Essay

Wege aus dem Schlamassel - Teil 3

09.04.2012.
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Teil 2: Goldenes Kalb und Klassenkampf - Kritik ist nicht Zerstörung - Seid eures Unglücks Schmied

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Teil 3: Weisheit in schweren Zeiten - Einrichtung in der Niederlage - Für einen aktiven Skeptizismus


Weisheit in schweren Zeiten


In der Depression dieser Tage stimmen so manche also mal wieder die alte Leier von der Askese an. Seht nur die lange Kolonne der Heuchler und Frömmler, die Rückkehr und Verzicht predigen. Sie geißeln den schuldhaften Leichtsinn unserer Mitbürger, die einfach so in Ferien fahren, ins Kino gehen, im Internet surfen und trotz der Ereignisse ausgehen und sich amüsieren, statt sich Asche aufs Haupt zu streuen. Kaum ist die Party der Industrialisierung vorbei, soll man den Gürtel enger schnallen und zu Öllampe und Pferdekutsche zurückkehren. Euren Spaß habt ihr gehabt, nun tut Buße. Aber vielleicht ist die Gelassenheit unserer Mitbürger, trotz aller Leiden, eher ein Zeichen der Weisheit. Ruhig zu bleiben in Perioden des Chaos, heißt über die intellektuellen Mittel zu verfügen, sie zu bewältigen, statt dem Kleinmut zu erliegen. Klimawandel oder nicht, unsere Zeitgenossen sind nicht bereit, auf alle Annehmlichkeiten des Fortschritts zu verzichten. Die Kosten sind exorbitant, das ist richtig, aber man bringt nicht sieben Milliarden Menschen zur Welt, ohne dass es Folgen hat. Die Auswirkungen müssen korrigiert werden, aber Rückkehr zu biblischer Einfachheit wäre ein Irrweg. Wenn die ganze Welt unseren Lebensstil annimmt, rufen die Heuchler, geht sie unter. Gewiss: aber dann muss man auch nach der Verführungskraft dieses Lebensstils fragen und zugeben, dass er Milliarden Menschen offenbar erstrebenswert scheint. Wir dürfen in Erwartung künftiger Fortschritte nichts von den erreichten preisgeben.

In Japan, so sagt uns die Presse, wandte man sich nach dem Tsunami von 2011 und der Tragödie von Fukushima wieder dem Luxus zu, suchte gegen die Grausamkeit der Natur nach Schönheit und Dauer. Nicht die Kargheit sollte man predigen, sondern die Entdeckung neuer Reichtümer und Herrlichkeiten. Angesichts des Zitterns und Bangens neue Quellen der Schönheit und des Geistes erschließen. Die Befreiung von der materiellen Not ist nur eine der Bedingungen der Freiheit, aber sie erschöpft sie nicht. Während die Börsen zusammenbrachen, gingen die Franzosen öfter denn je ins Kino. Die Museen sind voll. Der Literatur und dem Theater geht's nicht so schlecht. Niemals hat man mehr gelesen als in dem Moment, in dem das Buch selbst gefährdet zu sein scheint. Niemals mehr bewundert, applaudiert, geträumt, geschaffen als in diesem Moment der Depression. In Zeiten der Knappheit setzt das Wesentliche sich durch: Kultur, Freundschaft, Lust. Es bleibt auf unserem alten Kontinent etwas von jener Douceur de vivre, um die andere Völker uns beneiden können, eine Lust, die persönliche Freiheit mit einer Zivilität des Umgangs zu verbinden, eine Lebenskunst, die auf dem besten Erbe von Jahrhunderten beruht. Vergnügen und Fröhlichkeit tragen wohl mehr zur Zivilisierung der Menschheit bei als Trauer und Prüderie. Begrüßen wir die demografische Vitalität der Franzosen, die bei einem angeblich so deprimierten Volk einen schönen Vertrauensbeweis darstellt. In schwierigen Zeiten sind Heiterkeit und Leidenschaft die beste Antwort aufs Unglück.

