Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2001.

TAZ, 08.06.2001

Daniel Bax interviewt den Popstar Manu Chao, der als Kind spanischer Emigranten in Paris aufwuchs und mit einer spanisch-französisch-arabischen Musikmischung vor allem in Südamerika als Idol verehrt wird. Er spricht auch über seine Sympathie für die Guerillabewegung von Chiapas: "Was mir an dieser Bewegung gefällt, ist, dass sie sich auflösen will, sobald sie ihr Ziel erreicht hat. Sie wollen keine Macht. Sie wollen lediglich in einer anderen Art und Weise leben wie der Rest des Landes, nach eigenen Regeln. Das heißt aber nicht, dass ich jede Art von Guerillabewegung unterstütze - einige davon sind Arschlöcher und sehr gefährlich."

Harald Fricke liefert Impressionen von der Biennale in Venedig: "Venedig ist nasser als nass. Stundenlang hat es geregnet, Katzen und Hunde oder, wie der Italiener sagt, Gnocchi und Pasta. Jetzt sieht der Markusplatz wie ein verstopfter Abfluss aus. Riesige, bis zu dreißig Zentimeter tiefe Pfützen machen das touristische Zentrum der Stadt praktisch unpassierbar. Da wirkt selbst die Videoarbeit von Fabrizio Plessi sympathisch: Für 'Waterfire' laufen auf 15 Screens an der Frontseite des Platzes ununterbrochen Wasserfälle, während die Kellner in den Cafes rundherum auf einsam vor sich hin schwimmende Stühle und Tischchen starren."

Weitere Artikel: Reinhard Kahl kommentiert den Friedenspreis für Habermas. Thomas Winkler stellt die Band Bran Van 3000 vor. Besprochen werden außerdem Hiroyuki Tanakas Film "Monday" und "Amnesiac", die neue CD von Radiohead.

Schließlich Tom.

FR, 08.06.2001

Der Dichter Franzobel gratuliert Österreich aus Anlass der Goldenen Hochzeit von Otto und Regina, denn wenn die Habsburger eine Goldene Hochzeit feiern, dann sei das irgendwie auch ein gesamtösterreichisches Großfamilienfest: "Wie den Griechen, wenn sie eine Geschichte der Philosophie, eine Griechische Mythologie oder eine Geschichte der Olympiade zur Hand nehmen, ergeht es uns, wenn wir nach Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Polen, Slowenien, Norditalien oder auf den Balkan kommen. Schönbrunnergelb und Zuckerlrosa, Doppeladler, Gründerzeitarchitektur. Der flossenbärtige, neptunische Kaiser überall. Hotels, Straßen, Speisen und Getränke sind nach ihm benannt. Und dreht man irgendwo an einem Hahn, kommt es heraus - das ozeanische Uns-gehörte-das-einmal. Sedimente trauen sich hervor, altösterreichische Ablagerungen, dass man sich vorkommt wie eine monarchistische Tropfsteinhöhle, ein janusköpfiger Doppeladler-Balg."

Tanja Busse schreibt über den Boxkampf Laila Ali und Jacqui Frazier-Lyde: "Der Form nach sind sie Faustkämpferinnen, ihre eigentliche Disziplin ist der Fortsetzungsroman. Ihr Kampf ist so etwas wie Rocky IV oder der Roman Laras Tochter - Das Schicksal der großen Liebe von Doktor Schiwago, Nachfolger eines Originals, das gut genug war, um mit dem Versprechen einer billigen Kopie die Zuschauer locken zu können."

Weitere Artikel: Hans-Klaus Jungheinrich liefert nachgetragene Notizen vom 27. Open Ohr Festival in Mainz, Elke Buhr berichtet von der Biennale in Venedig, Karin Ceballos Betancur porträtiert den Musiker Manu Chao, der auf Europatournee kommt, Christian Schlüter erklärt, warum es kein Zufall ist, dass Jürgen Habermas den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, und Ulf Erdmann Ziegler war bei einem Jazzkonzert polnischer Musiker, das einige Erinnerungen in ihm weckte.

