Fallende Blätter

Bangemachen gilt nicht

Von Wolfram Schütte
28.09.2003. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit betrifft nicht nur die Feuilletons, sondern die Aktualitätsmedien insgesamt. Sie brauchen ein Feuilleton, das sich ihm widersetzt.
Dank Perlentaucher kann man an dem von Thomas Steinfeld angezettelten Hallenser Treffen über das Feuilleton und der dort verhandelte Debatte simulativ teilnehmen. Unsere Leser setzen die Diskussion um das Feuilleton fort (eine Übersicht mit allen Artikeln). Hier ein Beitrag von Wolfram Schütte.

Es ging, wenn ich das richtig sehe, dort um zwei Themen:

1. Um die Zukunft des durch den Boom des vergangenen Jahrzehnts umfangreicher und thematisch ausgreifender gewordenen Feuilletons in der überregionalen Presse. Und

2. um das Erscheinungsbild der derzeitigen Großfeuilletons, seiner Präferenzen und Wertungen.

1. Steinfelds Beunruhigung über einen möglichen "Strukturwandel der Öffentlichkeit" in Hinblick auf das Feuilleton ist berechtigt. Aber der Strukturwandel betrifft die Tages- & Wochenzeitungen insgesamt und deren Qualitätsjournalismus im besonderen. Die ökonomische Basisfinanzierungen der Zeitungen durch Klein- & Großanzeigen sind künftig nicht mehr gesichert. So wie es war, wird es nie mehr sein - auch wenn sich "der Markt" wieder "erholt".

Aber auch Auflage allein sichert keine Zukunft (für überregionale Qualitätszeitungen schon gar nicht), und bald wird der Zeitungsleser unendlich viel mehr dafür bezahlen müssen, um seine Qualitätszeitung täglich oder wöchentlich in Händen halten zu können. Und wenn es dann erheblich teurer sein wird, einen besonderen Geschmack und intellektuellen Anspruch zu haben, der nicht massenkompatibel ist, wird sich zeigen, was an die Stelle des oft verhöhnten Bildungsbürgertums in unserer Gesellschaft getreten ist; und was dann vom Feuilleton noch übrig sein wird.

Noch ist die Zeit des Offenbarungseides nicht gekommen. Ihn zu verhindern, unternehmen die Qualitätszeitungen alle möglichen Anstrengungen. Um ihren Print-Inserenten ein möglichst großes und möglichst attraktives Käuferpublikum anzubieten, soll die Auflage nicht nur stabilisiert, sondern erhöht und als Zielgruppe ein möglichst junges, kaufkräftiges, modernes Publikum favorisiert werden, dem aber nicht nur die inserierten Waren, sondern auch die gedruckten Texte verlockende "Liebesblicke" zuwerfen sollen. Dies scheint umso dringlicher, weil die "Kulturtechnik" der Zeitungslektüre und der daraus gezogene individuelle Lustgewinn (schon gar mit dem Feuilleton) dramatisch im Schwinden begriffen ist und sowohl "Information" als auch "Unterhaltung" (eins im anderen) synergetisch & passiver durch den TV-Medienkonsum zu befriedigen ist. (Schließlich gehört heute, selbst für Sozialhilfeempfänger, das TV-Gerät zur Grundversorgung, nicht aber die Zeitung.)

Um mit diesem "Feind" konkurrieren zu können im Kampf um Aufmerksamkeit bei den "Konsumenten" (von Lesern spricht schon kaum einer mehr, und wenn deren selbsternannte Sprecher auftreten, verlangen sie "Leserfreundlichkeit": als Konsumenten), versucht die Printpresse, ihm mit allen Mitteln ähnlich zu werden: "lesbarer", besser: "überschaubarer", nämlich mit erhöhtem Bild- und Farbanteil, bei gleichzeitiger Textreduktion qua Schriftvergrößerung und breiterem Zeilenabstand. Identifikation mit dem Angreifer, statt Distinktionsgewinn durch Differenz. "Dienstleistung" als "Service", d.h. unmittelbarer Gebrauchswert der Textprodukte ist "da angesagt", was nichts anderes bedeutet, als die lückenlose, konkurrenzwirtschaftliche Ökonomisierung der Printprodukte in jenem Bereich, der bislang davon weitgehend verschont geblieben war: den redaktionellen Arbeiten im Namen der bürgerlichen Öffentlichkeit, zu deren unzensierter Information und Meinungsbildung die Presse beitragen soll.

