Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.10.2001. Der frisch gebackene Literatur-Nobelpreisträgers Naipaul taucht heute in allen Feuilletons auf. Es könne kein Zufall sein, schreibt die FR, dass der erklärte Islamkritiker von den Schweden geehrt wurde. Die FAZ bescheinigt der Akademie Mut, dass sie Naipaul wählte. Und welche Folgen die Auszeichnung für den Preisträger haben kann, beschreibt die taz.

FAZ, 12.10.2001

Paul Ingendaay findet, dass die schwedische Akademie mit der Verleihung des Literaturnobelpreises an V.S. Naipaul Mut gezeigt hat: "Naipaul auszuzeichnen bedeutet den Verzicht auf Nettigkeit, zur Schau getragene Humanität, Trostpreise für ethnische, sprachliche oder kulturelle Minderheiten, überhaupt den Abschied von allem Pädagogisch-Belehrenden ... "Naipaul ist fähig zum Hass, und daß er ihm intellektuell nachgeht und ihn mindestens so interessant findet wie positive Anreize, macht ihn zu einer Ausnahmeerscheinung unter heutigen Schriftstellern."
In einem zweiten Artikel porträtiert Renate Schostack den Ausgezeichneten. (Siehe zu Naipaul auch unser Link des Tages.)

Joseph Croitoru hat sich auf der Buchmesse mit "zwei freundlichen bärtigen Herren" vom Verlag Al-Khilafa Publications unterhalten. Hinter dem Verlag steht die Islamische Befreiungspartei, die "nicht umsonst mancherorts in der arabischen Welt verboten" ist: "Die unbefangene Gelassenheit, mit der der Besucher über die Errichtung einer totalitär-islamischen Welt belehrt wird, kann den Bürger des demokratischen Landes, das Gastgeber der Buchmesse ist, befremden."

Zhou Derong berichtet über Chinas vorsichtige Reaktionen auf Amerikas Krieg gegen den Terror: Man möchte "im eigenen Hinterhof" keine Unruhen provozieren. "Mehr als sieben Millionen muslimische Uiguren leben in der autonomen Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas, dort also, wo die langen Grenzen zu den zentralasiatischen GUS-Republiken, zu Kirgistan, Kasachstan und Tadschikistan, aber auch zu Pakistan und Afghanistan verlaufen. Und die Uiguren lassen sich selbst nach über fünfzig Jahren kommunistischer Herrschaft nicht zähmen. In den achtziger Jahren, als der revolutionäre Islamismus wieder in die Region einzog - anfangs von Peking mehr oder weniger toleriert, weil die Sowjetunion das gemeinsame Feindbild abgab -, erwachte zugleich der nationale Wille der Uiguren. Seitdem hat Peking ein Problem mehr."

Weitere Artikel: Mark Siemons hat beim Berliner "Dialog der Kulturen" einem Vortrag von Ayatollah Mohadscherani, dem ehemaligen iranischen Kulturminister und jetzigen Berater des iranischen Staatspräsidenten, über Globalisierung zugehört. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des spanischen Dirigenten Garcia Navarro. Andreas Rossmann berichtet, dass der rheinische Kunstsammler Hans Grothe 45 Werke versteigern lässt, die bisher im Kunstmuseum Bonn ausgestellt waren. Leo Wieland berichtet über einen Kunstskandal im amerikanischen Südwesten: Ein Gemälde von Alma Lopez mit einer Madonna im Bikini hat die Puritaner erregt. Christian Schwägerl denkt darüber nach, ob nicht Patente den Fortschritt behindern.

Besprochen werden Hanekes Verfilmung der "Klavierspielerin", das "Meeting Neuer Tanz" in Nordrhein-Westfalen, eine Ausstellung mit Zeichnungen von Hanns Schimansky in der Kunsthalle Rostock., ein "Eugen Onegin" in Graz, die Uraufführung von John Caskens Tolstoi-Oper "God's Liar" in Brüssel, eine Ausstellung mit Fotos und Videos aus Westafrika in der Wiener Kunsthalle, die Uraufführung von "Novemberland" von und mit Günter Grass in Mainz, eine Ausstellung des amerikanischen Künstlers Dan Peterman im Kunstverein Hannover.