Die großen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts - 1936 in Frankreich, dann 1945 und 1968 - bestanden nie allein in Umverteilung, sondern brachten der großen Masse eine neue Lebensqualität: Freizeit dank bezahlter Urlaube, sexuelle Befreiung, Kultur für alle, günstige Reisemöglichkeiten: ein verwandelter Alltag. Eine Gesellschaft ist um so dynamischer, je mehr sie Lebensentwürfe ermöglicht, die nicht allein durch das Vorbild der Vermögendsten geprägt sind, je mehr sie Modelle finanziellen mit solchen sozialen Reichtums in Konkurrenz setzt. Das Geld muss ein Trampolin bleiben, keine Fessel und erst recht keine Mystik. Die großen Momente der Emanzipation waren jene, wo der gerade geltende Konformismus durch neue Formen der Gemeinschaft abgewertet und Bürgerlichkeit in Frage gestellt wurde. Entdeckung von Glücksformen, die mit Geld nicht zu bezahlen sind, Festhalten am alten revolutionären Traum vom Luxus für alle, von der Schönheit für die Ärmsten. Luxus liegt heute in allem, was sich rar macht: im Einswerden mit erhaltener Natur, dem Kult der Stille, der Lust am Lesen, der gewählten, aber nicht auferlegten Langsamkeit, der Lust, unzeitgemäß zu leben, des Lernens in Muße, der sexuellen Lust in allen Formen - alles Privilegien, die den meisten Menschen in der westlichen Welt zugänglich sind und der Logik der Akkumulation widerstreben. Profitstreben wird nicht verschwinden und ist übrigens notwendig, aber es sollte durch andere Formen des Erfolgs relativiert werden. Jeder kann in seinem Leben unterschiedliche Sehnsüchte verwirklichen, je nach Zeit und Alter. Man muss sich nicht von steriler Geschäftigkeit anstecken lassen. Man kann sich befreien von gesellschaftlich gewollten Nichtigkeiten, die Grenzen des Notwendigen und Überflüssigen selbst verschieben, Pracht suchen, wo andere nur eitle Vergeblichkeit sehen, oder Kargheit, wo andere die Opulenz feiern. Es geht nicht darum sich einzuschränken und Trübsal zu blasen, wie es eine ganze Schule der Zerknirschung heute predigt, sondern darum, Glück zu suchen, wo es gemeinhin nicht unbedingt vermutet wird. Man kann aufgeben, was nicht notwendig ist, um anderswo dem Tand zu huldigen. Vorausgesetzt man respektiert die Grenze zwischen Öffentlich und Privat, diese Errungenschaft des Liberalismus, die viele Wohlmeinende heute im Namen der Transparenz und der Moral einreißen wollen. Zwei Mächte sind heute gleichermaßen zu fürchten: die des stets inquisitorischen Staats und die der auf Medien und Internet gestützten öffentlichen Meinung, die jeden zur Beute aller macht. Der lauernde Staat und das Geschwätz der Medien können sich vereinigen, um Einzelne bei der kleinsten Abweichung der Lynchjustiz auszusetzen.

Jeder kann für sich selbst entscheiden, von welchem falschen Glanz er sich befreien will. Verzichten, seine Freiheit dem Komfort und Status vorziehen, eine weitherzigere Existenz wählen, statt sich mit Objekten zu umstellen, um Angst und Tod abzuwehren. Der wahre Luxus - aber alles "was kostbar ist, ist auch schwierig und selten" (Spinoza) - liegt in der Erfindung des je eigenen Lebens, in Freundschafts- und Liebesverhältnissen zu einigen wenigen wesentlichen Personen und in der Fähigkeit zu staunen. Das Geheimnis des guten Lebens ist es vielleicht, sich zu entwickeln ohne zu verzichten, einige Vergnügen aufzugeben um neue zu entdecken und sich niemals ins Unvermeidliche zu finden. Das Wissen um seine Grenzen - man soll eher seine Begierden als die Ordnung der Welt bezwingen, sagt Descartes - darf nicht Synonym der Abdankung sein. Glück wird immer in der Vervielfachung der Leidenschaften und Bindungen, nicht in ihrer Austrocknung liegen. Wer diese Lehre aus dem Sturm zieht, ist vor Depression gefeit.



