Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.07.2001.

TAZ, 18.07.2001

Andreas Busche begrüßt mit warmen Worten einen neuen Film aus Frankreich: "Es war wieder mal nötig, einen Film wie Laurent Cantets "Ressources Humaines" vor den Latz geknallt zu bekommen, der die Machtverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital so brutal präzise und gleichzeitig empfindlich durchdringt. Der französische Regisseur beharrt vehement auf der Existenz einer aktivistischen Arbeiterbewegung im Sinne von Bourdieu, in der das Individuum noch eine eigene Stimme besitzt. Cantet argumentiert mit der Schärfe des strengen Marxisten, ohne dabei über den aufrechten Klassenkampf die Basis aus den Augen zu verlieren."

Daniel Fersch beklagt, dass die dtv-Taschenbücher ihr unverwechselbares Design verloren haben: "Schuld daran hat Wolfgang Balk, der 1996 die Verlagsleitung übernahm. Balk, ein studierter Philosoph, der sich gerne in Denkerpose mit aufgestütztem Kinn fotografieren lässt, begründet diesen Schritt ganz prosaisch: 'Auch Autos hatten in den Fünfziger und Sechziger Jahren eigene Gesichter, heute werden sie sich immer ähnlicher. Das ist der Lauf der Welt.'"

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg stellt "Gegenworte", die Zeitschrift der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vor und berichtet über eine Pressekonferenz, die Kulturminister Nida-Rümelin vor seinem Abflug in die Flitterwochen zu seiner Nationalstiftung für Kunst und Kultur gegeben hat. Und Gisa Funk berichtet über die Tagung "Signale der Störung" in Köln.

Besprochen wird die "Heidi"-Ausstellung im Strauhof Zürich.Schließlich Tom.

NZZ, 18.07.2001

Thomas Hürlimanns neuer Roman "Fräulein Stark", der demnächst bei Ammann erscheint, löst in der Schweiz bereits Wirbel aus, wie wir einer Pressemeldung in der NZZ entnehmen: "Er handelt von einem Stiftsbibliothekar, der einen Sommer lang seinen Neffen zu Besuch hat. Dieser begnügt sich nicht damit, den Besuchern der Bibliothek Filzpantoffeln auszuteilen. Vielmehr wagt er auch dann und wann einen Blick unter einen Frauenrock, was ihm vorwurfsvolle Blicke von Fräulein Stark, der Haushälterin des Bibliothekars, einträgt. Keinen Gefallen an Hürlimanns autobiographisch gefärbtem Roman findet der Onkel des Autors, alt Stiftsbibliothekar und Professor Johannes Duft. In einer zehnseitigen Polemik unter dem Titel 'Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch 'Fräulein Stark' von Thomas Hürlimann' rechnet Duft jetzt mit seinem Neffen ab. Er wirft dem Schriftsteller 'bösartige Unterstellungen' vor, bezeichnet Hürlimann als 'verklemmt' und 'ein verwöhntes Herrensöhnchen' und stuft den Roman als 'an Perfidie grenzend' ein. Anders als die Romanfigur des Stiftsbibliothekars sei er - Duft ? 'niemals ein Bonvivant' und auch kein 'eitler Geck' gewesen." Das Publikum dürfte nun um so interessierter sein!

Marli Feldvoss fragt sich angesichts des neuen Lara-Croft-Films, aber auch von Kunstprojekten wie Laracroftism und kommenden Buchpublikationen über die Cyberheldin, "inwiefern die neue Amazone als symptomatisch für gegenwärtige Weiblichkeitsideale anzusehen ist, inwiefern sie auf Fragen zur Beziehung zwischen Technologie und Subjekt neue Antworten geben kann, ja ob sie überhaupt als weibliche Repräsentationsfigur der neunziger Jahre tragbar ist."

Weitere Artikel: Axel Lapp bespricht die Ausstellung figurativer Bildhauerei der Nazizeit im Henry Moore Institute von Leeds. Besprochen werden außerdem zwei Mic-Enneper-Ausstellungen in Ludwigshafen und in Mannheim und einige Bücher, darunter Clark Blaises Buch über die "Zähmung der Zeit" und Ioanna Karystianis Roman "Die Frauen von Andros". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FR, 18.07.2001

In einem bitteren Interview erklärt die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff, die seit Mitte der 80er Jahre in einem Dorf bei Jerusalem lebt, warum sie nicht daran glaubt, dass die Palästinenser je einen eigenen Staat bekommen werden: "Den Saustall, den Netanyahu hinterlassen hat, hat Barak nicht in den Griff gekriegt. Auch unter ihm wurden die Siedlungen weitergebaut und die Zufahrtsstraßen vergrößert. Als Rabin an der Macht war und der Arzt Baruch Goldstein 29 Moslems über den Haufen geschossen hatte, dachte ich: Jetzt ist der Moment gekommen, wo sie diese entsetzlichen, widerlichen, gemeinen Siedler aus Hebron rauswerfen. Es sind ja nur etwas mehr als 400. Aber sie machen dort weiter Terror ... Entweder man will Frieden oder man lässt es bleiben. Diese Heuchelei ist unerträglich."

