Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2001.

TAZ, 18.06.2001

Gehört Kissinger in den Knast? Stefan Schaaf schreibt über das Projekt des britischen Autors Christopher Hitchens, den ehemaligen amerikanischen Außenminister vor ein Menschenrechtstribunal zu bringen: "Die am schwersten wiegenden Vorwürfe gegen Kissinger drehen sich um die völkerrechtswidrige Bombardierung Kambodschas und um den Vietnamkrieg. Hitchens ist nicht der erste, der den Vorwurf erhebt, Kissinger habe es ermöglicht, dass Richard Nixons Präsidentschaftskampagne 1968 Präsident Lyndon B. Johnson hinterging und die Pariser Friedensverhandlungen sabotierte. Nixons Leute ließen der südvietnamesischen Regierung mitteilen, sie möge bis zur Präsidentschaftswahl hart bleiben: Falls Nixon siege, werde es für Saigon bessere Konditionen geben, als ihnen Johnson gegenwärtig anbiete. Südvietnam blieb hart, die Verhandlungen brachen zusammen, und der Krieg dauerte mindestens vier Jahre länger." Deutsch findet sich Hitchens' Buch ? wir haben es mehrfach erwähnt ? in der Lettre International. (Siehe zu dem Thema auch unsere Magazinrundschau.)

Weitere Artikel: Volker Weidermann (designierter Literaturredakteur der kommenden FAZ am Sonntag, wie man hört) bespricht einen Band mit wieder ausgegrabenen Feuilletons von Joseph Roth (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr). Falko Hennig liefert die zweite Folge seines Tagebuchs vom Internationalen Literaturfestival in Berlin. Besprochen wird außerdem Thomas Ostermeiers Uraufführung von Biljana Srbljanovics "Supermarket" bei den Wiener Festwochen.

Schließlich Tom.

SZ, 18.06.2001

Katajun Amirpur schildert den Fall der ägyptischen Schriftstellerin Nawal Saadawi: "Saadawi ist eine recht laute und unbequeme Schriftstellerin und Feministin. Besonders bei Themen wie der in Ägypten sehr verbreiteten Beschneidung von Frauen hat sie nie ein Blatt vor den Mund genommen. Die Beschneidung, schreibt sie, sei den Frauen von den Männern aus derselben Logik heraus verordnet worden wie der Schleier; sie wollten damit die Sexualität der Frauen ihrer Kontrolle unterwerfen." Jetzt wird die Zwangsscheidung von ihrem Mann betrieben.

Wolf Lepenies (der ja mal als Berliner Kultursenator im Gespräch war und heute einen Vertrag mit der SZ hat) hat zwar keine Angst vor der PDS, ruft aber ihre Mitverantwortung für die jetzige Lage Berlins in Erinnerung: "Das Ereignis, das der Zukunft des vereinten Berlins am meisten geschadet hat und wofür die PDS die größte Verantwortung trägt, liegt fünf Jahre zurück. Es war die Ablehnung der Länderfusion durch Brandenburg im Mai 1996. Damit wurde auch in Berlin eine sinnvolle Industriepolitik unmöglich. Erst wenn Berlin aufhört, ein Land zu sein, werden seine Chancen wachsen, eine normale Großstadt zu werden und zugleich eine Hauptstadt, die nicht unentwegt die Regierung um emotionale Zuwendung und um finanzielle Zuschüsse bitten muss."

Ralph Hammerthaler hat ein Symposion über die freie Theaterszene in der Hamburger Kampnagelfabrik besucht und fragt sich ob die Unterscheidung zwischen freier und Stadttheaterszene überhaupt noch Sinn hat: "Was einem hier als freie Szene vorgestellt wird, hat kaum noch den Geruch von Straße; diese Szene kommt aus den Hochschulen und Universitäten, sie hat Regie-Klassen besucht und sich dann, statt sich in elendigen Regieassistenzjahren zu verzehren, selbst ausprobiert, mit kleinen Diplomarbeiten auf Kampnagel."

Herrmann Schreiber zeichnet ein ausführliches Psychogramm des Byreuth-Vorstehers Wolfgang Wagner und resümiert die aktuelle Lage nüchtern so: "Eva hat (wohl endgültig) abgesagt. Und Wolfgang weicht nicht. Dazu zwingen kann ihn nur der liebe Gott, bestimmt nicht der bayerische Kunstminister, auch nicht die Richard-Wagner-Stiftung, der das Festspielhaus seit 1973 gehört."