Einrichtung in der Niederlage

Wäre die Krise nur materieller Natur, würden wir sie bewältigen. Finanzielle und ökonomische Probleme lässt man immer irgendwann hinter sich. Aber sie ist geistiger Art und rührt an die Fundamente eines an zwei Hauptübeln krankenden Europas: Angst und Larmoyanz. Es hat über sich selbst so eine klägliche Meinung, dass es sich nicht traut, seine Konstruktion zu vollenden. Seit vierzig Jahren scheitert es daran, sich eine solide Struktur, eine Diplomatie, Verteidigung und Regierung zu geben. Es ist eine Krankheit an der Seele, nicht an der Gemeinschaftswährung, die es durchmacht. Was ist in Europa fehl gelaufen, dass es sich in jeder schwierigen Phase mit den selben Dämonen konfrontiert sieht: dem Zweifel, der Müdigkeit,dem Selbsthass aus einer allzu blutigen, allzu schwer zu ertragenden Geschichte? Wie soll der Rest der Welt Europa lieben, da es sich selbst nicht liebt und nicht aufhört sich zu geißeln und mit den schwersten Vorwürfen zu überhäufen? Die Technik fügt dem ein weiteres Element hinzu: Die Angst erwächst aus unserer eigenen Erfindungskraft. Die Werkzeuge unserer Herrschaft über die Welt können uns entgleiten und gegen uns gekehrt werden. Aber der Tragödie des Optimismus, der blendet und Gefahren verkennt - "die Optimisten kamen nach Auschwitz, die Pessimisten nach Beverly Hills", hatte der geniale Billy Wilder mal gesagt - entspricht ein Pessimismus, der immer das Schlimmste anvisiert und in dem es sich die privilegierten Völker gemütlich machen. Vorgestellte Gräuel werden so zu einem wunderbaren Vorwand für Untätigkeit. Die Rekorde der Melancholie, mit denen die Franzosen seit einigen Jahren die Nigerianer, Ghanaer oder Vietnamesen schlagen, haben etwas Bestürzendes. Wir flennen zu laut, als dass es noch glaubhaft wäre.

Uns geht's schlecht, aber anderen geht's besser. So die heiter verblüffte Erkenntnis der Inder, Chinesen, Brasilianer, Afrikaner seit zwanzig Jahren: Während wir uns unter der Last der Vergangenheit beugen, entdecken sie ihre Fähigkeit, dem Elend und der Unterentwicklung zu entkommen. Ihre Geschichte ist nicht mehr die eines erlittenen, sondern die eines überwundenen Schicksals, auch wenn viel zu tun bleibt. Wer immer in den letzten dreißig Jahren in diese Regionen reiste, wird von der ungeheuren Revolution frappiert sein, die diese Völker vollführt haben, um den Missständen zu entfliehen. Möglich, dass der Hegelsche Weltgeist Europa und Amerika verlassen hat, um sich irgendwo zwischen Schanghai, Bombay, Sao Paolo und dem Kap der guten Hoffnung niederzulassen. Möglich auch, dass unsere Faszination für die Katastrophe nur das Symptom unserer Erschöpfung ist. Möglich schließlich, dass Europa sich auflöst und den nationalen und regionalen Egoismen anheim fällt. Dann wäre es stets nur ein Wille zum Aufbau gewesen, mehr eine Absicht als ein Resultat, eine ewige Skizze, die ihre Vollendung nie erreicht, ein Turm zu Babel, von dem die erschöpften Baumeister ablassen.

