Essay

Das Postpost oder Wege aus dem Ich

Von Charlotte Krafft
19.07.2016. Dem deutschen literarischen Nachwuchs wird immer wieder vorgeworfen, er beschäftigte sich nur mit sich selbst, habe nichts zu sagen und wage nichts. Woher kommen diese Vorwürfe, sind sie berechtigt und wenn ja, warum ist das so?
Für viele junge Autoren ging am 11. Juli, Einsendeschluss des 24. open mike Wettbewerbs, das Bangen los. Die traumhafte Verheißung: Eine exklusive Abkürzung in den Literaturbetrieb, die schlagartige Befreiung von allen Sorgen eines jungen Literaten. Denn abgesehen von den 7500 Euro Preisgeld, die den drei Gewinnern winken, lockt der größte Nachwuchs-Wettbewerb der deutschen Literatur, veranstaltet von der Literaturwerkstatt Berlin, auch jede Menge Verleger und Agenten auf der Suche nach vielversprechenden Debütanten an, was wiederum die potenziellen Debütanten in Scharen in den Neuköllner Heimathafen treibt. Wer beim open mike gewinnt, veröffentlicht in der Regel innerhalb eines Jahres sein Debüt bei einem der großen deutschen Verlage, so der Mythos, und was dann folgt - Preise, Auszeichnungen, mediale Aufmerksamkeit, Geldregen, Weltruhm!

Über 500 Einsendungen erreichen die Juroren jährlich und tatsächlich finden sich inzwischen einige große Namen wie Karen Duve, Zsuzsa Bánk, Kathrin Röggla oder Tilman Rammstedt in der Liste der Finalisten und Gewinner seit dem ersten open mike 1993. Dies hat wesentlich zum Erfolg des Wettbewerbs beigetragen. Doch so hoch der Andrang seit Jahren sein mag und so beliebt der open mike bei den Kritikern ist (ob nun, um sich mal wieder einen ordentlichen Verriss zu gönnen oder eifrig gegen die Verreißer zu wettern), die Vorwürfe halten sich. Nabelschau! lautet hier das Stichwort. Jedes Jahr im November überschwemmt eine neue Welle gelangweilter bis böser Kommentare mit unverminderter Kraft die Feuilletons und Literaturblogs. Positive Reaktionen gab es in den letzten Jahren kaum, und wenn dann höchstens im Sinne eines ausgleichenden, beschwichtigenden oder beleidigt aggressiven Konters. Sogar die Juroren selbst haben sich zuweilen schon enttäuscht über die Beiträge geäußert. Maxim Biller beispielsweise beschwerte sich 2006 über das mittelmäßige Niveau der Texte. "Es gab keine Geschichte, von der ich hätte wissen wollen, wie sie ausgeht." (Welt) Es würden keine Konflikte verhandelt, gesellschaftliche Auseinandersetzungen fänden kein Interesse und so gut wie niemand komme über den "Modus der gesitteten Beschreibung" (taz) hinaus.

Ähnliche und weitere Vorwürfe finden sich, so weit man zurückverfolgen kann, das heißt seit 1997, in sämtlichen Zeitungen von FAZ bis taz. So schreibt Wolfgang Schneider 2004 in der FAZ: "Immer wieder Ich-Geschichten; offenbar ist die Bereitschaft, sich eine Figur auszudenken, bei den meisten Jungautoren nach wie vor gering ausgeprägt." oder Jana Hensel in der Welt 2006: "ein verstörend homogenes Feld, aus dem niemand hervorstach; aus dem aber auch niemand heraus fiel. Man könnte sagen, dass 20-jährige Deutsche noch nie so gut schreiben konnten wie heute, aber so wenig mitzuteilen hatten" Auch Heike Kunert (die Zeit) ist nach ihrem Besuch beim Wettbewerb 2014 frustriert: "Auf die Frage, was den diesjährigen open mike ausgezeichnet habe, antworteten (die auswählenden Lektoren) wie aus einem Munde: Professionalität.... Allein, (die Autoren) vermögen weder etwas zu erhellen, noch entdeckt man dahinter Erwähnenswertes, geschweige denn Unerhörtes. Man konnte nicht einmal viel Erlebtes entdecken und leider auch nichts sensationell Erfundenes."