Besprochen werden Paul-Heinz Dittrichs Musiktheater "Zerbrochene Bilder" in Rheinsberg, Günter Krämers Wiener Erstaufführung von Verdis "Nabucco", eine Ausstellung mit Fotografien und Filme von Sam Taylor-Wood im Pariser Centre national de la photographie und Bran Van 3000' Mixtape "Discosis".

NZZ, 08.06.2001

Eine fällige Betrachtung von neutralem Boden aus. Joachim Güntner denkt nach, "wie ein deutsches Bundeskulturministerium aussehen könnte". "Die Devise lautet: 'Bundespolitische Kompetenzen weiter bündeln, ohne den Ländern etwas wegzunehmen'. Den Tribut, den ein von Nida- Rümelin zugeschnittenes Bundeskulturministerium fordern würde, hätte das Auswärtige Amt zu zahlen. Dort sind die - mit der regierungsnahen Mittlerorganisation Inter Nationes verschmolzenen - Goethe-Institute, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die Auslandschulen angesiedelt, und der kulturpolitische Etat des Hauses beträgt 1,1 Milliarden Mark. Würde ein künftiges Bundeskulturministerium dieses Terrain arrondieren, täte das keinem Föderalisten weh, denn um Bundeskompetenzen und Bundesgelder handelt es sich ja jetzt schon. Nida-Rümelin aber hätte seinen derzeitigen Etat um fast zwei Drittel gesteigert. Bayerns Kultusminister darf seine Verfassungsklage getrost vergessen. Außenminister Fischer allerdings wird das sich abzeichnende Szenario auf Dauer wohl kaum unkommentiert lassen können."

Naomi Bubis schildert die Stimmung in Tel Aviv, nach dem Selbstmordattentat eines Palästinensers am Wochenende: "Der Schock schwindet nur langsam. In Tel Aviv sind Cafes, Bars, Restaurants, Strand und Einkaufszentren leerer als sonst. Trotz der von den Palästinensern proklamierten Waffenruhe befinden sich die Sicherheitskräfte in Alarmbereitschaft, an den Autobahnabfahrten und Zufahrtsstraßen nach Tel Aviv wurden Kontrollpunkte errichtet. Passanten zucken zusammen, wenn ein Auspuff knallt, eine im Cafe vergessene Tasche wird zur Bedrohung. Der israelische Apothekerverband meldete, der Verbrauch von Beruhigungsmitteln sei in den letzten Monaten um 22 Prozent gestiegen. Es fällt den Menschen schwer, sich auf Alltag und Arbeit zu konzentrieren."

Weitere Artikel: Klaus Witzeling resümiert Tom Strombergs erste Saison am Hamburger Schauspielhaus. Besprochen werden eine Tibetica-Ausstellung im Basler Museum der Kulturen und die Hermann-Broch-Ausstellung in Marbach.

SZ, 08.06.2001

München denkt weiter über Berlin nach. Klaus Harpprecht fordert zum wiederholten Male in der SZ, aus Berlin einen zentralstaatlich verwalteten "District of Columbia" zu machen. "Der Gordische Knoten muss jetzt durchschnitten werden, mit einem kühnen Hieb. Berlin und sein System sind am Ende. Warum also, in Gottes Namen, kann nicht in raschen Anläufen ein Bundesdistrikt geschaffen werden, für den der Bundestag ? nicht die Regierung! ? die volle Verantwortung übernimmt, politisch und finanziell? Dabei wäre aus den Fehlern und Versäumnissen unserer transatlantischen Vettern dieses und jenes zu lernen. Dem Präsidenten des Bundestages fiele gleichsam das Amt des Oberbürgermeisters zu. Die Aufgaben der Administration sollte durch ihn einer Kommission zugewiesen werden, deren Mitglieder mit der Zustimmung einer einfachen Mehrheit des Bundestages zu ernennen sind (jeden Rückgriff auf die 'abgetanzte' Personage des Berliner Systems tunlichst meidend). Der Haushalt bedürfte der Genehmigung durch das Parlament ? oder wenigstens durch seinen Etat-Ausschuss. Der Bund nähme, das versteht sich, sämtliche öffentlichen Kultur-Institutionen in seine Obhut: unter der Aufsicht des Kultur-Staatsministers."