Folglich findet nicht nur ein verschärfter Konkurrenzkampf nach außen (unter den Tageszeitungen, aber auch mit Wochenzeitungen und Illustrierten!) statt, sondern erst recht innerhalb: Ressort gegen Ressort kämpft schon längst um die Wahrnehmung des imaginären Gesamtzeitungslesers, dessen Aufmerksamkeit man sich versichern will, indem ihm jede "Schwellenangst" genommen werden soll. Alles mühelos allen greifbar zu machen: für dieses Ziel eines kapitalisierten "Kommunismus" hat Pasolini das Wort "Konsumismus" in Umlauf gesetzt.

Ich halte die Marketingidee vom Gesamtzeitungsleser (der für alles potentiell gleiches Interesse und eine verlängerte Verweildauer aufbringt, wenn man es ihm nur konsumierbar zurichtet), für fundamental falsch, noch denke ich, daß man - und zwar in jedem Bereich der Printmedien (ob Lokales, Wirtschaft, Sport etc.) - ohne einen Fundus von Grundkenntnissen, ohne kontinuierliche Teilhabe etwas Substantielles verstehen kann. Das trifft naturgemäß auf das im Feuilleton Besprochene, Verhandelte & Kritisierte erst recht zu, weil seine Gegenstände nicht zu den unmittelbaren Lebens-Mitteln gehören. Insofern hat der Kollege, den Thierry Chervel am Ende seines Berichts mit der Bemerkung zitiert, er diskutiere nicht mit Leuten, die nicht regelmäßig das Feuilleton läsen, gar nicht den unausgesprochenen Vorwurf der Arroganz oder des Elitärismus verdient. Er fordert nur Kompetenz, sprich: Kenntnis des Stoffs ein, über den verhandelt und der kritisiert werden soll.

Steinfelds Befürchtung, das gegenwärtige Feuilleton werde im Krisenmanagement der Printbranche wieder nur als verzichtbarer Luxus für eine Minderheit angesehen und entweder radikal zurückgeschnitten oder "verbraucherfreundlich" umfunktioniert, ist also nicht aus der Luft gegriffen. "Feuilletonismus" war früher schon ein abfällig gebrauchtes Fremdwort im Sprachschatz der anderen Journalisten. Die Gefahr, sich heute und jetzt nicht offensiv als das zu behaupten, was man von jeher war - nämlich das eher tausch- als gebrauchswertige Surplus für eine qualifizierte Minderheit von Intellektuellen -, ist umso größer, als von den jüngeren Feuilletonisten der & das Intellektuelle in Verruf gebracht wurde und sie längst eher das bourgeoise Denken des kapitalistischen Wirtschaftens internalisiert haben, als in ihrem Bewusstsein noch das Selbstverständnis des diesem widerstreitenden Citoyens zu besitzen. Denn eher will man als erster im Mainstream der Kulturindustrie mitschwimmen und auf dem Boulevard des Bunte- & Bild-Gossips auch sein Bein heben und seine Duftmarke setzen, als gegen den Strom und seine werblichen Windmaschinen für das von ihm Verdrängte, in ihm Marginalisierte Platz schaffen und den populistischen Schwachsinn des Augenblicks seiner Selbstverwertung am angestammten Schrottplatz überlassen. Womit ich beim zweiten Thema wäre: der Selbstdarstellung des Feuilletons.

2. Der Boom, den Steinfeld mit dem Historikerstreit und dem Ende des bipolaren politischen Weltbilds nach 1989 beginnen und mit dem Zusammenbruch des Neuen Marktes enden läßt, hat es den überregionalen Feuilletons erlaubt, ihre angestammten Rezensionsfelder der klassischen Genres zu verlassen und neue zu betreten. Daraus wurde das Essay- und Debattenfeuilleton, das mit einem "erweiterten Kulturbegriff" Ernst machte, der allerdings schon längst in den avanciertesten Kultursendungen des Rundfunks (z.B. dem "Kritischen Tagebuch" des WDR) seit den Siebziger Jahren an der Tagesordnung war. Freilich dort & damals mit einer entschieden kultur- & gesellschaftskritischen Tendenz.