So häufen sich also Jahr für Jahr die Verrisse. Die gleichbleibenden Stichworte der Kritik: Nabelschau, Homogenität, Sterilität, Mittelmaß, Inhaltslosigkeit, Mutlosigkeit, fehlende Leidenschaft, zu viel "Ich", zu wenige Ecken, zu wenig Fantasie, zu wenig Experiment. Dabei galt der Wettbewerb in den ersten Jahren noch als erfrischende Abwechslung, als die flippige, jüngere Schwester der ollen Bachmann-Preisverleihung. Leider dauerte es nicht lange, bis die Jüngere es der Älteren scheinbar gleich tat.

Nun stellt sich dem aufmerksamen Beobachter dieser Debatte die Frage, woran es denn liegen mag, dass die jungen Teilnehmer des open mike nach (überwiegender) Meinung der Presse alle die selbe anämische Prosa produzieren.
Ursula Kocher, die sich in ihrer Masterarbeit mit dem Wettbewerb beschäftigt hat, vermutet, dass das Problem in der Natur des Wettbewerbs als Institution "zwischen Förderung und Vermarktung" begründet liegt. Kocher zitiert den Germanisten, Verleger und Historiker Hans Altenhein, der erklärt, Literaturpreise seien wie alle neuzeitlichen literarischen Erscheinungen von einer "materiell-immateriellen Doppelnatur" geprägt und bedauert, dass sich unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Literaturzirkulation auch die immateriellen Aspekte, also in erster Linie Preise, Wettbewerbe, Förderungen und ganz allgemein öffentliches Ansehen in materielle verwandelten. Das geschehe nicht nur mit den geförderten Autoren, sondern auch mit allen anderen Beteiligten - der Literaturwettbewerb also zwischen den Mühlsteinen des Konsumkapitalismus. Schon dem Bachmann-Wettbewerb hatte man vorgeworfen, nicht mehr als "ein Verlagsforum" zu sein, "das fertig lektorierte Bücher von Jungautoren noch mal schnell bepreisen lässt, um mit der Bachmann-Banderole ein paar tausend Exemplare mehr zu verkaufen" (Volker Weidermann in der taz 1999) Und nun ist der open mike also ebenfalls Bestandteil des Literaturmarktes geworden und fördert nur noch das, was sich gut vermarkten lässt. Liegt es demnach an den Juroren, dem Wettbewerb, dem gesamten Betrieb, nur nicht an den Autoren?

Andere suchen die Gründe in den Schreibschulen. In den letzten Jahren ist der Anteil der Finalisten mit Schreibschul-Hintergrund deutlich gestiegen. Ines Kappert kritisierte 2006 in der taz die Literaturinstitute als "Kaderschmieden", deren Aufgabe es sei, den literarischen Nachwuchs für den Betrieb zurecht zu hämmern. So sei es kein Wunder, dass die frisch geformten Nachwuchs-Literaten, die beim open mike anträten, keine normbrechenden Texte schrieben. Hier wird der Vermarktungs-Vorwurf also auf die kulturellen "Kaderschmieden" verschoben.