Bernd Graff berichtet über erbitterte Streitigkeiten im Internet über die von Harald Schmidt bei der Deutschen Grammophon betreute Bach-Platte. Sie kam in der "trifft"-Serie zustande, in der sich zum Beispiel auch Iris Berben mit Verdi befasst. Graff zitiert aus einem Forum: "'So wie man nicht mal nebenbei seinen Schopenhauer liest, hört man auch nicht mal nebenbei 'beim Baden' die 'Matthäuspassion'', meint etwa einer ? und weiter: 'Was wir brauchen sind keine bügelnden Hausfrauen, die 'nebenbei' Barockmusik hören. Was wir brauchen sind neue Eliten!'" Ludwig XIV. hat seine Barockmusik allerdings auch nebenbei gehört!

Eine "immense Fallhöhe" hat die Debatte über die Naturwissenschaften durchlaufen, meint Jakob Augstein. Es fing an mit Bill Joys grandioser Frage, ob die Zukunft uns braucht, und nun? "Was als großes Nachdenken über große Dinge begann ? etwa: Grenzen der Erkenntnis und Erkenntnis der Grenzen ?, ist mittlerweile auf die Frage reduziert: Was machen wir mit embryonalen Stammzellen? Ein schlichtes Ethik-Ratespiel im politikgerechten Fernsehformat: Liebe Zuschauer, hier sehen Sie ein erbkrankes Kind und hier den totipotenten Ur-Schleim. Wie würden Sie entscheiden?"

Weitere Artikel: Jürgen Habermas bekommt in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und Oskar Negt freut sich darüber in vielen Worten: "Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Jürgen Habermas ist überfällig und wird ihn kaum überraschen." Reinhard Schulz beschreibt, wie "Warner seine Klassik-Labels Teldec und Erato ruiniert". Claus Koch schimpft in seinen "Noten und Notizen" auf die westliche Massenzivilisation, den Ethikrat und Deutschland. Martin Urban berichtet, dass die Max-Planck-Gesellschaft in Studien und tätigen Entschuldigungen den Anteil der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus eingesteht. Johannes Willms nimmt Ulrich Greiners Essay über die selbstbezügliche Presse in der Zeit aufs Korn und weist ihm eine falsche Subjekt-Objekt-Beziehung nach. Arno Orzessek hat Karl-Heinz Bohrers Antrittsvorlesungen am Gadamer-Lehrstuhl in Heidelberg zugehört.

Besprochen werden die Uraufführung von Karl Otto Mühls Stück "Das Privileg" in Wuppertal, Robert Wilsons "Walküre"-Inszenierung in Zürich und das Moers-Festival.

FAZ, 08.06.2001

Heinrich Wefing beschreibt die "Berliner Verzweiflung", die nach dem Bruch der großen Koalition über der Stadt liegt. So ausgelaugt sei die politische Klasse, dass "Hochdruckplauderer" Gregor Gysi Glanz verbreiten kann. Allein: "Irgendeinen frischen Gedanken, irgendeine Blaupause für das künftige Selbstbild der abgewirtschafteten Hauptstadt hat auch die PDS nicht zu bieten. Vermutlich ist es aber genau diese Anverwandlung an das in Berlin sattsam Vertraute, der Mangel jeden utopischen Überschusses im PDS-Programm, der es den Sozialdemokraten in der Kapitale erlaubt, sich der SED-Nachfolgepartei anzunähern".

Der Rechtsmediziner Hans-Bernhard Wuermeling plädiert dafür, "verwaiste Embryonen" nicht wegzuschütten, sondern zur Adoption freizugeben. Das Embryonenschutzgesetz, das die Embryonenspende mitsamt Leih- und Tragmutterschaft verbietet, stünde einer Adoption nicht entgegen: "Nur bei einer ungeplant eingetretenen Verwaisung ist ein übergesetzlicher Notstand eingetreten, in dem das Lebensrecht des Embryos über der Strafbarkeit seiner Übertragung in eine fremde Frau stehen würde. Dieser Embryonentransfer wäre dann zwar gesetzwidrig, aber nicht rechtswidrig." Sei die Übertragung des Embryos in eine fremde Frau dagegen bereits bei seiner Erzeugung geplant gewesen, behalte das Gesetz seine volle Gültigkeit, so Wuermeling. Nur wie will man das beweisen?