Das Feuilleton der deutschen Qualitätspresse konnte aber nur in diese essayistische Richtung expandieren, weil Kultur als Reflexion der laufenden Ereignisse und der intellektuellen Sinnstiftung "in" war und von den herkömmlichen leitartikelnden politischen Kommentatoren deshalb als zunehmend dominierende Akzentsetzung in der "Neuen Unübersichtlichkeit" (Habermas) hingenommen wurde. In der Politischen Redaktion war man mit seinem traditionellen Latein am Ende und konnte die rasante Medialisierung der Politik qua Entertainement & Populismus nicht mehr adäquat reflektieren. Dem schleichenden Verschwinden der bürgerlichen Öffentlichkeit im politischen und gesellschaftlichen Raum und dessen trivialisierter Fortsetzung in TV-Talkrunden, setzte vorallem das FAZ-Feuilleton die Simulation intellektueller, räsonierender Öffentlichkeit qua Debattenfeuilleton entgegen. Andere folgten.

Mag, wie ich hörte und wie Gustav Seibt berichtete, der Historikerstreit mit Ernst Noltes revisionistischen Aufsatz eher beiläufig und ohne Spekulation auf seine Folgen begonnen haben, so hat man doch bald in der FAZ begriffen, daß man mit gezielt "Unkorrektem" Debatten initiieren kann, bei denen der Austausch der Argumente das Interesse auf das Feuilleton fokussieren würde. Die SZ versuchte solchen dominanten FAZ-Akzentsetzungen ex nihilo mit einer Fülle von neben- & durcheinander laufenden Serien ("Verblasste Mythen" etc.) zu begegnen und damit ihre Leser an sich zu binden.

Es war der machiavellistische Impetus des Fest-Nachfolgers Frank Schirrmacher, der mit dem Gestus des Boulevard-Blattmachers, nämlich mit sensationalistisch inszenierten Aufmachungen Themen zu setzen, die "Seriosität" des Feuilletons aufbrach und gleichzeitig, indem er nationale und internationale Prominenz daran beteiligte, kampagnenhaft alle anderen übertrumpfte. Er zwang damit den Rest der Feuilletons entweder zur nacheilenden Teilnahme an den thematischen Dominanzsetzungen der FAZ oder zu deren gezieltem Verschweigen. Der "extrem hohe Kapitaleinsatz" (Steinfeld), mit dem diese feuilletonistische Hochrüstungspolitik Schirrmachers die weniger kapitalkräftige Konkurrenz demütigte und sie zugleich zu ähnlichen Kampagnen-Debatten animierte, ist gerade der FAZ heute nicht mehr möglich. Das hat mit ihrer radikalen Ausnüchterung die ökonomische Basiskrise der Printmedien getan. Sie erlaubt keine großen, teuren Sprünge mehr (aber wohl auch nicht die kapitalaufwendige Reportage-Recherche "vor Ort", die in Halle gefordert wurde); und daß man solchen originalitätsgeilen Kampagnenfeuilletonismus mit "Bordmitteln" nur unzulänglich fortsetzen kann, hat Lothar Müller in Halle mit seltenem Mut zur kollektiven Selbsterkenntnis einbekannt. Der forcierte und inflationierte Debattenfeuilletonismus führte aber auch dazu, daß man sich in den Redaktionen um eine eigene akzentuierte Positionierung herumdrückte und der Eindruck entstehen konnte, ein Thema sei auf dem weiten Feld der Beliebigkeit zutode geritten worden.

