antonia S. Byatts Roman "Das Geheimnis des Biographen" und Etgar Kerets Erzählungen "Der Busfahrer, der Gott sein wollte". Auf der Seite Politisches Buch setzt sich Ulrich Brieler ausführlich mit Slavoj Zizeks "Die Tücke des Subjekts" auseinander (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 27.11.2001

Die islamische Welt hat nach dem 11. September die Chance zu einer ? auch innerislamischen ? Diskussion nicht ergriffen, meint Andrea Nüsse: "Obwohl in der jetzigen Krise zunächst die Amerikaner die Opfer waren, hat die arabische Welt es doch geschafft, sich selbst schnell wieder in der beliebten Opferrolle zu sehen. Diese Haltung leitet sich aus einem gewissen Fatalismus, der einem falsch verstandenen Islam entspringt, und dem tatsächlichen Erleiden westlicher Politik seit über 100 Jahren ab: Wieder wird ein muslimisches Land bombardiert, Muslime im Westen werden diskriminiert, was sicher kritisch gesehen werden darf. Doch statt einer Debatte löst dies kollektive Selbstverteidigungsrituale aus, denen sich scheinbar auch viele arabische Intellektuelle nicht enthalten können."

Wird in Berlin ein neuer Kultursenator gesucht? Oder bleibt die parteilose Senatorin Adrienne Goehler auf dem Posten? So ganz klar ist das nicht, berichtet Martina Meister: "Der Regierende Bürgermeister Wowereit scheint Adrienne Goehler halten zu wollen. Und es wäre keine schlechte Wahl. Sie ist nicht nur unkonventionell im Auftreten, sondern auch im Denken. Außerdem hat sie das, was Politiker neidvoll den 'Draht zu den Künstlern' nennen." Es gibt allerdings auch ein Argument, das gegen Goehler spricht: "Goehler müsste auf dem Grünen-Ticket reisen. Denen aber, so drang es aus den Kammern der Koalitionsverhandlungen, stünden nur zwei Senatorenposten zu, und die sind allem Anschein nach schon an Sibyll Klotz (Arbeit und Soziales) und Wolfgang Wieland (Justiz) vergeben."

Weitere Artikel: Christa Maerker resümiert ein Filmfestival in Hawaii (wo die FR ihre Journalisten so überall hinschickt!). Martin Altmeyer nahm aus der Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung das Versprechen auf "flexiblere und damit effizientere Behandlungsformen" mit. Nikolaus Merck begutachtet den Start der neuen Intendanz am Dresdner Staatsschauspiel. Karin Ceballos Betancur hat einer Frankfurter Tagung über "kulturelle Globalisierung" beigewohnt.

Besprechungen gelten einem Atelierhaus von Diezinger und Kramer in der Bischofsstadt Eichstätt, dem Stück "Das Theater, der Brief und die Wahrheit" nach Harry Mulisch im Kammerspiel Frankfurt und einer Wiener Ausstellung über Paul Celans Jahre in Wien 1947/48 im Jüdischen Museum.

Außerdem bringt die FR heute ihre November-Literaturbeilage. Aufmacher ist eine Passage aus der Frankfurter Ausgabe von Marcel Prousts "Die Flüchtige".

SZ, 27.11.2001

Bernd Graff findet, dass die deutsche Diskussion über "therapeutisches Klonen" und Embryonenforschung von der amerikanischen Firma ACT überholt worden ist. ACT hat erstmals einen menschlichen Embryo geklont, wobei es nach Graff noch die Frage ist, ob man das Ergebnis wirklich einen Embryo nennen kann. Entstanden ist es nämlich nicht durch die Verschmelzung von weiblicher Ei- und männlicher Samenzelle, sondern ACT hat eine leere Eizellenhülle mit der "genetischen Vollinformaton eines Erwachsenen" gefüllt: "Hier wird 'nur' eine isoliert nicht lebensfähige Eizelle manipuliert. Und das genetische Material, das dabei 'verbraucht' wird, verliert jeder Mensch Tag für Tag sowieso ? etwa unter der Dusche." Wir haben es hier also mit einem "neuartigen Chimären- oder Mischwesen" zu tun, meint Graff.

