Essay

Kunst und Flüchtlinge: Ausbeutung statt Einfühlung

Von Wolfgang Ullrich
20.06.2016. Berühmte Künstler wie Olafur Eliasson, Ai Weiwei oder das "Zentrum für Politische Schönheit" machen den Zuschauern verschiedene, nach Intensität gestaffelte Angebote, auf dem Rücken der Flüchtlinge ihre Seelen zu bereichern und ihre "Großgesinntheit" unter Beweis zu stellen. Einwand gegen eine Ästhetik des guten Gewissens.
Die meisten Projekte, die Kunstaktivisten und Künstler im Verlauf des letzten Jahres zum Thema "Flüchtlinge" gemacht haben, wecken bei mir Unbehagen. Sollte ich gerade die Aktionen, die am meisten Medienaufmerksamkeit bekommen haben, allgemein charakterisieren, kämen mir Adjektive wie "martialisch", "indezent" oder "kalt" in den Sinn. Doch verweisen diese Eigenschaften auch auf die gesellschaftliche Funktion derartiger Kunstprojekte. Sie soll im Folgenden analysiert werden - am Leitfaden jenes Unbehagens.

Zwischen 12. März und 5. Juni 2016 veranstaltete Olafur Eliasson im Wiener Thyssen Bornemisza Art Contemporary einen "künstlerischen Workshop" unter dem Titel "Green light" (Website). An dieser von Francesca von Habsburg gegründeten privaten Kunstinstitution wurden während der knapp drei Monate Lampen gebaut - genauer: polyedrische Objekte mit grünen Leuchtdioden, aus Holz und mit recycelten Materialien, alle nach demselben Schema von Flüchtlingen und Besuchern montiert. Für 300 Euro konnte und kann man Bausätze dieser Lampen einer "unlimited edition" auch vor Ort oder online kaufen; dieses Geld soll Initiativen zugunsten der Flüchtlinge zukommen. Vor allem aber versteht Eliasson den Workshop selbst als "eine Geste des Willkommens". Es gelte, die "Herausforderungen und Aufgaben" - ganz wörtlich - "ins Licht zu rücken", die sich "aus der aktuellen Flüchtlingskrise in Europa und weltweit ergeben". In der Presseerklärung ist ferner von einem "dynamischen sozialen Raum" die Rede, den man schaffen wolle, von "unterschiedlichen Formen der Partizipation" sowie davon, dass dieses Projekt die "Handlungsfähigkeit zeitgenössischer Kunst" bezeuge. Es "signalisiert ihr Potenzial, Prozesse gesellschaftlicher Veränderung zu initiieren", dies in "Reaktion auf den gegenwärtigen Moment sozialer Transformation und auf die Dynamik von Vertreibung und Migration". (Hier die Presseinfo zum Projekt als pdf-Dokument.)


"Green light - an artistic workshop", Pressebild bei olafureliasson.net/

Was aber wäre, böte Eliasson einen vergleichbaren Workshop den Angehörigen von Opfern der Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris an? Oder Hinterbliebenen der Passagiere, die beim Absturz des Germanwings-Flugzeugs am 24. März 2015 ums Leben kamen? In beiden Fällen handelt es sich genauso wie bei den Flüchtlingen um Menschen, die durch Gewalt traumatisiert wurden und denen geholfen werden muss, wieder in ein halbwegs normales Leben zurückzufinden. In beiden Fällen sind auch Akte der Solidarität angebracht, und gerade im Fall der Terroranschläge kann es gar nicht genügend Bekenntnisse zur demokratischen Zivilgesellschaft geben. Doch wie käme es an, sollten Hinterbliebene nun in einem öffentlichen Workshop Lampen basteln - oder kleine Eiffeltürme oder irgendetwas anderes, das sich im DIY-Stil unkompliziert herstellen und dann auch noch gut verkaufen lässt?