Tatsächlich fallen in der immer wieder aufflammenden Debatte über literarische Schreibschulen in Leipzig, Hildesheim, Biel und Wien ähnliche Stichworte wie im Zusammenhang mit dem open mike. Den Texten fehle es nicht an handwerklicher Perfektion, schreiben könnten sie alle, sondern an Tiefenschärfe, an Leidenschaft, an Bedeutung, meint Ingomar von Kieseritzky, Juror beim open mike 2003. Literaturschulen seien der Untergang, am Ende kämen nur "liebe, harmlose Sachen raus" (berliner zeitung), die sich stilistisch alle ähnelten. Als Kennzeichen des angeblich homogenen Schreibschul-Tons nennen die Kritiker meist den lakonischen Tonfall, eine Allergie gegen Adjektive, auf keinen Fall Pathos!, jede Menge 'Ich' und die Eins-zu-eins-Wiedergabe von Alltagsgeschehnissen.

Florian Kessler hat mit seinem Artikel in der Zeit der Debatte vor zwei Jahren noch einmal ordentlich Auftrieb gegeben. Hier plaudert Kessler, selbst Sohn wohlhabender Eltern und Absolvent des Hildesheimer Literatenlabors, aus dem literaturbetrieblichen Nähkästchen, kotzt sich einmal genüsslich über das sich selbst reproduzierende Bürgertum in Schreibschulen und Wettbewerben aus und attestiert dem Betrieb eine generelle speckige Saturiertheit. Eine Flut von Reaktionen folgte, darunter einige zustimmende, einige beleidigte, empörte, ausgleichende, kluge und blöde, aber was übrig blieb und bleibt bis heute: Der Vorwurf, die junge deutsche Literatur habe nichts zu sagen oder wenn sie etwas zu sagen habe, dann sage sie es eben nicht. Woran Kessler vermutlich nicht gedacht hat: Dass er selbst mit seinem passioniert selbstkritischen Artikel diesen Vorwurf tatkräftig nährt. Er hätte seine Leidenschaft schließlich auch auf etwas anderes als sich selbst und die Literaturwelt, in der er sich bewegt, lenken können...

Und auch hier stellt sich wieder die Frage: Tragen die Schreibschulen tatsächlich die Schuld am vermeintlichen Schreibschul-Ton? Die Unterrichts-Praxis deutet darauf hin: Über jeden Text der Studenten wird jeweils eine Unterrichtseinheit lang gesprochen. Dozenten und Kommilitonen äußern Meinungen und Vorschläge. Am Ende, so Juli Zeh, die am Literaturinstitut Leipzig studierte, habe man den Bogen raus eine "wasserdichte" Erzählung zu schreiben, "Instinktiv weiß man irgendwann, mit welchen Texten man ungeschoren davon kommt" (Spiegel), so werde vor allem das gefördert, auf das sich alle einigen können.

Aber selbst wenn dem so ist, woher kommt die inhaltliche Beschränkung, das so dominante "Ich"? Raten die Dozenten ihren Schülern dazu, sich thematisch nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen und bei dem zu bleiben, womit sie sich auskennen - sich selbst, dem eigenen Umfeld, den eigenen Erfahrungen, der eigenen Generation? Und wenn ja - warum tun sie das? Woher rührt die Annahme, Schriftsteller sollten, wie Maxim Biller es in seinen "33 Gründen, warum Sie Schriftsteller werden und auch bleiben sollten" ausdrückt, lediglich "über das schreiben, was sie selbst erlebt, gesehen und erfahren haben" und sich nicht mit Dingen beschäftigen, die über den eigenen Erfahrungshorizont hinaus gehen?

Mag sein, dass tatsächlich so etwas wie ein Hildesheim-Ton oder ein Leipzig-Ton existiert, doch oftmals finden die Schreibschüler nach ihrem Studium einen individuelleren Stil, außerdem kommen bei Weitem nicht alle jungen Autoren aus den Literaturinstituten und selbst innerhalb der Institute gibt es immer wieder einzelne stilistische Überraschungen. Aufschlussreicher erscheint es mir, sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Wenn man sich einmal in der derzeitigen Literatur der seit Mitte der Achtziger geborenen Autoren umliest, wird man feststellen, dass sich, und das über die Wettbewerbe und Schreibschulen hinaus, eine gewisse Tendenz abzeichnet. Sie alle schreiben entweder offen autobiografisch, insgeheim autobiografisch, teilweise autobiografisch oder irgendwie so, dass sich der Autor ganz offensichtlich an autobiografische Erfahrungen halten kann. Das fällt schon auf, wenn man einmal auf die Berufe der Protagonisten achtet. In den allermeisten Fällen handelt es sich um Schriftsteller, Journalisten, mindestens Musiker oder Künstler, oftmals in Großstädten, davon besonders beliebt, kein Geheimnis, Berlin.