Die Kräfte der Globalisierung vorzuschützen, um nichts zu tun, wäre die schlimmste Art der Selbstaufgabe: So gering der Handlungsspielraum sein mag, er existiert. Wir könnten uns von jenen Überseenationen inspirieren lassen, die auf Not mit Tatkraft reagierten in der verrückten Hoffnung, nach Jahren des Chaos wieder oben anzukommen - wie Argentinien es vormacht. Europa stand seit 1945 unter einem unausgesprochenen Vertrag: ein bisschen weniger nationale Souveränität gegen ein bisschen mehr internationale Macht. Der Vertrag ist nicht erfüllt worden: Europa hat weniger Vaterland, weniger Union und weniger Einfluss. Es wollte Macht und Gerechtigkeit aufhäufen und hat nur Ohnmacht mit Ungerechtigkeit multipliziert, selbst wenn die Sozialsysteme in Resten noch funktionieren. Wir stehen mitten in der Furt, unfähig rückwärts oder vorwärts zu gehen. Wir treiben in unserer eigenen Entschlusslosigkeit vor uns hin. Die alte Welt wird zur leeren Abstraktion, die langsam an einer Mischung aus Moralismus und Merkantilismus vergeht, weil sie sich nicht mehr zu ihrer alten Rolle aufschwingt. Aufstände erschüttern so viele Hauptstädte, Milliarden Menschen befreien sich langsam unter großen Verlusten aus Ungerechtigkeit und Hunger, und Europa verkriecht sich in sein Schrebergärtchen und kapituliert. Groß war es nur, als es über sich hinaus wuchs. Heute erscheint es wie eine Schnecke, die nicht von ihrem Haus lassen kann.

Eine von Angst besessene Gesellschaft schafft unweigerlich, was sie fürchtet: Lähmung. Schwächegefühle drücken sich in unterschiedlichen Epochen unterschiedlich aus. Aber selten hat man wie in der Gegenwart Innovation an sich als gefährlich angesehen und aus Verhinderung eine Tugend gemacht. Man kann die menschliche Aktivität nicht auf die Beschwörung aller denkbaren Gefahren beschränken. Je umfassender der Schutz, den man sucht, desto gestaltloser die Risiken, die überall zu drohen scheinen. Im medizinischen Bereich etwa wächst die Furcht vor schweren Krankheiten parallel zu den Fortschritten der Wissenschaft. Was die Sorge begrenzen soll, stärkt nur ihr Regime. Von der Ernährung über die Handys, die Funkwellen und die Luft, die wir atmen. Das Reich der Technologie scheint bewohnt von bösartigen Geistern und raffinierten Giften, die nur auf unsere Vernichtung aus sind. Wir fürchten die Dinge, die aus unseren Händen kommen und sich gegen uns wenden. Eine veritable Philosophie der Angst tritt hier als Weisheitslehre auf und versetzt uns in ein posttechnologisches Mittelalter mit seinen kollektiven Wahnschüben. So schwanken wir, wie es De Gaulle über das Frankreich des Jahres 1958 sagte, zwischen "Drama und Mittelmaß".

Die Werkzeuge unserer Befreiung fangen an uns zu bedrücken: Kritischer Geist wird zu Selbstgeißelung, Individualismus zu kindischem Spiel der Launen, Hedonismus zu ständiger Angst vor Schmerz, Toleranz zu Duldung des Fanatismus, Offenheit gegenüber anderen zu Selbstverleugnung, Fortschrittsliebe zu Angst vor Neuem. Das Recht selbst, Grundlage allen sozialen Fortschritts, wird zum Reich der Klagen, eine riesige Armee von Jammerlappen angeführt von ganzen Kohorten von Anwälten. Die Unfähigkeit, das beste aus seinem Los zu machen, mag bei uns modern sein. Und unsere Demokratien nähren eine Unzufriedenheit, die sie niemals werden sättigen können. Indem sie das Wohlleben zur Norm erklären, machen sie den Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit noch unerträglicher und verschärfen die Ungeduld. Wir verdienen, dass es uns immer besser geht. Das Hindernis, die Anstrengung sind nicht mehr der normale Prüfstein auf unserem Weg der Selbstverwirklichung, sondern eine persönliche Beleidigung, für die uns Schmerzensgeld zusteht. Teufelskreis der Zivilisation: Mit ihrer Unglücksallergie verwischt sie die Grenze zwischen Normalität und Leiden und verdoppelt das Unglück in seinem Versuch, es zu beheben. Die kleinsten Unannehmlichkeiten werden in den Rang einer Tragödie erhoben. Der geringste Widerstand gegen die Erfüllung unserer Wünsche ist ein Skandal. Verglichen mit den früheren Generationen ist die Schmerztoleranz in den reichen Ländern beträchtlich gesunken (ein Immigrant ist einer, der vor Schwerarbeit nicht zurückschreckt). Kraftlos angesichts der Widrigkeit verfallen wir in eine Klage, die das Symptom verbreitet, das uns schreckt und das Fatum beschleunigt, dem wir entgehen wollen. In Europa halten sich viele große Geister für hellsichtig, die nur verdrießlich sind.