Gegen ein derartiges Projekt ließen sich sofort mehrere Bedenken formulieren. Warum, so wäre zu fragen, schützt man die Betroffenen nicht besser vor Schaulustigen, sondern lässt sie zusammen mit Besuchern arbeiten? Und ist es nicht eine zu simple - die meisten unterfordernde - Aufgabe, weitgehend vorgefertigte Teile zum immer selben Objekt zusammenzubauen? Warum sollten die Betroffenen zudem für etwas arbeiten, das ziemlich teuer verkauft wird, an dem sie selbst aber gar nichts verdienen, da die Erlöse an Hilfsorganisationen gehen? Und was hat so eine Lampe - oder ein vergleichbares Objekt - schließlich mit ihrem spezifischen Schicksal zu tun? Dass sie grün leuchtet und sich daher mit einer Ampel oder der Farbe der Hoffnung assoziieren lässt, ist viel zu vage, um eine Identifikation zu ermöglichen, die wiederum bei der Traumabewältigung helfen könnte. Was also soll eine derart konventionelle Symbolik bringen?

Das Vergleichsbeispiel offenbart, dass man Menschen aus der eigenen Kultur nicht zumuten würde, was gegenüber Flüchtlingen andererseits als humanitärer Akt empfunden wird. Vielmehr wird es mit der gerne proklamierten Gleichheit aller Menschen hier nicht allzu genau genommen. Selbst unter Aktivisten und ihren Sympathisanten scheint ein erstaunlich simples Bild von Flüchtlingen vorzuherrschen, wonach diese weder eine Privatsphäre benötigen noch qualifizierte Bildung besitzen, als günstige Arbeitskräfte herhalten können und mehr als plakative Symbole ohnehin nicht verstehen. Und während sonst gegenüber Traumatisierten besonders vorsichtig und zurückhaltend agiert wird, um ihre gesteigerte und individuell veränderte Sensibilität keinesfalls zu verletzen, setzt man im Fall von Flüchtlingen selbstverständlich voraus, Teamwork in bunt zusammengewürfelten Gruppen sei für sie das Beste. Damit reproduziert man aber einfach nur ihre Lebensbedingungen in Lagern und Massenunterkünften und lässt außer Betracht, ob es nicht auch unter ihnen unterschiedliche Bedürfnisse sowie eine Sehnsucht nach selbstbestimmter - statt strikt vorgegebener - Tätigkeit geben könnte.

Eliassons "Green light"-Projekt ist jedoch alles andere als ein besonderer oder gar besonders schlimmer Fall. Vielmehr sind viele Flüchtlingen gewidmeten Projekte in ähnlicher Weise grob und blind. So sehr der Kunst traditionell zugetraut - und von ihr auch erwartet - wird, durch eine Stimulierung der Einbildungskraft Empathie für Menschen in ganz anderen Lebensverhältnissen zu stiften, so wenig ist davon inmitten eines oft schrillen Aktionismus zu bemerken. Wenn die Philosophin Ana Honnacker unter Berufung auf jene Tradition in einem Blogbeitrag schreibt, der Humanismus, den Kunstaktivisten für ihr Tun in Anspruch nehmen, solle die Menschen "für das Leid anderer empfindlich machen" und ihr "Reflexionsvermögen" anregen, dann sind offenbar die meisten Projekte der letzten Zeit misslungen.

Flüchtlinge als Plural zu sehen, ja gar als Masse zu behandeln, geschieht bei einem Künstler wie Ai Weiwei noch augenfälliger. Zwar hat er auch früher, als er noch vornehmlich als Kritiker seines eigenen Landes für mehr Menschenrechte kämpfte, wiederholt mit dem Erhabenheitseffekt großer Zahlen gearbeitet und etwa 2009 im Münchner Haus der Kunst chinesische Schulkinder, die bei einem Erdbeben wegen Pfusch am Bau zu Tode gekommen waren, mit einer großen Menge an Rucksäcken repräsentiert, doch besitzt es eine andere Dimension und hat vor allem andere Auswirkungen, wenn er nun mit denselben Effekt auf das Schicksal von Flüchtlingen aufmerksam macht.



Ai Weiweis Aktion am Konzerthaus. Foto von Sven G. veröffentlicht unter CC-Lizenz auf Flickr.

