Fallende Blätter

Gibt es einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit?

Von Thomas Steinfeld
15.09.2003. Droht die deutsche Öffentlichkeit durch die Zeitungskrise auch ihr einziges Forum der intellektuellen Auseinandersetzung zu verlieren - die Feuilletons? Thomas Steinfeld, Literaturchef der Süddeutschen Zeitung stellt Fragen zu einem dramatischen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Ein Kolloquium in Halle wird nach Antworten suchen.
Über mehr als zehn Jahre hinweg, von Mitte der achtziger Jahre bis zum Jahr 2001, erlebten die Feuilletons der großen, überregionalen deutschsprachigen Zeitungen einen Boom, wie es ihn in der Geschichte des Kulturjournalismus noch nicht gegeben hatte. Beginn und Ende dieses Booms sind zeitlich genau zu definieren: Er beginnt mit dem Historikerstreit und endet mit dem Zusammenbruch des Neuen Marktes. Während dieser Periode waren die Feuilletons das Zentrum der kulturellen und intellektuellen Öffentlichkeit in den deutschsprachigen Ländern.

Für diese Entwicklung gibt es mehrere Gründe:

1. Der geringer werdende Handlungsspielraum der nationalen Politik, bedingt nicht nur durch eine größere Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft, sondern auch durch die Entwicklung größerer, internationaler politischer Einheiten, allen voran die Europäische Union. Dieser Prozess hat zur Folge, dass politische, soziale und wirtschaftliche Auseinandersetzungen nicht mehr auf den Straßen, sondern in Debatten ausgetragen werden. Seitdem sind die großen Feuilletons politisiert.

2. In den achtziger Jahren ist die Demokratisierung der Universitäten wenigstens in den Geisteswissenschaften so weit vorangeschritten, dass alle Ansprüche auf Wahrheit und allgemeine Geltung dem Partikularismus wettbewerbsbewusster Schulen, Methoden und Ansätze gewichen sind. Für die beteiligten Disziplinen hat das zur Folge, dass sie für die Öffentlichkeit ihren Status als Vermittler von Orientierungswissen verlieren und unter der Perspektive des Expertentums betrachtet werden.

3. Die großen Zeitungen kommen diesen Entwicklungen entgegen, da sie zum einen - im Unterschied zu den audiovisuellen Medien - von vornherein durch eine technisch unausweichliche Verspätung gekennzeichnet sind, die eine der Voraussetzungen für intellektuelles Arbeiten sind. Bedingt durch eine florierende Wirtschaft und steigende Anzeigenaufkommen, standen den Zeitungen immer mehr Nettoseiten zur redaktionellen Bewirtschaftung zur Verfügung. Dabei ging die Aufteilung der klassischen Wirtschaftsteile in Wirtschaftspolitik und Finanzmarkt, nicht zuletzt aus technischen Gründen, mit der Umfangserweiterung der Feuilletons einher. Diese waren nun plötzlich in der Lage, neben der Erledigung ihrer Grundaufgaben (Rezensionen und Ereignisberichte aus allen Künsten) die Lage der Welt en gros und en detail zu verhandeln. Das zeitdiagnostische Raisonnement entwuchs der klassischen Spartenkritik und etablierte sich als eigenständiges, politik- und wissenschaftsnahes Genre, flankiert von den allseits neu eingerichteten Medienseiten, deren Aufgabe es wurde, die Medien - und darin nicht zuletzt die Feuilletons - in ihrer Macht zu deuten.

Die Vergrößerung der Feuilletons entwickelte daraufhin eine eigene Dynamik:

1. Die Grenze zwischen den Feuilletons der großen überregionalen Tageszeitungen und den intellektuellen Zeitschriften wurde durchlässig, vor allem ging die Expansion der Tagesfeuilletons zu Lasten der vormals exklusiven Funktionen der Wochenzeitungen. Viele ihrer Genres wurden von den Feuilletons der großen Tageszeitungen übernommen, denn bei Umfängen bis zu zehn Seiten täglich war es ihnen leicht möglich, lange Essays, Reportagen und Erzählungen aufzunehmen.

2. Die neue Bedeutung des Feuilletons spiegelten sich in anderen Medien, die zum Spielpartner der Feuilletons wurden, Debatten weitersponnen, Anregungen aufnahmen und weitertrieben. Die "Harald-Schmidt-Show" oder auch die Sendungen von Roger Willemsen mögen das prägnanteste Beispiel eines solchen Feuilletonismus in einem anderen Medium sein.