Weitere Artikel: Georg Diez möchte anhand der Göteborger Proteste die "Quellen des gegenwärtigen Antikapitalismus" identifizieren. Rainer Metzger bespricht eine Ausstellung der der Sammlung Essl in Klosterneuburg bei Wien ? präsentiert wird hier neue Kunst von australischen Aborigenes. Reinhard Schulz beschreibt ein europäisches Kompositionsprojekt unter Leitung Luciano Berios, das Bachs "Kunst der Fuge" in einem Gemeinschaftswerk mehrerr Komponisten aufgreift. Besprochen werden außerdem Karl Schlögels Buch "Promenade in Jalta und andere Städtebilder" und Thomas Ostermeiers Inszenierung von Biljana Srbljanovics Stück "Supermarket" in Wien.

FAZ, 18.06.2001

Einen originellen Vorschlag macht der Publizist Friedrich Dieckmann zur Berlin-Krise. Die Stadt sei auf sich gestellt, anders als in den 800 Jahren Geschichte fehle ihr das Hinterland, ohne das sie nicht funktionieren könne, eine Vereinigung mit Brandenburg würde wegen der Armut der beiden Partner kaum etwas bringen: "Viel besser wäre, wenn Berlin sich mit Bayern zu einem Land verbnde. Im Zeitalter der Telekommunkation sollte das keine besonderen technischen Schwierigkeiten machen." Was allerdings bedeuten würde, das man nun auch in Berlin nach 12 Uhr keine Weißwurst mehr kriegen würde.

Dirk Schümer nimmt die Tatsache, dass in Belgien ohne internationales Mandat Prozesse gegen Beteiligte am Völkermord von Ruanda stattfinden, zum Anlass für einige Fragen: " Kann bald jedes Land der Welt den ganzen Globus in einer Art moralischem Monopoly zur Rechenschaft ziehen? Ist die Diskriminierung der Frau in Saudi-Arabien nicht ebenso justitiabel wie die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten oder der Walfang in Japan? Das kleine Belgien ist dabei, sich zum Don Quichotte des Weltgewissens zu machen." Und nebenbei, so Schümer, mehren sich Hinweise, dass Belgien und sein "heiligmäßiger" König Baudouin direkt mit verantwortlich waren für den Mord am kongolesischen Befreiungskämpfer Patrice Lumumba.

Als einen Pragmatiker schildert Horst Rademacher George W. Bush, scheint dies aber vor allem deshalb zu tun, weil Bush bezüglich Theorien über Erderwärmung durch Kohlendioxid der gleichen Meinung ist wie er selbst: "Schließlich beruhen die Vorhersagen über die künftige Klimaentwicklung und die daraus abgeleiteten Hitzeszenarien auf Modellen, mit denen das Klima in Computern simuliert wird. Aber selbst die besten Modelle sind nicht in der Lage, alle klimarelevanten Vorgänge in der Atmosphäre und in den Ozeanen zu simulieren. Außerdem sind noch längst nicht alle Zusammenhänge verstanden. Dennoch werden die Ergebnisse dieser Modelle oft so verkauft, als seien sie ähnlich zuverlässig wie die Resultate der einfachen Formeln in der Mechanik oder Elektrodynamik. Das ist aber wegen der Kompliziertheit des Klimageschehens längst nicht so."

Dokumentiert wird die Rede, in der sich Hubert Markl von der Max-Planck-Gesellschaft für die Verfehlungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Nazizeit entschuldigte ? dieses Eliteinstitut war unter anderem verantwortlich für die Zwillingsexperimente in KZs: "Auch Spitzenforschung ist nicht gefeit gegen moralische Abgründe. Was damals im Namen der Wissenschaft zur Förderung von Rassismus und vorgeblich 'eugenischer' Menschenausmerzung geschah, waren Verbrechen, die für immer schwer auf der deutschen Wissenschaft lasten."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg war dabei, wie die kleine Stadt Sorgues des "Geisterzuges" gedachte, der hier einst Station machte ? es handelt sich um den letzten Deportationszug, der Frankreich in Richtung Deutschland verlassen konnte (Altwegg hat ein Buch über das Thema geschrieben). Edo Reents resümiert den Kirchentag und die Debatten innerhalb der Sozialdemokraten über die Forschung an Embryos, die auch hier aufbrachen. Renate Schostack gratuliert dem ehemaligen Bayerischen Kuturminister Hans Maier zum Siebzigsten.