Dass er Mitte Februar 2016 an den sechs Säulen des Berliner Konzerthauses rund 2000 der orangefarbenen Rettungswesten anbringen ließ, die Flüchtlingen bei ihren lebensgefährlichen Überfahrten über das Mittelmeer helfen sollen, ist nämlich nicht nur ein denkbar ungeeignetes Mittel, um die Leiden und Nöte der einzelnen Betroffenen erfahrbar zu machen, die hier noch abstrakter als ohnehin schon auf eine bloße Menge reduziert werden. Das Bild der Installation bestätigt vielmehr sogar noch Assoziationen derer, die die Grenzen am liebsten dichtmachen würden: Kleben die Westen nicht wie aggressive Parasiten an den Säulen und damit an einem Symbol abendländischer Hochkultur? Wird hier also nicht die Angst vor Überfremdung genährt, zumindest aber die Vorstellung bestätigt, Flüchtlinge seien eine kaum beherrschbare Flut, die alles überrollt? Eine in ihren Stilmitteln so unreflektierte politische Kunst kann die beabsichtigte Wirkung somit in ihr Gegenteil verkehren und Ressentiments fördern.

Aber auch das in Berlin ansässige Zentrum für politische Schönheit (ZPS) arbeitet am liebsten mit Bildern anonymer Massen. Keine andere Aktion politischer Kunst dürfte in den letzten Jahren vergleichbar viel Medienresonanz erfahren haben wie das im Juni 2015 gestartete Projekt "Die Toten kommen". Hier ging es darum, im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge "in die Schaltzentrale des europäischen Abwehrregimes" zu bringen, damit sie es zumindest posthum "ans Ziel ihrer Träume" schaffen.

Zwar sollte es den Skandal der Politik umso gewaltiger erscheinen lassen, dass man die gesamte Freifläche vor dem Bundeskanzleramt mit unzähligen Gräbern bestücken und Grabplatten pflastern wollte, doch reduziert eine solche Anordnung Individuen - ähnlich wie bei Soldatenfriedhöfen - auf eine einzige, ihnen allen gemeinsame Eigenschaft. Fotos und ein Video der geplanten Gedenkstätte zeigen, dass einmal mehr auf die Erhabenheit der großen Zahl gesetzt wird, hier noch gesteigert dadurch, dass unter den Steinen reale Tote liegen sollen. Zum Mahnmal überhöht wird die Anlage ferner dadurch, dass ein von der Chillida-Skulptur vor dem Kanzleramt ausgehender Bogen aus Stahl sie überwölbt, beschriftet mit den Worten "Den unbekannten Einwanderern". Am anderen Ende des Bogens erhebt sich ein zweiter, kleinerer Bogen, auf dem steht "Die Flüchtenden werden einst wir sein".

Der Rollentausch, der darin besteht, dass das ZPS die Flüchtlinge zu Einwandedannrern, die Menschen der eigenen Kultur hingegen zu potenziellen Flüchtlingen erklärt, kann zwar dabei helfen, sich in die Lage derer zu versetzen, die ihre Heimat, ihre Identität und schließlich gar ihr Leben verlieren, doch zugleich ist die Anlage in ihren Materialien und ihrem Design so martialisch-einschüchternd, dass jeglicher Versuch konkreter Einfühlung sofort enden muss. Mag man schon nicht an die Debatten denken, die eine solche Gedenkstätte auslösen würde, die kaum weniger Fläche, wegen des Stahlbogens aber noch viel mehr Raum als das Holocaust-Mahnmal in direkter Nähe beanspruchen würde, so befremdet erst recht, dass hier die für moderne Zivilgesellschaften typische Trennung von Friedhöfen und Denkmälern rückgängig gemacht werden soll. Totengedenken wird also politisiert, und indem es sich nicht nur um Tote, sondern um Todesopfer handelt, werden die riesigen Dimensionen des Mahnmals zu einer auf Ewigkeit angelegten Anklage. "So viel Schuld war nie" - lautet die Aussage dieses Projekts, dessen Urheber sich lieber Zentrum für politische Erhabenheit nennen sollten.