Auf der Schallplatten und Phono Seite werden Aufnahmen mit Massenets Oper "Herodiade" und Songs von Leonard Cohen besprochen.

Auf der Medienseite beschreibt Sandra Kegel, wie Amerikas Sender den Terror filtern, und Dietmar Dath erklärt uns, wie Attentäter ihre Botschaften im Internet verschlüsseln.

NZZ, 12.10.2001

Bruno von Lutz porträtiert den diesjährigen Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul: "Sein geographischer Weg ist der so vieler Westinder, die in den fünfziger Jahren im Zuge der Dekolonisierung das Heimatrecht in Großbritannien wahrnahmen und sich dort eine bessere Zukunft erträumten. Zusammen mit den Einwanderern aus Indien und Afrika veränderten sie das Antlitz Großbritanniens derart, dass man heute von einer wirklich multikulturellen Gesellschaft sprechen kann.

Aldo Keel berichtet von einem Streit in Norwegen um Knut Hamsun, den Literaturnobelpreisträger von 1920, der nach 1945 wegen seiner Kollaboration mit den Nazis als Landesverräter verurteilt worden war: Soll man in Oslo eine Straße nach ihm benennen? Oder lieber doch noch ein bisschen warten... ?

Weitere Artikel: Derek Weber schreibt über die Wiedereröffnung des Teatro Malibran in Venedig, Susanne Ostwald berichtet von der Frankfurter Buchmesse und Karin Gimmi bespricht eine große Ausstellung, mit der die italienische Industriestadt Ivrea den Kulturförderer Adriano Olivetti (1901-1960) und sein Projekt einer Idealstadt feiert.

SZ, 12.10.2001

In einem langen Gespräch mit Willi Winkler äußert sich Alexander Kluge über die Katastrophe vom 11. September und die Wahrnehmung von Terrorismus und Krieg. Noch nicht "vorgehärtet" seien wir, meint Kluge, mit der "Entrealisierung" durch die Bilder des Grauens noch nicht vertraut. "Beim Krieg ist es ganz anders, da erleben wir eine Abhärtung der Außenhaut des Bewusstseins. Das ist ja üblich, hieß es selbst bei den schlimmsten Luftangriffen, und jeder lauert nur, dass wir's den anderen heimzahlen. Diese Entrealisierung ist der Unterschied zum Bombenkrieg 1945. Wirklichkeitsentzug ist eine Terrorwaffe." Kluges Rat: Umkehr, Nachdenken. "In diesen Gewässern der Partikularisierung und des globalisierten Terrors reicht unsere Erfahrung nicht aus, um seetüchtig zu bleiben ... In Tschernobyl waren Feuerwehrleute die Helden und in Manhattan waren sie es wieder. Statt des ABCs sollte man in der Schule das Löschen unterrichten."

Dankbar darf man Jeremy Rifkin sein, der in einem Beitrag die Beziehungen zwischen der Bedrohung durch Bio-Waffen und der genetischen Revolution offenlegt. Für Rifkin ist es unbestreitbar, "dass die neuen Informationen über das Genom, die man zur kommerziellen Gentechnik in Landbau, Tierzucht und Medizin verwendet, auch dazu genutzt werden könnten, ein breites Spektrum neuer Pathogene herzustellen, die Pflanzen, Tiere und Menschen anzugreifen in der Lage sind." Um solche "Designerwaffen" zu verhindern, fordert Rifkin, die Unterscheidung zwischen defensiver und offensiver Forschung aufzugeben und kommerzielle Interessen der Biotech-Industrie endgültig zurückzustellen.

Zu lesen ist auch ein Gespräch mit dem iranischen Geistlichen Mohsen Kadiwar über falsche Islaminterpretationen. Das allererste Bild des Islam, stellt der hohe Geistliche klar, ist ein Bild der Barmherzigkeit, des Friedens. Außerdem stellt Burkhard Müller den großen Reisenden und diesjährigen Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul vor, Andrian Kreye berichtet über die Furcht der Amerikaner vor den Sporen und Ulrich Raulff sagt, was uns wirklich droht: der virtuelle Terror.