Für einen aktiven Skeptizismus


Mag sein, dass die Idee des Westens - ein offener Individualismus in einer Gesellschaft der Gleichen, die selbst wieder in eine demokratische Ordnung eingebettet ist - unexportierbar ist und ihren Geburtsort nicht verlassen wird. Schon versuchen China und viele muslimische Länder uns zu beweisen, dass materieller Wohlstand ohne verfassungsmäßige Freiheiten, Gleichheit von Mann und Frau und die komplexen Verfahren eines pluralistischen Regimes auskommen kann, die als westliche und imperialistische Werte abgetan werden. Die Marktwirtschaft soll also ohne Demokratie und die Infragestellung von Tradition triumphieren, die sie eigentlich voraussetzt. Die technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Globalisierung ist durchgewunken. Die Globalisierung der Demokratie hinkt hinterher. Freie Wahlen bringen die finstersten Feinde des Parlamentarismus an die Macht. Die arabischen Aufstände, deren Beharrlichkeit solche Bewunderung abnötigte, waren am Ende womöglich nur der Umweg des fundamentalistischen Islams auf seiner Welteroberung. Nach Jahrhunderten des Niedergangs führt er sich immer noch wie ein Besiegter auf, der nur Revanche will und seinen Zeloten eine starke Dosis Ressentiment einimpft. Zum Glück ist die Religion des Propheten in Sunniten und Schiiten aufgespalten, und man sollte nicht müde werden, dieses Ursprungsschisma zu vertiefen. Man könnte über den Islam sagen, was François Mauriac einst über den deutschen Nachbarn sagte: Man liebt ihn so sehr, dass man gerne mindestens zwei davon hat. An jenem Tag, an dem der Islam mindestens so viele Spielarten zulässt wie das Christentum und er akzeptiert, eine Religion unter anderen und nicht die einzig wahre zu sein, wird er aufhören jene Gotteswut zu verbreiten, die so vielen Menschen - und an erster den moderaten Muslimen - Sorge bereitet. Ein Gott nach dem Herzen ist einem Gott nach den Riten mit seinem gnadenlosen Proselytentum vorzuziehen. Davon sind wir leider weit entfernt. Es wird eine der großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts sein. Die Vereinigten Staaten stellen dem Islam den Schutzschild ihrer viele Kirchen entgegen, Europa hüllt sich in die Daunendecke seines Unglaubens. Ob sie den Feuersturm des Predigertums abhalten wird, ist noch nicht ausgemacht. Es ist an uns, andere Kulturen zu überzeugen, dass die Befreiung der menschlichen Wesen ein interessanteres Menschheitsabenteuer darstellt als das Festhalten an Verboten und Dogmen. Zeigen wir, dass genau das, was traditionellen Gesellschaften als amoralisch erscheint, eine Chance ist - eine ungeheure Erweiterung unserer Fähigkeiten. Freiheit ist ein Vorschlag, kein Dekret.

