Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2001.

TAZ, 02.07.2001

Über eine erstaunliche Aktion des Malers Lucian Freud berichtet Patrik Schwarz. Ihm wurde vor dreizehn Jahren bei einer Berliner Ausstellung ein Porträt seines Freundes Francis Bacon gestohlen, das er jetzt per Steckbriefen in der Berliner U-Bahn suchen lässt. "Für seine Suche nach dem Werk greift Lucian Freud nun auf ein Vorbild aus einem der frühesten und dichtesten Berlin-Bücher des 20. Jahrhunderts zurück: 'Emil und die Detektive'. Dem britischen Guardian erzählte Freud, er habe sich von Kindheitserinnerungen an das Buch inspirieren lassen, in dem über Nacht die Stadt mit Plakaten zugepflastert werde. Nächstes Jahr wird Freud 80, und die Londoner Tate Gallery wird ihn mit einer großen Retrospektive ehren. Das fehlende Bild, kaum größer als eine Postkarte, würde dort bitter vermisst."

Auch Dirk Knipphals denkt nach Klagenfurt über die Juroren nach, meint aber: "Dass eine kritikerlastigere Jury ihre Sache von sich aus besser gemacht hätte, darf bezweifelt werden; uns jedenfalls sind Vertreter dieses Berufsstandes namentlich bekannt, die auch nicht gerade vor Leidenschaft überquellen." Er nennt die Namen aber nicht.

Ferner bespricht Andreas Becker einen Auftritt des Salsaband Africando in Berlin: " Ein vor Lebendigkeit nur so strotzendes Konzert direkt neben der 'Körperwelten'-Ausstellung, Gunther von Hagens rollender Leichenschau - das hat fast etwas von einer Provokation."

Am Ende wieder Tom.

SZ, 02.07.2001

Hans-Peter Kunisch findet, beim 25. Bachmann-Wettbewerb "war beinahe alles ABBA. Retro ohne Bewusstsein." Und Michael Lentz, der den Bachmann-Preis mit einem Text über das Sterben seiner Mutter gewonnen hat? "Mutter ist wirklich verschwunden. Sie ist in Düren an Krebs gestorben. Michael Lentz ist 1964 in Düren geboren, sein Vater, der in der Geschichte nicht gut weg kommt, war in Düren Oberstadtdirektor, wie der Vater in der Geschichte. Hat die Schwemme peinlicher Autobiografien selbst Klagenfurt erreicht, dieses verschrieene Reservat germanistischer Kopf-Texte? Nein. Lentz macht es besser als viele vor ihm ..." Zu Unrecht übersehen wurden, so Kunisch, Artur Beckers Genre-Geschichte von "Teofil Baker und seinem versoffenen Onkel Jimmy, der brüllt und sich durchmogelt in Kanada" und "Rainer Merkels Initiationstext aus der Welt der neuen Medien, des e-business, in dem der Berliner gearbeitet hat". Rainer Merkel "hat die Kälte von Lentz. Und er beschreibt, was uns interessiert." Auf die Nerven ging Kunisch allerdings die "Interpretationsbeflissenheit" der Jury. Er plädiert für eine "Rückkehr zur Spontankritik".

Jakob Augstein guckt sich das Experiment Gendebatte an, will sagen zwei Forscher, die statt zu beobachten plötzlich "bis über beide Ohren selbst in der Petrischale" stecken, "Teil des Experiments" sind. Die Rede ist vom Wissenschaftsfunktionäre Ernst-Ludwig Winnacker und dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl: "Hybris und fatale Visionen von Kontrollierbarkeit beim einen, trotzige Larmoyanz und unsensible Forscher-Egozentrik beim anderen: Soll man dieses Denken den Markls und Winnackers zum Vorwurf machen? 'Warum fällt es der Wissenschaft selbst nicht auf, dass die epochemachenden Gedanken, die sich die theoretische Physik im gerade vergangenen Jahrhundert gemacht hat - über Kausalität, Determination, Lokalisation und Zeitlichkeit -, für die Praxis der Gentechnologie mega-out sind?', hat Adolf Muschg gefragt. Weil Winnacker und Markl ihre Lebenswissenschaft am Ende doch wie Ingenieure betreiben."