Pünktlich zur Wiedereröffnung der Wehrmachtsausstellung in der alten Nationalgalerie in Berlin hat sich der Historiker Peter Reichel umfassend mit dem Erscheinungsbild der Wehrmacht beschäftigt. Wie entstand der "Mythos von der sauberen Wehrmacht"? Reichel stellt fest, dass nicht die unzähligen Kriegsberichte deutscher Soldaten die Wahrnehmung der Wehrmacht prägten hätten, sondern der "amtlich geschönte Nachruf auf die Schlacht", wie etwa der letzte Bericht der Wehrmacht vom 9. Mai 1945. "Viele Faktoren mussten (...) zusammenkommen, damit die Wehrmacht ihr anfänglich zwiespältiges bis negatives Image in das einer Armee verwandeln konnte, die durch den NS-Unrechtsstaat zwar missbraucht, in der großen Mehrheit ihrer Angehörigen und militärischen Aktionen aber makellos geblieben war".

Andrian Kreye berichtet heute über einen Verein namens Acta ("American Council of Trustees and Alumni"), der es sich zum Ziel gesetzt hat, "unpatriotische Umtriebe" von Akademikern zu brandmarken. "In Zeiten des Krieges ist jede kritische Bemerkung ein Akt der Wehrkraftzersetzung", schreibt Kreye. Die finanzstarke Organisation wolle nicht nur Professoren und Dozenten auf konservative Linie bringen, sondern auch die "offizielle Geschichtsschreibung" mitbestimmen. Auf der schwarzen Liste des Vereins stehen laut Kreye Jesse Jackson oder der Stanford-Professor Joel Beinin - letzterer für seine Forderung, Osama bin Laden vor einem internationalen Gericht den Prozess zu machen.

Weitere Artikel: Tomas Avenarius berichtet auf der Medienseite über einen neuen unabhängigen Fernsehsender in Afghanistan. Holger Liebs beschäftigt sich mit der Wiedereröffnung der Alten Nationalgalerie in Berlin. Oliver Fuchs hat eine Tagung in Tutzing besucht, bei der es um die Frage ging, was Pop ist. Und Nils Roeller erinnert an Villem Flusser, der vor zehn Jahren starb. Zum Flusser-Archiv geht es hier.

Besprochen werden das neue Album von Britney Spears angehört (Andrian Kreye stellt überraschende Parallelen zu Elvis fest), Marianne Rosenberg als Schauspielerin im Kurt Weill-Musical "Venus". Krystian Lupas Inszenierung der "Schwärmer" am Hamburger Thalia Theater, das "Holland Dance Festival", ein Puccini-Cocktail am Schauspiel Frankfurt, Kerstin Spechts "Fleißer-Stück" in einer Doppelaufführung in München und Ingolstadt und Bücher, darunter ein Band von Jean-Francois Lyotard: "Der schalltote Raum" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 27.11.2001

Barbara Spengler-Axiopoulos liefert sehr schöne Reisenotizen aus dem schönen und traurigen Georgien: "Über den Rustaweli-Prospekt, die einst glanzvolle Flaniermeile von Tiflis, rauschen mitunter dunkle Luxuslimousinen, die angesichts der allgemeinen Armut obszön wirken. Im Film 'Briganten' des grossen georgischen Regisseurs Otar Iosseliani, einer bedrückenden Abrechnung mit dem stalinistischen Terror, waren es solche Wagen, die am Strassenrand anhielten, um ihre Opfer blitzschnell zu überwältigen und hineinzuziehen. Auch heute ist der Tod für die Georgier kein Fremder und Verrat kein Verbrechen. Der Mord an dem beliebten Journalisten Giorgi Sanaia Ende Juli dieses Jahres wurde bis heute nicht aufgeklärt."

Weitere Artikel: Claudia Schwartz informiert uns, dass die Schweizer Botschaft in Berlin eine Lichtinstallation des Künstlers Chema Alvargonzalez entfernen muss. Uwe Justus Wenzel resümiert ein Kolloquium über den Philosphen Michael Theunissen. Paul Jandl schildert den Neubeginn am Wiener Schauspielhaus.

Besprechungen gelten einer Ausstellung amerikanischer Kunst von 1908 bis 1947 in Bordeaux, dem Saisonbeginn am Hamburger Thalia-Theater und einigen Büchern, darunter Erzählungen von Yasunari Kawabata.