Essay

Teil eines Ornaments

Von Stefanie Diekmann
29.04.2019. "Les Rigoles" von Brecht Evans  ist ein anmutiger Comic. Krankhaft anmutig, das heißt: beinahe zu schön, zu bunt, zu schillernd, zu gekonnt, eine fluide Welt der Choreografien und Ornamente. Obwohl er so anders ist, kann man ihn als nokturnales Meisterwerk neben "My Favorite Thing is Monsters" von Emil Ferris stellen.
Wenn der Frühling beginnt, die Sonne strahlt, die Tage immer heller und länger werden, dann ist die Zeit gekommen, sich einzuschließen und düstere, nächtliche Comics zu lesen. Genau genommen ist die Zeit dafür natürlich immer, nicht nur weil der Comic durchaus eine Affinität zur Dunkelheit hat (Dark Knights, Dark Cities, Jolies Ténèbres et cetera), sondern weil aus dieser Affinität immer wieder berückende und verwirrende Welten entstehen, wenn auch selten so berückend und verwirrend wie in "My Favorite Thing is Monsters" von Emil Ferris (Fantagraphics 2017) und "Les Rigoles" von Brecht Evens (Actes Sud BD).

"My Favorite Thing" ist die Graphic Novel, über die alle sich sofort einig gewesen sind und mit der trotzdem niemand klar kommt. Ein Monster, schrieb The Comics Journal; eine Kathedrale, war auf der Website von Le Monde zu lesen. "Absolut erstaunlich" lautete der Kommentar von Chris Ware, den der Verlag gleich auf das Cover gedruckt hat, und in der Tat ist vieles erstaunlich an diesem Debüt einer Mittfünfzigerin, das seit seiner Publikation mit allen wichtigen Preisen ausgezeichnet worden ist: nach den zwei Ignatz Awards 2017 (Best Artist, Best Album), dem Eisner Award 2018 und dem Kritikerpreis ACBC schließlich auch dem Prix du Meilleur Album 2019 in Angoulême, wo man von Ferris erst dann Kenntnis nehmen wollte, nachdem ihr Comic ins Französische übersetzt worden war.

"My Favorite Thing" ist ein Hybrid: anteilig Murder Mystery, Thriller und Coming of Age-Erzählung der zehnjährigen Heldin Karen Reyes. (Das Coming Out, hat Ferris angekündigt, wird im zweiten Band eine größere Rolle spielen.) Um eine Horrorgeschichte handelt es sich zweifellos auch, durchsetzt von Schatten und Ängsten, Kellerräumen, versperrten Türen, Geistererscheinungen und der Stimme einer Toten. Die Kolportage ist nicht fern: Es gibt Friedhöfe und Geheimgänge, einen Bauchredner mit Glasauge, einen klugen Freund mit entstelltem Gesicht, und wer die Gemälde im Chicago Art Institute zu deuten versteht, findet darin den Schlüssel zu einem Verbrechen. Die Mafia wohnt im zweiten Stock; in der Schule herrschen die Nonnen und die Bullies aus der Nachbarschaft, während die Nazis, die die Vergangenheit besetzt halten, noch darauf warten, in die Gegenwart von 1968 vorzurücken.

Abbildung aus "My Favorite thing"
Die Cover der Horrorcomics, die Karen unablässig konsumiert, sind Teil dieses Szenarios und zugleich das, was dem Schrecken eine Form und eine Struktur gibt. "My Favorite Thing" enthält zahlreiche dieser Cover: Vignetten, schauerliche Vorsatzblätter, die einzelne Motive der Erzählung wiederaufnehmen. Oder Motive antizipieren, denn diese Geschichte der Heimsuchungen und Schreckgestalten ist auch ein Schauplatz der Übertritte, in dem Figuren und Objekte den Platz wechseln, um in eine Side Story oder in ein Bild einzutreten. Gemälde sind begehbar, zwischen den Welten und Zeiten wird gewandert; die Türen lassen sich nur mit einigem Aufwand verschlossen halten, und die Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind nicht sehr fest gezogen.

