Essay

Wir brauchen einen Inselführer

Von Wolfgang Tischer
17.07.2015. Wolfram Schüttes Idee einer Literaturzeitung im Netz könnte die falschen Finanziers anlocken, und sie pflegt einen Begriff von Literatur, der den Entwicklungen im Netz hinterhinkt: Das heißt nicht, dass es nicht Orte einer durchaus auch elitären Reflexion über Literatur im Netz braucht.
Wolfgang Tischers Artikel antwortet auf Wolfram Schüttes Plädoyer für eine Literaturzeitung im Netz. Hier alle Artikel der Debatte.
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"Mist!", dachte ich. "Warum jetzt?" Ich war in den Vorbereitungen für die Reise zum Bachmannpreis nach Klagenfurt. Eigentlich keine Zeit - und da fordert Wolfram Schütte eine Literaturkritik-Zeitung im Netz. Dazu muss viel gesagt werden. Doch wann?

Nun bin ich längst zurück, und in der Debatte ist viel gesagt worden. Insbesondere Michal Kötz hat Kluges und Aufschlussreiches über die Finanzierung eines solchen Projekts gesagt.
Meine größte Sorge nach dem Beitrag von Wolfram Schütte war, dass hier erneut staatliches Geld versenkt werden könnte, weil alle Schüttes Idee großartig finden. Denn wenn ein verdienter Kritiker wie Wolfram Schütte feststellt, dass es mit der Literaturkritik nicht zum Besten stehe und dass dieses Internet eine Rettung sein könnte, dann horchen unweigerlich bestimmte Leute auf. Insbesondere die, die Geld zu vergeben haben und das ganze ähnlich empfinden wie Schütte. Leute in Ministerien und Kulturfonds. Aber dies sind eben oft auch Leute, die die literarische Landschaft des Internets nicht kennen - so wie Schütte.

Wenn Schütte sagt, dass viele Verlage nun ihre eigenen Dinge im Netz realisieren, eine zentrale Anlaufstelle fehle und alles unübersichtlich sei, so kommt es mir vor, als würde jemand, der jedes Vierteljahr seine Lektüre vom Buchclub geschickt bekam, zum ersten Mal eine Buchhandlung betreten und vom dortigen Angebot vollkommen erschlagen sein. So viele Bücher in den Regalen! Und an jeder Ecke und in jeder Etage eine Buchhändlerin, die andere Bücher empfiehlt. Wem soll man da glauben? Wessen Empfehlung ist fundiert und am besten? Könnte man nicht eine zentrale Info-Theke schaffen, die Auskunft geben kann, was man denn warum lesen sollte? Die Buchhandlungen sind so unübersichtlich!

Seit 2006 könnte es im Internet ein solches Portal geben, wie Schütte es sich wünscht. Damals zahlte das Kulturstaatsministerium die unglaubliche Summe von 150.000 Euro an das Marbacher Literaturarchiv um ein Literaturportal aufzubauen. Als Partner mit dabei waren unter anderem das Goethe-Institut, Deutschlandradio und Deutschlandfunk, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und die Deutsche Bibliothek.

Obwohl es schon damals viele Literaturangebote im Web gab, wurde behauptet, dass kein zentrales Angebot bestünde. Doch das Projekt mit Namen literaturportal.de wurde zu einem Desaster. Die 150.000 Euro wurden von Marbach quasi im Neckar versenkt: das inkompetent zusammengeschusterte Literaturportal gibt es heute nicht mehr. Die Website literaturportal.de ist seit Jahren abgeschaltet und derzeit nicht mehr erreichbar. Hätte das Portal damals funktioniert, könnte es heute vielleicht auch literaturkritische Basisarbeit leisten.