Besprochen werden: eine große Werkschau von Claude Monet in Treviso, Klaus Händls "Ich ersehne die Alpen; so entstehen die Seen" beim "steirischen herbst" in Graz, die Vertonung der "Novemberland"-Sonette des Günter Grass in Mainz, Evi Petropoulous "Geschichte der neugriechischen Literatur" und mehrere Bücher, darunter Christian Krachts Roman "1979" und "Osama Bin Laden und der internationale Terrorismus" (mehr zu den Büchern in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 12.10.2001

Dirk Fuhrig bringt uns den frisch gebackenen Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul etwas näher. Dass ausgerechnet der erklärte Islamkritiker Naipaul heuer von den Schweden geehrt wird, kann kein Zufall sein, aber Fuhrig besteht darauf: "Nicht alleine die Aktualität hat den Zuschlag für ihn gegeben. Sein Name stand schon seit Jahren auf den Listen der Autoren, die für die Ehrung gehandelt werden, ganz weit oben."
Angeschlossen ist auch ein kleiner Text, in dem Naipaul die Idee des "pursuit of happiness" als zivilisatorisches Phänomen preist: "Sie ist eine gewaltige menschliche Idee. Sie kann nicht reduziert werden auf starre Regeln oder Gesetze. Sie kann nicht im Fanatismus enden. Allein weil man weiß, dass dieses Ideal existiert, werden andere, rigidere Systeme am Ende verschwinden."

Weitere Artikel: Christian Thomas schreibt über den Rekonstruktionswahn der Berliner, Gemma Pörzgen denkt über die Ware Buch auf dem Balkan. Der Verleger Lothar Schirmer warnt vor der Reform des Urhebervertragsrechts: Die neuen Vorschriften reichten aus, "um das deutsche Verlagsgewerbe aus dem Geschäft oder Land zu drängen." Und Erhard Zeis hat das Comic-Zentrum der Frankfurter Buchmesse besucht.


Besprochen werden die 15. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik, Tschechows "Drei Schwestern" am Schauspielhaus Zürich und das Eröffnungsprogramm des Zentrums für zeitgenössische Choreographie im neuen Wiener Museumsviertel.

TAZ, 12.10.2001

Gerrit Bartels fühlt sich sichtlich wohl in der "großen, trashigen Welt der Bücher und Verlage" in Frankfurts Messehallen. Und dies, obgleich ihm hier schmerzlich bewusst wird, "wie klein der typische Literaturbetrieb doch ist, wie eng die Ausrichtung des Feuilletons." Aber vorerst ist man ja dabei, mittendrin sozusagen, und am Nachmittag sogar in Unselds Villa zu einer Lesung aus Peter Handkes neuem, im Januar 2002 erscheinenden Roman: "Naturgemäß bildet man sich im Unseldschen Bibliothekszimmer ein, den Geist von Uwe Johnson oder Wolfgang Koeppen spüren zu können, auch der mächtige Hermann Burger kommt einem in den Sinn, oder Thomas Bernhard, einfach so und sehr spontan." Ach, es ist genau, wie Bartels schreibt: "Die einen gehen zur Buchmesse, die anderen befinden sich draußen in einer anderen Welt."

Besprochen werden: Arbeiten des brasilianischen Fotoreporters Sebastiao Salgado, der die sozialen Folgen der Globalisation dokumentiert, im Deutschen Historischen Museum in Berlin, ferner das neue Album der Berliner Band Mutter mit dem neugierig machenden Titel "Europa gegen Amerika", die aktuelle Platte von Suzanne Vega, die neue Ausgabe des halbjährlichen Kompendiums "testcard ? Beiträge zur Popgeschichte" sowie Sean Penns Dürrenmatt-Verfilmung "Das Versprechen".

Das Porträt des Literaturnobelpreisträgers V.S. Naipaul hat Petra Wetzel geschrieben. Daneben ein kleiner Text von Reinhard Wolff, der vor möglichen üblen Folgen warnt: "Der Nobelpreis ist das Ticket zur eigenen Beerdigung. Niemand hat danach noch etwas Gescheites produziert", zitiert er T.S. Eliot.
 
Schließlich noch Tom.