Besprochen werden die Uraufführung von Biljana Srblanovic' "Supermarket" in Wien, die Ausstellung "Musik in der Malerei" im Palais Harrach, ebenfalls in Wien, Operetten von Händel und Rameau bei den Potsdamer Musikfestspielen, die Uraufführung von Patrick Marbers Stück "Howard Katz" in London, die Jürgen-Klauke-Retrospektive in der Bundeskunsthalle Bonn und die Choregraphie "The Glorious Future" von Kim Itoh in Düsseldorf. Ferner gibt es eine ganze Sachbuchseite, auf der es untere anderem um die "Bobos" geht.

FR, 18.06.2001

Christian Holl prangert den städtebaulichen Furor des Stuttgarter Bürgermeisters Wolfgang Schuster an, der nun besonders monströse Blüten treibt: "Ein 200 Meter hoher, gläserner Büroturm soll bis zum Jahr 2004 auf dem Pragsattel, am nördlichen Kesselrand der Stuttgart Innenstadt gebaut werden. Bauherr: Die Trump Deutschland AG. Weder gab es einen architektonischen Wettbewerb, noch wurde der Gemeinderat rechtzeitig informiert, geschweige denn ein städtebauliches Konzept erarbeitet, in das dieser Turm nun eingefügt wird."

Harry Nutt ist gespannt auf die Ankunft der PDS in der Bundesrepublik: "Jenseits der angemahnten Entschuldigungsrituale wird die PDS eine Geschichte erzählen müssen, wie man aus sozialistischer Systemtreue in das Feld demokratischer Institutionen übertritt. Ihr politische Ankunft könnte so gesehen auch zu einem Projekt der Selbstaufklärung werden. Das WWW, das neue Netzwerk der Berliner Politik, Wieland, Wowereit und Wolf, wird sich als Generationserzählung jenseits der Rhetorik des Kalten Krieges etablieren müssen. Das verspricht allemal überraschende Plots."

Besprochen wird Thomas Ostermeiers Inszenierung von Biljana Srbljanovics Stück "Supermarket" bei den Wiener Festwochen.

NZZ, 18.06.2001

Eine "traurige Globalisierung im Unglück" erkennt der serbische Schriftsteller Bora Cosic in den Ländern Südosteuropas, und vor allem in Rumänien und in Serbien: "Als hätte das letzte schreckliche Jahrzehnt im Südosten Europas eine neue Föderation geschaffen, ein Commonwealth des Elends. Das nicht nur bis zu dem Tisch reicht, an dem man sein täglich Brot isst, sondern bis in die Herzen der Menschen und zu dem Schatten auf ihren Gesichtern."

Eine schöne Reportage über die Stadt Jaffa, die heute zu Tel Aviv eingemeindet ist, schickt Naomi Bubis. Hier leben etwa gleich viel jüdische und arabische Israeli: " Jaffa ist eine Stadt der extremen Kontraste: arm und reich; jüdisch und arabisch; modern und traditionell. Neben Schutthalden und Drogenumschlagplätzen werden Paläste aus der Zeit des britischen Mandats restauriert, hinter Sanddünen und windigen Wellblechhütten entstehen luxuriöse Wohnhäuser im Bauhaus-Stil."

Stefana Sabin porträtiert einen Schriftsteller, der in Haifa einen "Buchladen ohne Bücher und ohne Laden" betreibt: " Der Schriftsteller Itamar Levy, 1956 in Tel- Aviv geboren und 1997 mit 'Buchstaben von der Sonne, Buchstaben vom Mond', einem großartig gelungenen Roman über die erste Intifada, bekannt geworden, betreibt in diesem Hangar am Strand von Zerufa ein vielfältiges Geschäft mit Büchern: Buchhandlung, Internet-Buchhandlung, Versand, Antiquariat. Am Eingang steht gleich rechts ein übervoller Schreibtisch, sonst stellt ein runder Tisch zwischen den Regalen das einzige Mobiliar dar - außer den schlichten, metallenen Regalen selbst, die den Raum durchziehen. Auf diesen Regalen sind die Bücher nach Sprachen sortiert, denn nicht nur hebräische, sondern auch deutsche, englische und französische, russische und polnische, sogar chinesische Texte gibt es hier."

Besprochen werden Vincenzo Bellinis "Beatrice di Tenda" im Zürcher Opernhaus, eine Issey-Miyake-Ausstellung in Berlin, Smetanas "Verkaufte Braut" im Stadttheater St. Gallen, eine Frankfurter Ausstellung über den Rabbiner Leo Baeck und Biljana Srbljanovics "Supermarket" in Wien.