Allerdings hat ihr Begriff von Schönheit ohnehin nicht viel mit dem zu tun, was in ästhetischer Theorie der letzten zweihundert Jahre darunter verstanden wurde. Schönheit ist für das ZPS nicht - wie etwa bei Kant oder Schiller - eine Erfahrung, die den Einzelnen in einen Zustand freier Reflexion versetzt und so in seiner Individualität stärkt, sondern etwas, das überwältigt. Dabei besitzt sie mehr als nur eine ästhetische Dimension, ja ist vor allem auch eine moralische Kategorie. Schön ist ein Handeln, nämlich dann, wenn es von Humanität zeugt. Eigentlich schön kann also nur der Mensch sein; der "Mut zur Humanität" mache seine Schönheit sichtbar, heißt es auf der Website des ZPS. Weiter ist davon die Rede, die Aktivistengruppe interessiere sich für "Handlungen mit moralischer Lichtintensität. Gerade in der Finsternis und Abgründigkeit der größten Verbrechen wird die Erkenntnis von moralischer Schönheit möglich."

Dieser letzte Satz lässt stutzen, denn er suggeriert, es brauche die Verbrechen geradezu, damit umgekehrt eine Erfahrung von Schönheit real werden könne. Und diese wird umso größer und intensiver, je schlimmer die Verbrechen sind, gegen die aufbegehrt wird. Zugleich vertreten die Protagonisten des ZPS die Überzeugung, das menschliche Leben werde erst dank der Erfahrung von Schönheit sinnvoll. In einem 2015 publizierten Manifest von Philipp Ruch, dem Gründer und Leiter des ZPS, heißt es, "die Schlagkraft von Schönheit" sei "für den Reichtum der Seele unabdingbar". In der Gegenwart leide der Mensch darunter, "Schönheit nicht mehr zu fühlen", er habe den Zugang zum "tiefen Brunnen" der Seele verloren. Daher sei das ZPS "ein Unternehmen zum Ausheben dieser Brunnen. Es bohrt Leitungen bis ganz nach unten. Bis ins Grundwasser der menschlichen Seele". Gelinge es, die aktuelle "Trockenphase der Weltgeschichte [...] mit Schönheit zu tränken", werde der Mensch wieder "verzaubert". Und weiter: "Schönheit ist das Erdbeben unserer Existenz. Danach langweilt es einen, was auf dieser Welt sicher ist." (Philipp Ruch in "Wenn nicht wir, wer dann - Ein politisches Manifest, München 2015, S. 104f., Hier meine Rezension seines Buchs.)

Geht es jedoch vornehmlich um eine möglichst überwältigende Erfahrung von Schönheit, ja um das Heil und den Reichtum der eigenen Seele, dann könnte die Parteinahme für Flüchtlinge auch bloßes Mittel zum Zweck werden. Ich will keinem Aktivisten den Wunsch absprechen, Menschen in Not wirklich zu helfen, aber vor dem Hintergrund der Schönheitsidee des ZPS erscheint eine Aktion wie "Die Toten kommen" doch primär dazu da zu sein, jene Leitungen zu den tiefen Brunnen freizulegen, also etwas zu inszenieren, das große Gefühle bereitet. Die riesigen Ausmaße der Anlage vor dem Kanzleramt, das hartnäckige Interesse an echten Toten, der pathetische Ton sämtlicher Verlautbarungen - das alles nützt akut bedrohten Flüchtlingen nicht viel, ist aber dazu geeignet, Mitstreitern, Sympathisanten und selbst einem breiteren Publikum eine Ahnung von Gewalt und Heldentum, vielleicht sogar die Empfindung eines psychischen Ausnahmezustands zu bereiten.

Auch die neueste Aktion des ZPS, "Flüchtlinge fressen", am 16. Juni 2016 gestartet, folgt denselben Prinzipien. Diesmal wird damit gedroht, Flüchtlinge an Tiger zu verfüttern, falls die Regierung weiter verhindert, dass offizielle und sichere Verkehrsmittel zur Einreise in die EU genutzt werden können. Das Spektakel mit Raubtieren versteht das ZPS als Gegenprogramm zur parallel stattfindenden Fußball-Europameisterschaft, denn während diese, als Unterhaltungsevent, nur der Ablenkung von Problemen und Nöten dient, geht es bei "Flüchtlinge fressen" um Leben und Tod derer, die sich freiwillig dafür melden. Allein dass es Menschen gibt, die dies tun und als Akt des Protests zu sterben bereit sind, soll deutlich machen, wie inhuman die herrschende Politik agiert - wie schuldig die Regierenden sich tagtäglich machen.