Zwei prominente Beispiele: Ronja von Rönne und Stefanie Sargnagel. In ihrem Debütroman "Wir kommen" schreibt von Rönne das fiktive Tagebuch einer jungen Großstädterin, die, abgesehen vom Verlust einer engen Freundin, unter Panikstörungen, ihrer scheiternden Vierer-Beziehung und genereller Unausgefülltheit leidet, ein schöner Trick, um im Grunde genommen das eigene Tagebuch zu schreiben oder eines, das ohne Probleme das eigene sein könnte. Von Rönne versteht es ausgezeichnet, die charakteristische Leere, das Leiden am "Zuviel" wodurch im Endeffekt ein "Zuwenig" entsteht, zu schildern, die nie pausierende Selbst-Reflexion, die Resignation angesichts der Überinformation, dem Überangebot, der generellen Überforderung, die halbherzige, tatenlose Suche nach irgendetwas. Mit Leere beschäftigt sich auch Stefanie Sargnagel. In ihren größtenteils autobiografischen, tagebuchartigen Erzählungen und Notizen geht es um Wien, ums Nichts-Tun, um "verranzte Beisln", Bier, Kippen und um sie selbst.

Wieder nach Berlin zurück kommen wir mit Julia Zange, die selbst in der Stadt lebt, inzwischen Anfang 30 ist und für verschiedene Magazine schreibt. Im September wird ihr zweites Buch "Realitätsgewitter" veröffentlicht. Was geschieht? Eine Anfang 20-jährige Journalistin kommt nach Berlin, schreibt für ein Hochglanz-Magazin, scheitert an der Großstadt, kehrt wieder zurück in ihre Heimat - man kennt das Prinzip, zum Beispiel von Sophie Senoner, Ende 20, lebt in Kreuzberg, Redakteurin des Lifestyle-Magazins Proud. In "Nachtaktiv" schreibt sie über die junge, kreative Heloise, ihr Leben in Berlin, Drogen, Party, Alkohol, die Suche nach sich selbst und, ach ja, nach Liebe.

Simone Lapperts und Birgit Birnbaums Protagonistinnen leben zwar nicht in Großstädten, leiden aber nicht weniger unter den Problemen und Themen, von denen wir bereits ahnen, wenn wir es nicht schon vorher wussten, dass man sie getrost wie Wikipedia mit "Soziologische Charakterisierung der Millenials" überschreiben könnte.

Wer diese Probleme und Themen besonders empathisch und konsequent beschreibt, dessen Bücher werden dann "Generationenromane" genannt. So verhält es sich beispielsweise mit Ronja von Rönne und Leif Randt. "Schimmernder Dunst über Coby County" ist quasi das 1984 unserer Generation, eine scheinbar sorgenfreie, seifig duftende Sci-Fi-Welt junger, optimierter Kreativer, doch darunter, so ahnt man, fault und müffelt etwas ganz gewaltig. Eine Kritik an unserer westlichen Wohlfühlwelt? Mit Sicherheit. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als junger Kreativer in dieser Welt? Bestimmt.