Kerstin Grether hat sich die erste Musikclip-Sendung, die Formel 1-Folgen aus dem Jahr 1984 angesehen, die gerade "fünfmal die Woche auf den kleinen Privatsendern TV Berlin, TV München und Hamburg 1 wiederholt" werden und dabei festgestellt, "wie sehr in den letzten zehn Jahren die Arbeit an der Schönheit Teil des Lifestyles geworden ist": "Wie, das soll künstlich gewesen sein? Diese unmuskulösen Oberkörper, die sich tapsig im Rhythmus bewegen? Teen-Idole wie Toni Hadley (Spandau Ballett) oder Simon Le Bon (Duran Duran) sind genauso schlapp wie Typ von nebenan. Und das Schlabber-Sweatshirt, mit dem Nena über die Bühne hüpft, möchte sich heute keine Schwangere auch nur zum Brötchenholen um die Ecke anziehen."

Weitere Artikel: Heike Kühn schreibt über das Filmfestival in Karlovy Vary. Frank Keil gratuliert Peer Hultberg zum Hubert-Fichte-Preis. Dorothea Marcus berichtet über eine Diskussion und Aufführungen von Xavier Durringer und Bernard Sobel beim Theaterfestival von Avignon. Und Christian Schlüter hat den "Entwurf für das Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen" gelesen, was ihm Anlass gibt, über den "Verdacht - oder ist es Gewissheit? - des Verrats" nachzusinnen, der die Grünen seit ihrer Gründung umgebe.

Besprochen wird der israelische Film "Kadosh" von Amos Gitai.

SZ, 18.07.2001

David Grubbs denkt darüber nach, was eigentlich "extrem" ist an Musik auf einem Tonträger, die man schließlich beliebig laut und leise drehen kann, und findet einige sehr schöne Beispiele: Bei Morton Feldmans "Piano, Violin, Viola, Cello" etwa werde auf dem Cover darauf hingewiesen, "dass eine geringe Lautstärke 'für ein realistischeres Klangbild' sorgt. Und, bei Gott, ich war geschockt, als ich nach mehrjährigem gelegentlichen Hören von Feldman-Aufnahmen in normaler Lautstärke in einem Konzert Klavierstücke von ihm zu hören bekam. Die Feldman-Kompositionen waren die einzig betont leise angelegten Stücke des Abends, und sie schienen wie aus weiter Ferne zu kommen, obwohl der Flügel am gleichen Platz stand wie bei allen anderen Stücken. Die Töne erstarben förmlich bei der Anstrengung, das Ohr des Zuhörers zu erreichen ? und ich versank vor Scham im Erdboden beim Gedanken daran, dass ich bisher meine Anlage noch ein Stück lauter gedreht habe, damit ich auch nichts verpasse, wenn ich im Nebenzimmer herumkruschle."

Thomas Steinfeld findet es ein wenig tollkühn, ausgerechnet Litauen zum Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse 2002 zu machen, "ein Land mit einer im europäischen Maßstab kurzen literarischen Tradition". Immerhin, meint er, waren in den letzten Jahren vor allem die Länder erfolgreich, die aus dem "Abseits" kamen: "Litauen käme aus einem sehr fernen Abseits, die Überraschung wäre am größten."

Alex Rühle berichtet aus Genua über die Globalisierungsgegner, die Wert darauf legen, dass ihre Protestaktionen gegen den G8-Gipfel in den Medien gut rüberkommen: "Wenn schon über die Klima-Katastrophe nicht anschaulich-dramatisch berichtet werden kann, so die pragmatische Rechnung, dann wenigstens über den Protest dagegen."

Weitere Artikel: Norbert Schiegl porträtiert den englischen Trip-Hop-Star Tricky, dessen neue Platte er durchschnittlich findet, Helmut Mauro beschreibt bayerische Wucherungen beim Musikfest in Wildbad Kreuth, C. Bernd Sucher gratuliert dem Schauspieler Heinz Bennent zum 80. Geburtstag, Julia Encke berichtet über die Tagung "Signale der Störung" in Köln, Reinhard Seiss erzählt, wie berühmte Architekten in die alten Gasometer Wiens Parkgaragen und Shopping-Malls bauen ? und damit den Reiz der Industriedenkmäler zerstören, Willi Winkler widmet sich in der Reihe "Verblasste Mythen" dem Schiff.