Lothar Müller berichtet über die Preisfrage, mit der die "Junge Akademie" ihren ersten Geburtstag feiert. Es ist eigentlich keine Frage, sondern ein Rätsel: Ein alter Mann und ein Junge stehen vor dem berühmten Denker von Rodin. "Der sitzt so gespannt da, sagt der Junge, was hat er? Der Alte bietet große Antworten an: Melancholie, den Blick in sich selbst, das Schicksal der Welt, den Weltschmerz. Der sehr moderne Junge, offenkundig ein künftiges Mitglied der 'Jungen Akademie', setzt sich auf seinen Rucksack, in dem vielleicht der Vortrag von Günther Anders steckt, und ahmt die Pose des Denkers nach. 'Vielleicht tut ihm nur der Rücken weh.' Die Preisfrage aber stellt der Alte: 'Die Frage ist nicht, ob der Denker Weltschmerz oder Rückenschmerz hat. Die Frage ist: Was ist es, das in uns schmerzt?'"

Weitere Artikel: Fritz Göttler ärgert sich über den Trailer für das Internationale Festival der Filmhochschulen, der extra fürs Filmfest München gedreht wurde, Stefan Keim erklärt, warum Dortmunds Oper ohne John Dew in Bedeutungslosigkeit versinkt, Harry Lachner schreibt zum Tod des amerikanischen Saxophonisten Joe Henderson, Gottfried Knapp bewundert Rudi Wachs "erstaunliche Bildwerke" für die neue Wiener U-Bahnstation "Museumsquartier", Alexander Kissler war beeindruckt von der Rede, die Polens Außenminister Wladyslaw Bartoszewski bei der Verleihung des Ehrendoktors in Marburg hielt: "Wer an Europareden aus deutschem Munde gewöhnt ist, mag seinen Ohren kaum getraut haben. In der Alten Aula, unweit eines Wandgemäldes, das die Reformatoren Luther, Melanchthon und Zwingli vor Beginn ihres Religionsgesprächs zeigt, forderte Bartoszewski eine geistige Reformation Europas. Das christliche Abendland ist die Perspektive, die der Marburger Ehrendoktor mit Elan und Humor entwickelte."

Besprochen werden Tschaikowskys "Pique Dame" in Bremen, neue Filme über die Volksrepublik China auf dem Filmfest München, Franco Zeffirellis Inszenierung des "Troubadour" für die Arena von Verona, Berlioz' Oper "Les Troyens" im Münchner Nationaltheater und politische Bücher (siehe unsere Bücherschau, heute ab 14 Uhr).

FAZ, 02.07.2001

Verena Lueken hat Steven Spielbergs Film "A.I. ? Artificial Intelligence" gesehen, der bekanntlich auf einem Projekt von Kubrick beruht. "Wenn Roboter uns lieben werden, lieben wir sie dann auch oder sollten wir es zumindest?", lautet ihrem Bericht nach die Frage des Films. Am Ende allerdings bleibt Spielberg, "trotz der komplizierten Fragen, die er stellt, von gewohnt schlichter Moral. Kubrick mag an der Geschichte interessiert haben, dass die verbleibenden Menschen der Gefühle ihrer künstlichen Geschöpfe nicht wert sind; für Spielberg sind die Roboter allen Ernstes die besseren Menschen."

Jorge Semprun hat ein weiteres Buch über seine Zeit im Lager Buchenwald geschrieben ? "Le mort qu'il faut" ist gerade in Frankreich erschienen. Jürg Altwegg hat es gelesen: "Bislang hielt Semprun das Erinnern für gesichert. In 'Le mort qu'il faut' zeigt er sich erstmals beunruhigt über das Überliefern nach dem Tod der letzten Überlebenden. Stören sie nicht jetzt schon - oder noch? - den Betrieb der Historiker und das Geschäft des Gedenkens? Der perfekte Zeuge wäre nur jener gewesen, der im Lager starb."

Patrick Bahners kommt noch einmal auf die Habermas-Reden der letzten Woche zurück: "Die bioethischen Erwägungen, die Habermas zuletzt in einem Marburger Vortrag am vergangenen Donnerstag entfaltet hat (F.A.Z. vom 30. Juni), führen vor Augen, daß nicht die Diskursethik harmlos gewesen ist, sondern die gesellschaftliche Situation, in der die Legende von ihrer Leere gedieh", konstatiert Bahners am frühen Montagmorgen.