Und so geht es immer weiter: Boris Pofalla, Helene Hegemann, Nora Gantenbrink, Sascha Macht, Antonia Baum, Kat Kaufmann, Olga Grjasnowa, Marko Dinić, sie alle sind und schreiben über solche jungen Kreativen und Intellektuellen. Oft schon wurde der Generation Y vorgeworfen, sie hätte nichts zu erzählen, weil verwöhnt, nichts erlebt, nichts erlitten. Doch wenn man dieser Aussage nicht sowieso schon prinzipiell widerspricht, so muss man dies wenigstens im Fall von Kaufmann, Grjasnowa und Dinić tun. Ihre Gemeinsamkeit ist ihre osteuropäische Herkunft und die damit zusammenhängenden "Geschichten", "echte Geschichten", wie einige in der Gegenüberstellung mit anderen Autoren der Generation behaupten. Doch auch sie vereint mit ihren Alters- und Zunftgenossen eben jene Beschränkung auf das selbst Erlebte.

In einem Zeit-Artikel von 2014 sagt Ruben Zumstrull, Student am Literaturinstitut Leipzig: "Die deutsche Gegenwartsliteratur [ist] nicht nur ekelerregend brav, sie ist obendrein langweilig bis zur Unlesbarkeit. Das Problem liegt in dem allgemeinen Trend, sich möglichst nicht angreifbar zu machen. Das Motto dahinter lautet: Lieber ein vorsichtiges Projekt fehlerlos umsetzen, als sich beim Versuch, etwas Gewaltiges zu schaffen, eine Ungereimtheit zu erlauben."

Ich persönlich stimme ihm nur in einem Punkt zu: dem Trend, sich nicht angreifbar zu machen, obwohl ich es weniger für einen Trend als viel mehr für eine Not halte.
Wie ist diese Not und der resultierende Rückzug ins Innere, in die unangreifbare Subjektivität zu erklären? Ich will einen Versuch wagen, dazu am Anfang beginnen und es trotzdem kurz und darum natürlich viel zu einfach machen:

Am Anfang war die Aufklärung, die Aufklärung mit ihrer Formenstrenge, mit ihrer Vernunftgeleitetheit, dem Glauben an die Erklärbarkeit der Welt durch die Wissenschaft. Literatur in der Zeit der Aufklärung war vernünftige Literatur und erhob den Anspruch objektiv sein zu können. Dieser Phase der Objektivität und der strengen Vernunft musste zwangsläufig die Zurückeroberung des Gefühls für die Kunst folgen, leidenschaftliche Rebellion gegen das Vernünftige, Starre. Die Stürmer und Dränger huldigten dem Affekt, der Jugend, den Trieben, der Freiheit, dem Individuum und vor allem dem Genie, eben allem, das die Aufklärung ihnen genommen hatte. Die Vorstellung des "Original-Genies" und einer Zeit, einer Epoche der Genialität war es, was "den Epigonen" später zu schaffen machte, doch vorerst - die Romantik.

Auch die Romantik ist als Antwort auf die Aufklärung sowie die durch die Industrialisierung ausgelösten gesellschaftlichen Umbrüche zu verstehen, aber auch auf den "Wirbelwind" der Stürmer und Dränger. Im Gegensatz zu ihnen, zogen sich die Romantiker lieber in innere Gefühls- und Traumwelten zurück, in denen sie sich im Schutz der Fantasie in die Ferne, die Fremde denken konnten.

Eine gewisse auch politische Resignation angesichts der so groß und unübersichtlich gewordenen Welt trieb auch die Künstler des Biedermeier ins Innere, allerdings nicht in ferne Welten oder die Natur, sondern in die eigenen vier Wände. Die Abkehr von den neuen, von der Aufklärung gebrachten Freiheiten, hin zur wohl geordneten, konservativen Bürgerlichkeit, zum Familienleben, dem Privaten, ist kennzeichnend für die biedermeierliche Kunst. Im Gegensatz dazu steht die fortschrittliche Literatur des Vormärz. Die Literaten des Jungen Deutschland wollten mit ihrer Gesellschaftskritik das Bewusstsein des Bürgertums erreichen und forderten eine politisch engagierte Literatur, bereinigt von den Idealen der literarischen Klassik, bereichert um die neuen Ideale der Revolution.