Das Verlangen der Leser (wie auch noch mehr: der debattierten Sachen) nach einem stimmigen Standpunkt der Redaktion oder ihrer Autoren, ist legitim. Wenn die vier Hallenser Studenten, die zwei Artikel analysiert haben (hier), zum Schluss kommen, deren Autoren seien "Zyniker", haben sie unrecht. Der eine vollführt einen Eiertanz, weil ihm als Filmkritiker zu dem Film, der ihm missfällt, nichts immanent Schlüssiges einfällt; der andere mobilisiert eine wüste Melange von unausgegorenen Vorurteilen, um gegen die Quotierung Stimmung zu machen. Stellung beziehen beide, wenn auch beide journalistisch am Thema gescheitert sind.

Für den Vorwurf eines grassierenden "Zynismus" taugen beide Artikel nicht. Was als "Zynismus" gemeint sein könnte, sind spieldominante stilistische Rochaden einer Feuilletonistengeneration, denen ein geistig-historisches Woher abhanden gekommen und ein gesellschaftlich-politisches Wohin nicht mehr vor Augen steht. Ob diese Generation überhaupt einen Begriff von ihrem gesellschaftlichen Standort hat, scheint mir fraglich, ihn wenigstens zu bestimmen, jedoch notwendig. Georg Kleins Beobachtung an der dem kommerziellen Erfolg nachhechelnden Literaturkritik belegt die Schwundstufe eines feuilletonistischen Selbstverständnisses, das in opportunistischer Ohnmacht gar nicht mehr auf den Gedanken kommt, sich gegen die Zumutungen des Betriebs souverän zur Wehr zu setzen und erkennbar mit ästhetischen Entscheidungen auch ethische zu treffen. "Nur keine Moral", die übers eigene Selbst hinausweist, ist erst recht eine. Vielleicht ist aber die Zeit gekommen, daß wieder "die Wirklichkeit zum Gedanken" drängt; und wenn das, was gesellschaftspolitisch vor uns liegt und worin wir uns schon längst befinden, kein geistespolitisches Feuilleton provoziert, dann hätte, wer unter den Feuilletonisten darüber nicht den dekonstruktionisten Verstand verlöre, wirklich keinen mehr zu verlieren

Der Rückzug aufs alte Rezensionsgeschäft wäre deshalb eine Kapitulation auf der ganzen Linie. Ernstlich will das auch niemand, wenngleich die kundige Kritik en detail so wichtig ist wie die subjektive Phantasie, die im Allgemeinen fischt. Zurecht soll der Essayismus, die Glosse, die Betrachtung und die Polemik dominant bleiben - selbst wenn die vergangenen wie die künftigen Debatten oder Wortmeldungen im Feuilleton nur um die Lufthoheit über den Stammtischen mit der leitartikelnden Kollegenschaft gestritten haben oder streiten sollten. Denn ein Intellektueller (wenn er denn einer ist), der seine Kenntnisse, sein Wissen, seine Neugier und seiner Imaginationskraft ins Spiel bringt - ja: auch ins Sprachspiel -, ist allmal subversiver und erhellender als das sachbedingte pragmatische Kleine Einmaleins der politischen- oder der Wirtschaftsredaktion mit ihrem neoliberalen Gebetsmühlenjargon. Wem aber die Grundvoraussetzung des Feuilletons, (nach Karl Kraus' abfälligem Aphorismus) selbst noch "auf einer Glatze Locken drehen" zu können, anstößig, unseriös oder gar unverständlich ist, sollten seinen Fokus auf "Fakten, Fakten, Fakten" richten, wo er besser bedient wird.

Wenn aber auf der Hallenser Debatte die Frage gestellt wurde: "Auf welche Leser zielt das Feuilleton, das nicht einmal Akademiker verstehen?", darf man vielleicht auch mal fragen, was das für Akademiker sind, die noch nicht einmal das aktuelle Feuilleton zu "verstehen" meinen?

"Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen".


Wolfram Schütte war von 1967 bis 1999 Feuilletonredakteur der FR, zuletzt Leitender Redakteur, verantwortlich für die Feuilleton-Wochenendbeilage "Bilder & Zeiten". Er schreibt seit 2000 regelmäßig Kritiken und Glossen im Internet für das Titel-Magazin.

Eine Übersicht mit allen Artikeln und Vorträgen im Perlentaucher zur Konferenz über die Zeitungskrise in Halle finden Sie hier.