3. Der bemerkenswerte Aufschwung der deutschsprachigen Literatur in den neunziger Jahren ist ohne die vergrößerten Feuilletons kaum vorstellbar. Im ständigen Wechselspiel zwischen Verlagen und Zeitungen wurden sehr viele junge Schriftsteller zu ständigen Mitarbeitern der Feuilletons, und zwar vor allem in der literarischen Reportage. Wenn dieses Genre noch heute einen großen Teil der deutschsprachigen Literatur definiert (von Felicitas Hoppe bis zu Durs Grünbein, von Burkhard Spinnen bis zu Annette Pehnt ), so liegt das vor allem an dem Forum, das durch das Feuilleton entstand.

Die Feuilletons reagierten auf ihren Bedeutungsgewinn nicht nur, indem sie ihre genuinen Talente, das Reflexive, Distanzierte, Kommentierende entwickelten, sondern ihre Macht und Freiheit zunehmend nutzend, um selbst Themen zu setzen.

1. Die radikale Ausweitung des Feuilletons in den vergangenen Jahre provozierte Versuche, mit den Mitteln eines gestischen, performativen Journalismus (und mit einem extrem hohen Kapitaleinsatz) eine Art von intellektueller Alleinherrschaft zu etablieren. Viele große Engagements der Feuilletons in dieser Zeit hatten zum Ziel, den Gegenstand, über den reflektiert werden sollte, selbst zu erfinden und dadurch allein über ihn zu herrschen.

2. Diese Aktionen stießen auf zunehmenden Widerstand beim Publikum wie bei einer Konkurrenz, die offenbar an den Tugenden des Journalismus festhalten wollte und die Minderung der reflexiven Distanz, die Kampagnen für die angewandten Naturwissenschaften, die Verherrlichung von Jugendlichkeit und Leichtsinn auf Kosten der Kritik ablehnte.

3. Die Auflagenverluste, die einige der großen Zeitungen gegenwärtig hinnehmen müssen, hängen zum Teil gewiss auch damit zusammen, dass die ökonomische Krise der Zeitungen mit einer latenten oder manifesten publizistischen Orientierungskrise der Zeitungen und zumal ihrer Feuilletons einhergeht.

Die gegenwärtige ökonomische Krise der Zeitungen ist so gravierend, dass es Grund gibt, an ihrem Fortbestand in ihrer vertrauten Form zu zweifeln. Damit wäre aber zugleich das mittlerweile einzige Forum der intellektuellen Auseinandersetzung in der großen Öffentlichkeit verschwunden: Die Zeitschriften, die sie ersetzen könnten, sind marginalisiert, die audiovisuellen Medien können die Aufgaben aus konstitutionellen Gründen nicht ersetzen, die Universität ist nicht einmal mehr ein Ansprechpartner.

Die Zeitungsbranche, zumal im Feld der nun von den Anzeigeneinbrüchen betroffenen Tageszeitungen, ist eine relativ krisenunerfahrene Branche, vergleicht man sie etwa mit der Bauwirtschaft. Anders, als man erwarten könnte, reagiert sie aber nicht, weil 'geistnäher' in reflexiverer Art und Weise auf die Krise als die Bauwirtschaft. Das hektische Krisenmanagment erfolgt betriebswirtschaftlich-pragmatisch, die konzeptionelle Definition und Selbstvergewisserung über das Produkt Tageszeitung wird bisher nicht systematisch betrieben.

Ein Kongress der Bundeskulturstiftung hat die Aufgabe, diese Lücke zwischen ökonomischer und publizistisch-strategischer Krise des Mediums überregionale Tageszeitung zu schließen. Sie soll eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation machen, sie historisch zurückverfolgen und vor allem nach Wegen suchen, wie eine große intellektuelle Öffentlichkeit auch unter den gegenwärtigen Bedingungen fortbestehen kann beziehungsweise welche Maßnahmen zu treffen wären, um ihren Bestand zu gewährleisten.


Vom 18. bis 20. September werden sich Journalisten, Geisteswissenschaftler und Autoren bei einer Konferenz über Funktion, Rollenverständnis und Wandel des Feuilletons verständigen. Thomas Steinfeld, Literaturchef der SZ, benennt in einem Eröffnungstext die Perspektiven: Droht Deutschland durch die Zeitungskrise der Verlust seines einzigen Forums intellektueller Auseinandersetzung? Der Perlentaucher wird die Hallenser Tagung mit einer kleinen Kolumne begleiten. Zugleich ruft er seine Leser und Leserinnen, die ja auch zu den intensivsten Lesern des Feuilletons gehören dürften, zur Stellungnahme auf: Fürchten Sie ums Feuilleton? Warum? Und was sollte es anders machen? Ernstgemeinte E-Mails an chervel@perlentaucher.de.