Ihre Revolution scheiterte jedoch und die Enttäuschung darüber schlug sich natürlich auch in der Literatur nieder. Während der Realismus sich anfangs noch einen Rest Idealismus bewahrte und auf die Verschränkung von Realem und Idealem, von Schönheit und Wirklichkeit abzielte, wurde er zur Jahrhundertwende hin zunehmend pessimistisch. Soziale Ungleichgewichte erschütterten das Vertrauen in den technischen Fortschritt und der Determinismus als logische Folge von Darwins Evolutionstheorie stellte jegliche Transzendenz im menschlichen Leben in Frage.

Der Determinismus ging von der Erfahrbarkeit der Welt durch die Wissenschaft aus, was die Naturalisten beeinflusste und inspirierte. Sie glaubten an wissenschaftliche Objektivität. Ihr Ziel war die Darstellung der äußeren Wahrheit im Schönen, wie Belanglosen und im Gegensatz zum Realismus auch im Hässlichen. Doch um die Jahrhundertwende gerät diese Objektivität immer mehr ins Wanken und es kommt zur endgültigen Abkehr. Die Moderne mit ihren -Ismen (Impressionismus, Symbolismus, Expressionismus) wendet sich, angeregt von Einsteins Relativitätstheorie, Freuds Entdeckung des Unbewussten und Hofmannsthals Sprachkritik der Subjektivität, dem Individuum zu, experimentiert mit neuen Erzähltechniken und Themen, erhält sich dabei aber immer etwas, das erst mit der Postmoderne gänzlich aus der Literatur zu verschwinden scheint: Einen gerichteten Willen.

Und dann die Postmoderne, ein Begriff für das Fehlen von Begriffen, das Fehlen der Gemeinschaft und des Allgemeinen, ein Begriff für das Nicht-Vermögen, ein Begriff für die Dekonstruktion der großen Geschichten, der Richtungslosigkeit, ein Begriff, der sich nur durch Negationen zu definieren lassen scheint. Was übrig bleibt: nichts und alles. Die Postmoderne räumt mit allen großen "Erzählungen", allen teleologischen Modellen und Ideen auf, allen Utopien und aller Eindeutigkeit. Pluralisierung auf jeder Ebene und damit einhergehend Relativismus beherrschen nicht nur die Literatur. Innovation spielt keine Rolle mehr, Kombination bleibt als einziges künstlerisches Mittel, Kombination von vorhandenen Ideen, Mitteln, Intertextualität und der ironisch distanzierte Umgang mit der Tradition, mit dem Vorhanden, Vererbten ist typisch.

Im Grunde befinden wir uns immer noch in dieser Epoche, vielleicht auch einen Schritt weiter im Nichts. Man könnte diese Zeit eine Zeit des Reflektivismus nennen. Während die Postmoderne sich (wenigstens) noch als Gegenbewegung zur Moderne verstand, hat das Postpost nichts mehr wogegen es sich wenden kann. Da sie einer Epoche der Dekonstruktion folgt, hat die neue deutsche Literatur nun nichts mehr zu dekonstruieren. Denn wie ist Dekonstruktion zu dekonstruieren? Was ergäbe die Negation einer Negation, die nicht nur eines, sondern alles und nichts negiert. Wo ist das Oben in dieser Spirale festzustellen? So begnügt sich die Literatur des Postpost also damit, ihr Unvermögen zu reflektieren.

Die Angst vor Epigonalität ist sicherlich ein Aspekt dieses Unvermögens. Über den Begriff wurde viel gestritten. Vielleicht ist darunter gar nicht eine eigentliche Gegebenheit, sondern viel mehr das Gefühl einer Gefahr zu verstehen, das insbesondere in Zeiten des Überangebots, des Zuviels herrscht. Dies trifft sowohl auf die Restaurationsepoche als auch auf die Postmoderne zu. Die Gefahr der Epigonalität ist die Gefahr, etwas Dagewesenes lediglich zu reproduzieren, nachzuahmen und dabei immer im Schatten des Originals zu stehen. Je größer also mein Wissen über alles, was vor mir existiert hat, desto größer die Gefahr. Um dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen, gibt es nur ein Mittel: die Konzentration auf das einzige, was unter Garantie noch nie da gewesen ist - das Ich.