Dass die gesamte Flüchtlingsthematik einmal mehr auf ein tödliches Schockereignis reduziert und sogar jeder Flüchtling, der bereits die Türkei - aber noch nicht die EU - erreicht hat, zum Todesopfer erklärt wird, macht eine differenzierte Betrachtung von Einzelschicksalen jedoch unmöglich. Zwar gibt es bei dieser Aktion Videos von Flüchtlingen, die um Hilfe bitten, doch da einseitig "das Bild von verzweifelten, dem Tod geweihten Menschen gezeichnet" wird, so Peter Nowak auf Telepolis, unterschlage das ZPS, dass auch "die Geflüchteten politische Subjekte sind". Vielmehr erscheinen sie einmal mehr als so fern von westlichen Standards an Selbstbestimmtheit und Individualität, dass von vornherein ausgeschlossen ist, sich (halbwegs) in ihre Lage hineinzuversetzen. Dafür stellt die Erfahrung radikaler Fremdheit, die Aktionen des ZPS gegenüber Flüchtlingen erzeugen, eine weitere Dimension jenes Erhabenheitseffekts dar, um den es letztlich immer wieder geht.

Damit aber zeigt sich, dass eine Aktionskunst im Stil des ZPS noch ganz herkömmlich einem Verständnis von Kunst verpflichtet ist, wonach diese ihrem Publikum etwas möglichst Unverwechselbares bieten soll. Zugleich handelt es sich um eine Spielart partizipativer Kunst, weshalb nicht der bloß am Rand bleibende, beobachtende Rezipient, sondern nur jemand, der aktiv mitwirkt, heroische Gefühle und existenzielle Momente in voller Intensität erleben kann. So gehörte zur Aktion "Die Toten kommen" auch ein "Marsch der Entschlossenen", an dem sich am 21. Juni 2015 rund 5.000 Menschen beteiligten. Ihr Ziel war die dannWiese vor dem Bundestag, wo sie anfingen, Gräber auszuheben. Ausgehend davon wurden auch in anderen Städten Grabstellen errichtet, wobei das ZPS sogar eine DIY-Anleitung publizierte. Auf einer Website wurden schließlich Fotos der diversen Gräber gesammelt.

Wer in die Aktion involviert war, durfte sich als Teil einer Bewegung fühlen, die sich gegen ein großes Verbrechen erhebt und deren Akteure mit dem eigenen Handeln Moralität und Humanität unter Beweis stellen. So konnte man Schönheit als etwas erleben, das man selbst mit hervorbringt, das aber zugleich überwältigt, weil so viele andere ebenfalls daran mitwirken. Der großen Zahl der Opfer, derer zu gedenken ist, entspricht somit die große Zahl der Mitstreiter, beides sorgt für jene erhabenen Gefühle, in denen das Wahre, Gute und Schöne auf einmal wieder als untrennbare Einheit erfahrbar werden.

Hier lohnt sich nochmals ein Blick auf Eliassons "Green light". Denn auch dieses Projekt richtet sich nicht nur an Flüchtlinge, sondern genauso an Besucher, die bei der Montage der Lampen mitwirken und damit das befriedigende - schöne? - Gefühl aktiver Partizipation an einer Integrationsinitiative haben können. Aber selbst wer eine der Lampen kauft, darf sich noch in ein gesellschaftspolitisches Projekt eingebunden fühlen. Eliasson hat es so konzipiert, dass wertebewusste Konsumenten angesprochen werden, die sich angewöhnt haben, Kaufentscheidungen nach moralischen - ökologischen oder sozialen - Kriterien zu fällen. Sie zahlen dafür auch gerne mehr, weil sie wissen, dass sie auf diese Weise bessere Infrastrukturen ermöglichen oder dass ein Teil des Geldes für Projekte gespendet wird. Ihr Konsum wird so selbst zu einem Handeln, das die Welt verändert. Lässt sich damit das schlechte Gewissen, das das Konsumieren sonst begleitet, zumindest besänftigen, vermutlich aber sogar in gutes Gewissen verwandeln, weil man ja Engagement zeigt, so können auch die 300 Euro für eine der Lampen zum Seelenheil beitragen. Bekennt man sich damit nicht zu einer menschlichen Politik? Und ist es nicht schön, die Lampe gut sichtbar ins Wohnzimmerfenster zu stellen oder mit Gästen in ihrem Lichtschein darüber zu diskutieren, was man eigentlich noch alles für Flüchtlinge tun könnte und sollte?