Emil Ferris hat diese Geschichte in ein fiktives Ringbuch gezeichnet, mit Bic-Kugelschreibern, Filzstiften und sehr vielen Linien, Schraffuren, Strichen. Das Ringbuch gehört der Protagonistin Karen, es ist zu gleichen Teilen Chronik und chef-d'œuvre und in aller programmatischen Ungefälligkeit vielleicht das Schönste, was seit Richard McGuires "Here" (Pantheon Books 2014, mehr hier) als Comic publiziert worden ist. Eine Geisterbahn, ein Panoptikum, ein Zoo voller Fratzen aus der Geschichte der Malerei, des Comics, des Films. Ein Alptraum, gewiss, aber auch: ein Märchen mit einer Heldin, die lieber ein Werwolf sein will, und einem großen Bruder, der mehr Tattoos am Körper trägt, als in einem Panel unterzubringen sind. Uptown Chicago, 1968, ist ein dunkler Ort, auch vor Einbruch der Nacht, die "Chicago Riots" nur ein paar Blocks und Buchseiten entfernt. Im Oktober erscheint der zweite Band, und die Rechte hat Sony Pictures schon im März 2017 gekauft.

"Les Rigoles" (Actes Sud BD, 2018), das andere nocturnale Wunderwerk, erscheint in vieler Hinsicht als Komplementär zu "My Favorite Thing". Kein spätes Debüt, sondern der vierte Comic eines hochbegabten Zeichners um die dreißig; keine Geschichte über Chicago, sondern eine über Paris; keine über Underdogs, sondern eine über die ziemlich Reichen und ziemlich Schönen; nicht gezeichnet, sondern aquarelliert; kein Journal, sondern der Trip einer sehr langen Nacht, die drei Figuren in dasselbe Etablissement und später aus dem Etablissement auf je verschiedene Reisen führt, die nicht unbedingt dazu gemacht sind, im Glück zu enden.

Vor allem aber unterscheidet sich "Les Rigoles" von den Schraffuren und Fratzen auf den Buchseiten von Ferris, weil es ein anmutiger Comic ist. Krankhaft anmutig, das heißt: beinahe zu schön, zu bunt, zu schillernd, zu gekonnt; eine fluide Welt der Choreografien und Ornamente und der perfekten Wimmelbilder, in denen sich die Figuren verlieren. Dass den Figuren Farben zugeordnet sind: Blau, Rosa, Giftgrün, Zinnober, ermöglicht es, sie wiederzufinden und die Worte, die in denselben Farben auf dem Papier stehen, mit Gesichtern und Gestalten zu verknüpfen.

Indes: Worte bedeuten hier nicht allzu viel. Das Völkchen, das zu später Stunde in Paris unterwegs ist, plappert und schwatzt, es flötet und lallt oder betreibt Konversation für ein paar Minuten. Die besten Geschichten werden vom Taxifahrer erzählt (jede einzelne eine große Lüge); aber als der zum ersten Mal ins Bild kommt, ist längst klar, dass alle Rede hier nur als Teil eines Ornaments zu betrachten ist.

Wimmelbild aus "Les Rigoles"

Das, worauf es in "Les Rigoles" ankommt, sind die Körper. Und deren Bewegung. Blasse, gleitende, weich konturierte Körper, die über die Buchseiten gezogen und getrieben werden. Flüssige Körper, die ihre Form verändern und zwischen Sehnsucht und Begehren, Alkohol und Tränen, Straßenverkehr, Wasserbecken, Speichel, Tabletten immer wieder an den Rand der Auflösung geraten, nach der sie streben und der sie zugleich zu entgehen suchen. Der Blaue (Jona), der nur noch eine Nacht in der Stadt ist, der Rote (Rodolphe), der vielleicht schon zu viele Nächte in der Stadt erlebte, die Giftgrüne (Victoire), die auch ein paar Nächte hinter sich hat, aber längere Zeit aus dem Verkehr gezogen war: Was ihnen widerfährt, ist kein Drama und erst recht keine Tragödie, sondern nicht viel mehr als die Erfüllung ihrer Wünsche, die manchmal auch eine Horrorgeschichte ist.

Wenn die Figuren von Brecht Evens bezaubernd anzusehen sind, so sind sie doch nicht weniger umgetrieben als die kleinen und großen Monster auf den linierten Seiten von Emil Ferris. Und vielleicht ist die magische Welt der einen der des anderen in diesem einen Punkt tatsächlich ähnlich: dass beide eine Geschichte des Weltverlusts zu erzählen haben, der sich im Laufe von ein paar Wochen ereignet (Ferris) oder im Laufe einer Nacht (Evens), in einer dunklen Zeit (Ferris) oder in einer Zeit, die gestern gewesen sein könnte (Evens). Auf den letzten Seiten liegen, sitzen, stehen die Figuren irgendwo; nicht in Sicherheit. Und dass es Tag wird, heißt noch lange nicht, dass die Nacht zu Ende ist.

Stefanie Diekmann