Ein weiterer Aspekt: Die Angst vor Entscheidungen und Meinungen. Die Postmoderne hat uns gelehrt, dass eindeutige Wahrheiten nicht existieren, und, dass die verschiedenen nebeneinander existierenden Wahrheiten, Moralvorstellungen und Gerechtigkeiten unvereinbar miteinander sind. So wurden wir also geschult, mit jedem Argument das Gegenargument mitzudenken, hinter jeder Wahrheit eine andere Wahrheit zu sehen, mit jedem Blick wieder und wieder die Perspektive zu wechseln. Anything goes. Das Internet, die Medien haben ihren Teil dazu beigetragen, indem sie uns die Augen für die verschiedensten Perspektiven auf die verschiedensten Themen geöffnet haben. Ohne die eine Wahrheit, die eine Moral, das eine Richtige, gibt es auch keine Zielorientierung mehr, keine Utopie im Sinne Hegels, keinen sinnhaften Fortschritt, nichts, das erlaubte, anzuprangern oder andersrum zu loben und zu fördern, nichts wovon sich träumen ließe, außer befreiende Beschränkung.

Was prägt also diese Zeit und ihre Literatur: Die Angst vor Epigonalität, die Angst vor Meinungen, die Angst vor Entscheidungen, die Angst vor dem unergründbaren Fremden, vor Träumen, Leidenschaft und Naivität, denn all dies bedeutet Ausschluss, gefährliche Eindimensionalität. Leidenschaft für das eine schlösse Leidenschaft für all das andere aus, das Fremde ist nie in seiner Gänze zu begreifen, die ganze Wahrheit bleibt immer unausgesprochen und das Bewusstsein darüber ist unser Drama. Am Ende kann ich mich nie für eines entscheiden. Am Ende bleibt nur die Resignation und das Verlangen, über meine Not zu schreiben, zu reflektieren und diese Reflexion wiederum zu reflektieren und immer so weiter. Die Konzentration auf ein anderes Thema als das Ich, das Zentrum unendlicher Möglichkeiten, scheint unmöglich. Egozentrismus ist keine Entscheidung.

Ich möchte auf keinen Fall behaupten, dass das "Ich" in der Literatur, die Erforschung des Selbst durch das Schreiben, keine Berechtigung hat, ganz im Gegenteil, gerade für junge Autoren ist es wichtig und wertvoll, sich mit sich selbst und ihrer Rolle als Schriftsteller zu beschäftigen, insbesondere, wenn sie eine "Geschichte" haben. Mir geht es nicht um Kritik an diesem Schreiben, vielmehr frage ich mich, wie es dazu gekommen ist und ob es nicht vielleicht an der Zeit ist, sich aus der Lähmung des Egozentrismus' zu befreien und gerade wenn wir das Gefühl bekommen, keine eigene "Geschichte" zu haben, uns wenigstens die Möglichkeit, eine andere Geschichte zu erzählen, von uns selbst zurückzuerobern. Vielleicht ist es an der Zeit für eine neue reflektierte Naivität, ein mutiges Anprangern ohne Lösungsansätze, eine entschiedene Eindimensionalität, die Leidenschaft erlaubt, ohne sich zu verschließen, ein aufrichtiges Interesse für das Andere, das Fremde, Mut zu Pathos, Träumerei und Affekt, zum Vielgesagten, zum Sinn- und Aussichtslosen, zur Meinung und zum Streit, Mut zum TROTZDEM, vielleicht...

Charlotte Krafft