Statt bei Manufactum kann man also auch im Museumsshop einkaufen, um sich besser zu fühlen, ja um "Großgesinntheit" unter Beweis zu stellen, wie eine der bevorzugten Vokabeln des ZPS lautet. Allerdings genügt Konsumieren - oder auch Spenden - aus Sicht der Berliner Aktivisten nicht, um schön zu handeln. Für sie ist das bloß bequemer Ablasshandel, und nur wer eigenhändig aktiv wird, gar etwas riskiert, weil er gegen Gesetze verstößt oder sich mit aggressiv-humanistischem Handeln exponiert, kann wahre Schönheit bereiten und erfahren. Innerhalb des Theaterstücks "2099", das das ZPS 2015 im Schauspiel Dortmund uraufführte, wird das Publikum mit Kleidern beworfen, die Bürger für Flüchtlinge gespendet haben, um deutlich zu machen, dass das zu halbherzig und lau ist. Schönes Handeln muss existenziell sein; um Pragmatik oder Effizienz geht es nicht. (Allerdings ist man bei "Flüchtlinge fressen" auch auf Crowdfunding umgestiegen, um einen Charterflug für Flüchtlinge zahlen zu können - und für 100 Euro gibt es etwa ein T-Shirt mit der Aufschrift "Menschheit".


Teilhaben an "politischer Schönheit", Großgesinntheit beweisen: Das ZPS macht auf der Website für seine Aktion "Flüchtlinge fressen" attraktive Angebote für jeden Geldbeutel. Screenshot von der Website.

Eliasson und das ZPS sprechen eine unterschiedliche Klientel an. Eine Aktion wie "Green light" ist an Konsumbürger adressiert, die mit stark ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein agieren und die Möglichkeiten einer hochtechnisierten und vernetzten Gesellschaft nutzen, um den von ihnen insgesamt als erhaltenswert geschätzten "Status quo" sicherzustellen. Überwiegend handelt es sich bei ihnen um gebildete, liberale Pluralisten, die sich gerade dann für souverän halten, wenn sie sich nicht nur für ein Thema - etwa Flüchtlinge - engagieren, sondern wenn sie mit einem möglichst breiten Spektrum an Lebenswelten Bekanntschaft machen. Sie irritiert es auch nicht, wenn sie sehen, dass Eliasson unmittelbar nach dem Wiener Projekt eine große Ausstellung in Schloss Versailles eröffnet hat, wo er die Tradition einer auf Spektakel, Sinnesfreuden und Spielerei ausgerichteten Hofkunst zeitgemäß fortsetzt. Und sie finden es vielleicht sogar witzig, dass auf Eliassons Website in den Tagen nach der Vernissage in Versailles "Green light" wie ein Komet über die Ausstellungsansichten zog und für einen kurzen Moment alles grün färbte. Was aus den Flüchtlingen, die die Lampen gebaut haben, geworden ist, geriet dabei allerdings schnell aus dem Blick.



Das ZPS wird hingegen von Menschen favorisiert, die die aktuelle Gesellschaft für festgelebt und verkommen halten, die generell zivilisationskritisch sind und dafür Ideale von Eigentlichkeit, Echtheit und Unmittelbarkeit propagieren. Ihre Sehnsucht gilt einer Überwindung von Normalität, und wie schon etliche romantisch-radikale Jugendbewegungen früherer Generationen träumen sie von einer Welt, in der Heroismus und Pathos dominieren, in der man sich aber auch für eine einzige Sache entscheiden muss. Alles andere wäre unlauter, ja hieße, Existenzielles und Eigentliches wie den Tod mit weniger Existenziellem gleichzusetzen und damit zu verwechseln. Das Eigentliche verrät also schon, wer sich auch nur auf ein Abwägen oder eine offene Diskussion einlässt.