Als ich damals recht früh kritisierte, dass das Literaturportal ein Desaster werden wird, wurde mir Neid unterstellt. Heute sage ich selbstbewusst, dass der Staatsminister das Geld tatsächlich besser dem literaturcafe.de überwiesen hätte, denn das wäre eine Investition in die Zukunft gewesen

Natürlich gibt es heutzutage neue Finanzierungsmöglichkeiten wie Crowdfunding. Beispiel Krautreporter: Mit großem Ehrgeiz wurde das von Journalisten betriebene Portal als alternatives Angebot zu den großen Zeitungen gestartet. Möglich war es jedoch nur dank Großspender. Mit Kleinabonnenten hätte es nicht funktioniert, die erforderliche Summe zu erreichen. Ein Jahr nach der Gründung steigen bekannte Autoren wie Stefan Niggemeier aus und verkünden gleichzeitig den Start eigener Angebote. Die Abonnentenzahl ist geschrumpft, in einem Jahr wird es das Angebot in dieser Form nicht mehr geben.

So plausibel Schüttes Vorschlag klingen mag, dass Verlage für eine Online-Literaturzeitschrift in eine Stiftung einzahlen: Die Beispiele literaturportal.de und krautreporter.de zeigen, dass solche Angebote auf Dauer nicht funktionieren.

Man braucht solchermaßen finanzierte Angebote auch nicht, weil es vieles im Netz schon gibt. Ich würde jedoch nicht so weit gehen, wie Nikola Richter, die mehr oder weniger den netten Opa Schütte mal auf einen Kaffee einladen will, um mit ihm durch die Weiten des Internets zu surfen und ihm zu zeigen, welch literarische Inseln es da zu entdecken gibt, wenn man geschickt zu navigieren weiß.

Vorzugsweise steuert sie eigene Inseln an. Doch Schütte hat Recht, wenn er beklagt, dass es den fundierten literaturkritischen Diskurs im Internet nur bedingt gibt und dieser für den Durchschnittsnutzer schwer zu entdecken ist.

Beklagt man die fehlende Literaturkritik im Netz, schlägt einem sofort Unverständnis entgegen. Es gebe da doch so viele Foren, Blogs, Lesecommunities, Amazon-Rezensionen, Facebook-Gruppen und BookTuber im Netz! Noch nie sei der Austausch über Bücher so groß gewesen und noch nie war er so breit und demokratisch aufgestellt wie derzeit.

Dass es nicht mehr die arroganten Herren der Feuilletons gibt, die sich erdreisten vorzuschlagen, was die Leute gefälligst zu lesen haben, wird im Netz als Sieg gefeiert. Die Zeitungen seien nur die willfährigen Helfer der Verlage, die wiederum böse Gatekeeper seien. Niemand soll uns sagen, was wir zu lesen haben! Solche Aussagen zeigen, dass es der Literaturkritik offenbar nicht wirklich gelungen ist, deutlich zu machen, warum es sie geben sollte und warum eine Amazon-Rezension sie nicht ersetzen kann. Literaturkritik und Online-Leserunde sind nicht vergleichbar und doch sollte es beides geben und sollte das eine nicht durch das andere ausgespielt werden.

Oft wird im Netz der Niedergang der "alten" Medien herbeigeredet und dennoch sind diese immer wieder Aufhänger und Referenz der Netzdiskussion. Sei es die Talkshow im Fernsehen, der Tatort am Sonntag, die Schlagzeile der Bildzeitung - und eben auch die Debatten in den Feuilletons. Florian Kesslers im vergangenen Jahr losgetretene Diskussion über den Zustand der aktuellen Literatur wurde in der Zeit angestoßen. Und auch die literaturkritische Begeisterung über das neue Buch von Ralf Rothmann wird maßgeblich durch die Besprechungen in den Feuilletons getragen.
Florian Kesslers Vorschlag - diesmal im Netz und nicht gedruckt veröffentlicht - über die Reformierung des Alfred-Kerr-Preises nachzudenken, geht in die richtige Richtung - sofern der Börsenverein beim nächsten Mal den Preis nicht gleich einer YouTuberin überreicht.