"Jedes Mal wenn mein Denken sich verfinstert und ich an Europa verzweifle, gewinne ich meinen Mut erst mit dem Gedanken an die Neue Welt zurück", schrieb Paul Valéry im Jahr 1931. Seit dem 11. September verzweifeln viele an Amerika, seiner Kultur der Paranoia, dem aggressiven Militarismus und grotesken Frömmlerei. Die Rechtfertigung der Folter durch gewisse Eliten, das Schlamassel im Irak und in Afghanistan, die Arbeitslosigkeit, die Deklassierung der Mittelschicht, das skandalöse Wachstum von Armut und Gefängnisbevölkerung, die soziale Undurchlässigkeit, die Bevorzugung der Erben vor den Innovatoren, die Straflosigkeit der für die Subprime-Krise Verantwortlichen, die arrogante Herrschaft einiger Superreicher ziehen diese große Nation nach unten. Aber noch ist nicht alle Hoffnung verloren: Der grundlegende Optimismus des amerikanischen Volks, seine stete Erneuerung durch Immigranten, die Tatsache, dass dieses Land durch seine Vielfalt zum Abbild des Planeten wird, sein Zukunftskult, die Überzeugung, die Heimat aller Beladenen zu sein, lassen eine Wiederauferstehung nicht unmöglich erscheinen. In seinen besten literarischen, musikalischen und kinematografischen Schöpfungen war Amerika unmittelbar und für das ganze Menschengeschlecht zugänglich. Mag sein, dass dieses Wunder weitergeht. Ob man es will oder nicht - es ist die amerikanische Soft Power, die träumen lässt, auch wenn sich dieser Traum manchmal in einen Alptraum verwandelt. Weder China, noch Russland, noch die Türkei erfinden die große Erzählung für morgen. Auch Bollywood hat Hollywood nicht verdrängt, die beiden koexistieren aufs beste. Solange die Vereinigten Staaten das große narrative Laboratorium der Welt bleiben, solange ihre Mythen von einer Mehrheit angenommen werden, haben sie ein Chance, sich wieder aufzurichten, auch wenn sie sich die Führung der Welt mit China teilen müssen.

Was unser gutes altes Europa angeht, so legt es eine verblüffende Entschiedenheit an den Tag, nicht zu existieren,nicht zu zählen und hat damit großen Erfolg. Es ist wie ein Paar Verlobte, die sich niemals zur Hochzeit durchringen und lieber in einem emotionalen Zwischenreich leben. Gleich Melvilles Bartleby sagt es: "I would prefer not to". Es könnte in eine seltsame Lage geraten, in der es zugleich zum Verkauf steht und dem Vorwurf ausgesetzt ist, ein Empire gewesen zu sein. Zugleich Stück für Stück von den neuen Finanzmächten geschluckt zu werden und des Kolonialismus oder Postkolonialismus angeklagt zu werden, das wäre das Schlimmste: Als Hegemonialmacht behandelt zu werden, während man sich schon beherrscht fühlt. Entweder findet es seine Selbstachtung wieder, oder es wird von den neuen Haien zerlegt, die sich seine Häfen, Denkmäler, Wälder, Industrien einverleiben. In diesem Punkt wäre ein Dialog mit Mittel- und Osteuropa angeraten, das lange unter dem Joch unterschiedlicher Eroberer lebte und eine größere Widerstandskraft hat. Wir haben sehr viel von unseren tschechischen, ukrainischen, rumänischen, polnischen Cousins zu lernen, mindestens so viel wie sie von uns. Zwischen einem brüchigen Westen mit wucherndem Gedächtnis und einem zähen Osten, der manchmal verdrängt, sollte das Gespräch nicht aufhören, selbst wenn die einen oder andren zuweilen den alten Dämonen anheim fallen. In diesem Fall kann sich auch das Desaster als fruchtbar erweisen, wie ein guter Lehrmeister, der uns weckt. Wir können die gegenwärtige Depression noch in eine Renaissance verwandeln und dem von zu vielen Skrupeln und Ängsten heimgesuchten Europa die Pforten der Zukunft öffnen. Wie grausam das Schicksal auch sein mag, man muss auf seiner Höhe sein. Selbst im Zustand des Verschwindens und Bedeutungsverlusts kann Europa die Welt bereichern. So wie das von Rom vernichtete Athen seinen Bezwinger zu erobern und zivilisieren wusste.