Joseph Hanimann berichtet über die Veröffentlichung der Tagebücher des 1976 verstorbenen Schriftstellers Paul Morand, die in der französischen Presse mit fasziniertem Entsetzen besprochen wurden. Morand war ein Rechter, der der Vichy-Regierung als Botschafter gedient hatte. Seine Tagebücher sind voll peinlicher Ausfälle gegen Juden, Homosexuelle und Kommunisten. Der Mann war aber auch ein Ästhet, ein Dandy, ein brillanter Stilist: "'Morand, trotz allem' - dieser Titel, mit dem Philippe Sollers seine Kritik überschrieb, könnte über den meisten Reaktionen stehen: Und jeder sucht sich das heraus, was ihn bei Morand trotz allem anzieht. Bei Sollers ist es der auf keine Moral achtende Hang zur unersättlichen Lustbefriedigung. Bei anderen ist es der souveräne Umgang mit Impressionen und literarischen Themen. Bei allen ist aber auch eine Faszination dabei für diesen Ästheten, der rücksichtslos bis zur Vulgarität in den unschönen Seiten seines Ich herumstochert."

Der Schriftsteller David Flusfeder verspricht eine Reportage über den Wahlkampf einer Tory-Abgeordneten, beschreibt dann aber vor allem ziemlich klischeehaft den Niedergang der Torys und leistet sich ein paar höchst unangenehme Sticheleien gegen die eskortierte Tory-Abgeordnete Anne Widdecombe: "Im Volksmund heißt sie 'Doris Karloff' wegen ihrer erschreckenden politischen Ansichten und ihres leicht merkwürdigen Aussehens (Topfhaarschnitt, klein mit dünnen Gliedern und einem mächtigen, unförmigen Torso)." Man kann nur hoffen, dass Flusfeder deutlich attraktiver ist als die Dame.

Weitere Artikel: Paul Ingendaay erzählt, wie Graham Greene an seinem Geburtsort Berkhamsted weiterlebt. Lorenz Jäger gratuliert Jürgen Habermas zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und erwartet bei der Verleihung am 14. Oktober "eine spannungsvolle, politische und politisierende Rede". Horst Rademacher skizziert die Geschichte des chinesisch-amerikanischen Hackerkriegs, den die Chinesen nach dem "Luftzwischenfall vor der chinesischen Küste" begonnen hatten. Wolfgang Schuller begeistert sich für ein neues Gymnasium in St. Petersburg, denn "hier gab es die einfache und richtige Vorstellung, dass die alten Sprachen in Verbindung mit dem strengen Denken der Mathematik die besten Voraussetzungen dafür geben, dass sich begabte junge Menschen der Gegenwart und deren Herausforderungen stellen können". Joseph Croitoru berichtet über einen Brief der Witwe des verstorbenen Friedenskämpfers Yaakov Shabtai an die rechte Publizistin Geula Cohen, der für Aufsehen gesorgt hat, weil Frau Shabtai darin fordert, die israelische Regierung möge sich endlich eingestehen, dass sie sich im Krieg mit den Palästinensern befindet. Der Bildhauer Olaf Metzel gratuliert Klaus Bußmann zum 60. Geburtstag, und in einer kurzen Notiz wird das Ende des Hamburger Hansa-Theaters prophezeit.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Harry Weber im Kunsthistorischen Museum Wien, die Aufführung von Moritz Rinkes "Republik Vineta" in Bielefeld und Bonn, eine Ausstellung mit Bildern von Anton Kerschbaum in der städtischen Galerie Rosenheim, der japanische Film "Monday" von Sabu, Berlioz' "Damnation de Faust" an der Pariser Bastille, eine Ausstellung des Künstlers Enrico Castellani in der Fondazione Prada in Mailand und neue Sachbücher, darunter Daniel McNeills Kulturgeschichte des Gesichts (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Die Schallplatten- und Phonoseite widmet sich dem Kölner Minguett Quartett, Aufnahmen von Brian Eno und J. Peter Schwalm sowie der 2. und 3. Symphonie von Schostakowitsch mit Neeme Järvi und dem Gothenburg Symphony Orchestra and Chorus.