"Aber warum denn nicht?", höre ich jetzt schon wieder einige rufen. "Gerade das wäre doch super und würde zeigen, dass der Börsenverein auf der Höhe der Zeit ist." Nein, wäre er nicht. Es wäre ein weiterer Niedergang in der Wahrnehmung echter Literaturkritik. Gerade diese Unterscheidung ist wichtig, und es scheint notwendig, dass wir einen Inselführer brauchen, der auch die literarischen Debatten im Netz zusammenfasst oder erschließt. Und zwar auf gleicher Augenhöhe wie die des Feuilletons.

Wir leben im Zeitalter des Selfpublishing, aber gerade hier fragt niemand, ob es dort auch Literatur zu finden gibt, weil einige Feuilletons per Redaktionsvorgabe gar nicht den Blick abseits der Verlagsvorschauen erlauben oder ihn sich leisten können. Vielleicht mag es - und das ist zu befürchten - dort derzeit tatsächlich nichts literarisch Wertvolles geben - aber auch das kann sich ändern. Die Frage ist nur: Wer würde es bemerken?

Denn das Problem liegt nicht nur bei der Literaturkritik, es liegt an der generell mangelhaften Aufmerksamkeit für die Literatur im Netz. Warum gibt es in einem Land, das überschwemmt wird von Literaturpreisen, keinen ernst zu nehmenden Literaturpreis für im Netz publizierte Texte oder E-Books? Warum keine Stipendien oder Förderungen für Literatur im Netz? Literatur und Internet, das war jahrelang eine exotische Kombination, denn ersteres schien es nur auf dem Papier zu geben und letzteres nur mit Strom. Mitte der 1990er wurde über Netzliteratur diskutiert und gestritten, es gab den Literaturpreis der Zeit, doch als die Netzliteratur für tot erklärt wurde, schien das Netz für die Literatur und die Literaturkritik nicht weiter interessant. Die Literaturkritik zog sich in ihre Netznischen zurück.

Mit dem Niedergang der Zeitungen begann der Niedergang der Feuilletons. Jetzt zählten Klicks und Auflage, und - wie von Wolfram Schütte konstatiert - dominieren Literaturtipps mit nacherzählten Handlungen. Die Unterhaltungsverlage haben das längst begriffen und setzen auf das Netz. Die emotionale Erwähnung eines Buches durch eine YouTuberin erreicht mehr Menschen als eine Buchvorstellung im Lifestyle-Teil einer Zeitschrift. Über Nacht wurde das Netz zum wichtigsten PR- und Werbekanal dieser Verlage.
Doch der oft zitierte Literaturbetrieb scheint - noch! - allzu sehr mit dem Papier verhaftet, mit Literaturhäusern und Stipendien und kleinen Aktionen im Netz oder Großprojekten wie Fiction, die einer kleinen Gruppe von Autoren zumindest Reisen in die USA ermöglicht. Was ist in ein bis zwei Jahren?

Wir müssen an die Literaturkritik denken, aber wir müssen größer denken. Wir müssen im Internet - und damit meine ich nicht Facebook! - die Literatur deutlicher aufscheinen lassen, dann wird auch die Literaturkritik folgen. Literatur und Literaturkritik waren immer elitär. Das muss nicht schlecht sein. Stellung zu beziehen und anzuecken, gerade auch gegen den Netz-Mainstream mit seiner oft unerträglichen politischen Korrektheit, das zeichnet gute Kritik aus. Und davon wünsche ich mir mehr: fundierte, elitäre Stimmen im Netz. Aber man sollte sie vernehmen und zusammenführen - wenngleich nicht in einer Online-Literaturzeitung.

Wolfgang Tischer

Tischer ist Gründer und Herausgeber der mehrfach preisgekrönten Website literaturcafe.de, die im Web seit 1996 existiert.