Weitere Artikel: Die Dokumentation von Tom Kirkwoods Reith-Lecture über das Altern und die Medizin dagegen endet mit einem Plädoyer an die wissenschaftliche Gemeinschaft, "sich nicht allein der Heilung von Krankheiten zu verschreiben, sondern sich verstärkt der weniger spektakulären, aber wichtigen Aufgabe zuzuwenden, unsere alternden Zellen vor den täglichen Abnutzungsprozessen zu schützen" Marc-Christoph Wagner berichtet von gelinder Enttäuschung über die Öresund-Brücke, die seit einem Jahr Dänemark und Schweden verbindet: Noch ist die Region nicht zusammengewachsen, was unter anderem an unterschiedlicher Steuergesetzgebung liegt. Heinz Berggruen legt eine der kleinen Schnurren vor, mit denen er gerne in der FAZ brilliert (sie handelt von dem Filmregisseur Jules Dassin).

Besprochen werden eine Trientiner Ausstellung der italienischen Maler Boldini, De Nitti und Zandomenegi, die im Paris des vorletzten Fin de siecle Karriere machten, Berlioz' Oper "Die Trojaner" in München, Alexander Langs "Hamlet"-Inszenierung in Weimar, die Ausstellung des großen klassischen japanischen Malers Tohaku im Museum Rietberg in Zürich und einige Sachbücher (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 02.07.2001

Recht klare Worte findet Ina Hartwig über die Jury beim Klagenfurter Wettlesen: "Es gab tatsächlich Grund, sich über die Jury Gedanken zu machen, nicht nur, weil sie für die geladenen Autoren verantwortlich ist. Man hätte sich insgesamt ein bisschen mehr Temperament gewünscht, einen mehr, der es mit Denis Scheck, dem einzigen hauptamtlichen Literaturkritiker, hätte aufnehmen können. Die Schriftstellerin Birgit Vanderbeke - sie ersetzt Iris Radisch - ergänzte nicht die Riege der professionellen Kritiker. Doch das Hauptproblem stellte Elisabeth Bronfen dar, deren stur literaturwissenschaftlicher Ansatz in Klagenfurt fehl am Platz ist. An ihr konnten sich die Geister kaum mehr scheiden, zu eindeutig ist ihr mangelndes literarisches Urteilsvermögen, ihr fehlender Sinn für Qualität. Sie verkörpert die Postmoderne als Realsatire und schickte Autoren ins Rennen, die sich einer niederschmetternden Kritik ausgesetzt sahen, von der nur die Götter wissen, wie man sich davon erholen soll."

Angesichts des Milosevic-Prozesses und der Mazedonien-Krise fordert der kroatische Verleger Nenad Popovic: "Europa muss sich von seinen Balkanklischees befreien, von Begriffen wie Hinterhof, Armenhaus oder Pulverfass. Und zwar nicht, damit 'wir hier unten' weniger beleidigt sind, sondern weil das Europas Chance ist: wirtschaftlich, kulturell, politisch, ökologisch und nicht zuletzt menschlich."

Und Eva Schweitzer sieht in Spielbergs Film "A.I" ein "Feuerwerk der Selbstreferenzialität, eine knallbunte Mischung aus Anspielungen auf Spielberg- wie auch auf Kubrick-Filme".

NZZ, 02.07.2001

Die Berichterstattung über Klagenfurt scheint in diesem Jahr (aus Mangel an literarischen Talenten?) zur Jurorenkritik zu tendieren. Auch Roman Bucheli findet: "Wenig Anklang als Jurorin fand dagegen Elisabeth Bronfen. Ihren Voten fehlte die Luzidität, und zu oft verirrte sie sich in vollends von den Texten abgekoppelten Metaebenen. Mit ihren Einladungen hat sie zudem den Autorinnen und Autoren einen schlechten Dienst erwiesen: Sie fielen alle kläglich durch."

Einen ausführlichen Essay über den städtebaulichen Zustand Tokios nach einem Jahrhundert der Erdbeben, Kriegszerstörung und Spekulation legt Urs Schoettli vor: "Die physischen Spuren des Krieges sind getilgt, und materiell ist Tokio wohlhabender denn je. Der Reichtum, der in den Jahrzehnten des harten Neubeginns in Kanto, der Region Tokio, akkumuliert wurde, dürfte inzwischen jenem Deutschlands entsprechen. Doch immer wieder stößt der aufmerksame Beobachter in der japanischen Kapitale auf Zeugnisse der unseligen Ereignisse, die den Weg in die Katastrophe markierten."

Besprochen werden die Ausstellung Megahertz in Genf, die "Trojaner" in München, ein Konzert des Pianisten Rudolf Buchbinder in Zürich, eine Van-Gogh-Ausstellung in Frankfurt und die "Zonenrand-Ermutigung" in Cottbus.