Besprochen werden die CD "L?Affrontements des Pretendants" des französischen Klarinettisten Louis Sclavis, zwei CDs mit nordamerikanischer Gospelmusik, drei "Best of"-CDs des Kabarettforums "Salzburger Stier", eine Ausstellung über Malerinnen des "Amerikanischen Abstrakten Expressionismus" im Ulmer Museum, Catalin D. Florescus Romandebüt "Wunderzeit" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr), und eine Ausstellung im Bundesverfassungsgericht, das "sich zum fünfzigsten Jahrestag seiner Gründung den künstlerischen Nachwuchs ins Haus (einlud), auf dass er das Jubiläum heiter verfremde."

FAZ, 18.07.2001

Zunächst eine Berichtigung. Wir haben gestern behauptet, Robert von Lucius, der einen Artikel über Litauen als Gastland der Buchmesse im nächsten Jahr vorlegte, sei ein Repräsentant des Börsenvereins des deutschen Buchhandels ? in Wirklichkeit ist er FAZ-Redakteur. Wir haben ihn mit dem Verleger Wulf D. von Lucius verwechselt, der tatsächlich Ämter beim Börsenverein versieht. Pardon!

Friedrich Dieckmann, Publizist und Buchautor, nimmt den Eiertanz der PDS um die eigene Geschichte aufs Korn, die den Mauerbau bedauert, aber sich nicht dafür entschuldigen will. Dann aber findet er selbst, dass die Mauer ihr Gutes hatte: "Die Vermauerung der Berliner Grenze, die auf die erleichterte Duldung aller Westmächte rechnen konnte, nahm von beiden Seiten das Gefühl unmittelbarer Bedrohung durch den jeweils andern; sie schuf damit die Voraussetzung zu einer Entwicklung, deren progressive Züge sich bald darauf auf je eigene Weise zeigten. Im deutschen Westen erfocht die Pressefreiheit in der Spiegel-Affäre einen entscheidenden Sieg über einen Verteidigungsminister, dessen Person für die Umschlagfähigkeit einer noch keineswegs gefestigten Demokratie ins Illiberal-Autoritative stand, und im deutschen Osten setzte als ein zartes, aber kenntliches Pflänzchen jene Ermutigung kritischer Potentiale ein, deren Niedertretung ein Jahr nach Chruschtschows Sturz voraussetzte, dass sie vorhanden, mithin gefördert worden waren." Setzt das Vorhandensein kritischer Potenziale tatsächlich immer ihre amtliche Förderung voraus?

Verena Lueken fragt: "Wer ist Hillary?" Gerade schien es, als wolle sie in der Unauffälligkeit der Senatsarbeit verschwinden, da diskutiert die Presse schon wieder über die ehemalige First Lady: "Dass man nun von dieser Zeit der Konsolidierung eines Bildes, in dem die eigenen und die Skandale ihres Mannes nur noch einen verschwommenen Hintergrund zeichnen, bereits in der Vergangenheitsform sprechen kann, verdankt sich dem Hochglanzmagazin Vanity Fair, das in seiner gerade erschienenen Ausgabe auf vielen Seiten lauthals von 'Hillary's Solo Act' kündet."

Weitere Artikel: Christian Sprang, Justitiar des Börsenvereins (diesmal stimmt's), wendet sich gegen die geplante Reform des Urhebervertragsrechts und schlägt statt dessen einen Ausbau des "Bestsellerparagraphen" vor, der bereits jetzt Klagen gegen eine unangemessene Vergütung erlaubt. Josef Oehrlein freut sich über die Liberalisierung des Presserechts in Chile, das nun die letzten Fesseln der Pinochet-Zeit abzustreifen scheint. Auf einer ganzen Seite schildert der Wissenschaftshistoriker Frank-Rutger Hausmann am Fall des Anglisten Herbert Schöffler die Verstrickungen eines "normalen", nicht der Partei zugehörigen Wissenschaftlers in der Nazizeit. Auf der Stilseite bespricht Felicitas von Lovenberg eine Ausstellung, die der Filmgarderobe Audrey Hepburns gewidmet ist, und hätte fast den Eindruck "im Kleiderschrank eines Supermodels zu stöbern und nur Lieblingsstücke zu finden". Sie müssen allerdings maßgeschneidert sein ? denn Hepburns Taillenweite betrug nur 51 Zentimeter!

Im täglichen Gratulationsreigen erwischt es heute den Schauspieler Heinz Bennent (80) und den Pop-Produzenten Frank Farian (60).

Besprochen werden die Ausstellung "Ich bin mein Auto" in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, eine Tagung zur Lage der Katholischen Kirche in Deutschland in der Katholischen Akademie in Bayern, eine "Walküre" im Tiroler Erl, eine Ausstellung überdie Geschichte der Krawatte im Museum für Thüringer Volkskunde, das Festival Montellier danse 01 (mehr hier) und eine Ausstellung über "erste Projekte der Cyberarchitektur" im Frankfurter Architektur-Museum.

Auf der Stilseite wird ferner über das Ritual der Schiffstaufe meditiert.