Doch auch hier steht man den Praktiken heutigen Konsums alles andere als fern. Wie es Marken, die Moral vermarkten und sich für Werte einsetzen, besonders gut verstehen, zuerst ein möglichst starkes Gefühl von Schuld zu erzeugen, um sich selbst dann umso wirkungsvoller als Erlösung in Szene zu setzen, so zielt auch beim ZPS alles darauf ab, ohnehin schon vorhandene Schuldgefühle einerseits zu bestärken, dann aber mit den Aktionen andererseits etwas anzubieten, das nicht nur zeigt, dass andere - Politiker und Wirtschaftsunternehmen - noch viel, viel schuldiger sind als man selbst, sondern das zugleich die Gelegenheit verschafft, durch Partizipation die eigene Schuld abzuarbeiten (oder sie durch Teilnahme am Crowdfunding zumindest zu verringern). Schließlich darf man sich sogar rein, geheilt und an Moral und Schönheit allen anderen Menschen überlegen fühlen.

So sehr politische Aktionskunst Minderheiten, Opfer oder polarisierende Themen aufgreift, so sehr hängt ihr Erfolg bei Publikum und Medien also davon ab, ob sie zumindest einige der Milieus erreicht, in denen die Menschen ihr Selbstbewusstsein mit Hilfe von Hochkultur ausbilden. Daher braucht auch nicht zu wundern, wenn die Qualität dieser Kunst nicht daran gemessen wird, wie überzeugend sie ein alternatives Bild etwa von Flüchtlingen - also neue Evidenz - zu etablieren vermag oder ob sie durch die Erzeugung von Empathie wirksame Solidarisierungsbewegungen in Gang setzen kann. Vielmehr gilt sie dann als gut, wenn sie unter Kunstinteressierten für starke, beglückende, läuternde Emotionen sorgt. Ob die Welt dadurch wirklich besser wird, ob einer Randgruppe effektiv geholfen wurde, ob ein bis dahin unterbelichtetes Thema ins Zentrum der Aufmerksamkeit gelangt - das alles ist hingegen zweitrangig.

Unterscheidet sich aktuelle politische Aktionskunst somit viel weniger von anderen, oft als elitär oder konservativ verdächtigten Kunstgattungen, als ihre Vertreter selbst glauben mögen, so bleibt die interessante Frage, was es bedeutet, dass heute offenbar eine besonders ausgeprägte Sehnsucht nach moralischer Integrität und gutem Gewissen existiert - danach, sich selbst als Mensch zu erfahren, der frei von Schuld werden kann. Vermutlich handelt es sich dabei um ein Symptom der Wohlstandsgesellschaft, sind viele in ihr doch mehr oder weniger stark immer in Sorge, über die Verhältnisse zu leben, auf Kosten anderer zu genießen, unverdient im Besitz von Privilegien zu sein, Raubbau zu treiben - kurzum: sich schuldig zu machen. Gerade sofern man selbst kein Opfer ist, ja weil man vielleicht sogar kaum erfassen kann, was es heißt, eines zu sein, entsteht das Gefühl, man müsse eine Art von Tribut leisten. Eine Kunst, die dafür Raum schafft und eigens Rituale oder Aktionsmöglichkeiten erfindet, erhält entsprechend große Resonanz. Sie wird zur Gewissensdienstleistung und bietet Läuterung für Wohlstandsbürger. Damit beweist sie auf ganz andere Weise "Handlungsfähigkeit", als es der Pressetext für Eliassons "Green light" in Anspruch genommen hat.

Wolfgang Ullrich

ideenfreiheit.wordpress.com/

Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete Version eines Vortrags, den Wolfgang Ullrich am 17. Juni 2016 auf dem Symposium "Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung" in Erlangen hielt.