Es gibt diese rituelle Frage: Welche Welt werden wir unseren Kindern hinterlassen? Man muss sie neu formulieren: Welche Kinder müssen wir formen, damit sie in der unvollkommenen Welt von morgen bestehen können? Welche Werte und welche Fähigkeiten sollen wir ihnen weitergeben? Die schlimmste Erbschaft, die wir unseren Kindern hinterlassen können, ist unsere Ängstlichkeit und Desillusionierung. Wir müssen sie für die kommenden Schwierigkeiten rüsten, ihnen ein "interesseloses Wohlgefallen" an Wissen und an Vertrauen in die Macht der Zeit mitgeben. Den Predigern, Spekulanten und Superstars, die heute triumphieren, sind Erzieher, Forscher und Unternehmer entgegenzustellen. Größe der Bildung, Kühnheit der Forschung, Mut der Innovatoren sollten ins Licht gesetzt werden. Eine Gesellschaft, die nur ihre Vergangenheit kriminalisiert, die Geisteswissenschaften aufgibt, Allgemeinbildung verachtet, Finanz- und Rechtsmetiers denen der Wissenschaft und Industrie vorzieht, ist schlecht positioniert. Wir leben sehr wohl am Ende einer guten Zeit, die so nicht wiederkommen wird, aber in dieser bittersüßen Dämmerung zeichnen sich womöglich die Konturen eines neuen Welt ab, die wir erfassen müssen.

Im Sturm, den wir durchqueren, brauchen wir ein Fanal. Dieses Fanal liegt mehr denn je in den Werten der Aufklärung: Vernunft, Erziehung, Freiheit des Geistes, Mitleid mit den Schwachen, Hass auf Fanatismus, Armut, Sklaverei. Nur dieser Kompass kann die Alte Welt aus ihrem geistigen Koma führen. Sollte das Europa der 27 einstürzen und die schwächsten Nationen der Anarchie und dem Bürgerkrieg überlassen - dann muss es neu beginnen, zu zweit, zu fünft zu acht, unter Vermeidung der alten Fehler. Wir haben keine Wahl. Unsere Haltung zu Griechenland ist in dieser Hinsicht ein Präzedenzfall: Manchmal rettet der völlige Schuldenerlass die Gläubiger so sehr wie die Schuldner. Ein brennendes Griechenland, das gegen Brüssel und Berlin aufgebracht wäre und die Retter als Henker sähe, könnte ganz Südeuropa anstecken wie einst der serbische Nationalismus. Einen neuen Balkankrieg können wir uns nicht leisten. Neben der elementaren Pflicht zur Solidarität mit dieser Wiege Europas, die auch sein Grab werden könnte, handelt es sich auch um unser wohl verstandenes Eigeninteresse. Geben wir dem griechischen Volk seine zweite Chance, ohne es auszuhungern und über Jahre mit debilen Sparmaßnahmen zu demütigen. Dann muss es die notwendigen Reformen ergreifen und sein Schicksal in die Hand nehmen.

Wie desorientiert sie auch immer sein mögen: Die westlichen (aber auch asiatischen, südamerikanischen, afrikanischen) Demokratien müssen ihre Verbindungen stärken und Lasten gemeinsam tragen. Sie sind im Besitz eines unendlich verderblichen und fragilen Schatzes: der Menschenrechte. Sie sind verantwortlich für das Überleben der Demokratie selbst, Wächter ihrer Werte. Sie müssen aus dem subversiven Reichtum ihrer Ideen und der Vitalität ihrer Grundsätze neue Energie schöpfen. Niedergang ist keine Fatalität: Man muss stets auf die Größe des Menschen setzen, seine Fähigkeit, die Gefahren zu bewältigen. Keine Schwierigkeit ist in sich unüberwindlich, nur den Sinn für Proportionen darf man nicht verlieren. Der melancholischen Skepsis, die die Geschichte als ein Trümmerfeld sieht, gilt es eine aktive Skepsis entgegenzusetzen, die unsere Grenzen erkennt, ohne den Willen zur Reform aufzugeben. Weder Verzweiflung noch Glückseligkeit, sondern ewiges Erstaunen darüber, dass wir uns permanent an verschiedenen Fronten bewähren müssen. Steriler Niedergeschlagenheit wäre eine wache Unruhe vorzuziehen, die die Tür des Handelns offen hält. In gewisser Hinsicht ist diese Prüfung das beste, was uns passieren kann, in ihre erweist sich unsere Widerstandskraft. Wir haben die Wahl zwischen Aufstieg oder Niederlage.

Pascal Bruckner

Aus dem Französischen von Thierry Chervel



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