Essay

Pauken, Zimbeln und Tschingderassassa

Von Thierry Chervel
24.06.2016. Wie und warum in Lyon die "Entführung aus dem Serail" inszeniert wurde. Und wie es kommt, dass der Perlentaucher drüber schreibt.
Es ist seltsam mit den Konventionen in der Oper. Anders als Theaterstücke, die von den Regisseuren inzwischen in ihre Grundbestandteile zertrümmert wurden, verweigern sich die Text-Musik-Gebilde diesem drastischen Recycling. Die "Entführung aus dem Serail", die jüngst an der Deutschen Oper Berlin (mit zwiespältigem Echo, siehe unsere Resümees) und nun in Lyon gegeben wurde, ist da ein kleines bisschen anders.

Die "Entführung" ist ein Singspiel, dessen verbindende dramatische Szenen von Mozart und seinem Librettisten Gottlieb Stephanie nicht als Rezititav, sondern als Sprechdialog geschrieben wurden. Die Rolle des Bassa Selim, die in Lyon von Peter Lohmeyer übernommen wurde, ist gar eine reine Sprechrolle - das ist sehr selten, selbst in diesem Genre: Der Bassa, ein türkischer Magnat, hat Konstanze, ihren Diener Pedrillo, ihre Zofe Blonde entführt und wird von Belmonte aufgespürt, der die drei zur Flucht führt - und scheitert. Allein die Großsinnigkeit des Bassa vereitelt ihre barbarische Bestrafung.

Das gibt bei Mozart Anlass für zierliche Arien, großartige Ensembles und krachende Janitscharenmusik mit Pauken, Zimbeln und Tschingderassassa.

Nun hat Regisseur Wajdi Mouawad in Lyon den gesprochenen Text also aktualisiert - etwas, das man in anderen Spielopern dieser Zeit, deren Dialoge als Rezitative gesetzt sind, nie tun würde. Er dichtet ein Vorspiel und neue Handlungsstränge hinzu, erfindet feministische Monologe für die Frauen, die sich über beide Kulturen - die westliche und die islamische - beschweren, und eröffnet gar den dritten Aufzug mit einem muslimischen Gebet, inklusive dem von einem der Tenöre der Aufführung wunderschön intonierten Gebetsruf.


Haut die Tête de Turc. Szenenfoto aus dem Vorspiel zu Mouawads Inszenierung. Copyright: Stofleth

Mouawads Interpretation besagt, dass der Westen eben schon damals islamophob gewesen sei - darin erkennt er die bis heute gültige Aktualität der "Entführung", aber er ist zu intelligent und zu sehr Theatermann, um die Widersprüche des Stücks nicht auszuagieren und zu inszenieren. Es reicht nicht, aus Osmin - diesem wunderbar barbarischen Diener des Bassa und nebenbei virtuosen Koloraturbass mit komischsten Wirkungen, der überdies so rührend in Blonde verliebt ist - "einen schwarz gekleideten Dschihadisten zu machen, der ein Messer an Blondes Kehle hält, während sie im orangefarbenen Overall vor ihm kniet", sagt Mouawad am Tag nach der Aufführung im Gespräch, und man muss ihm in der Tat dankbar sein, dass er auf derartiges Holzhammer-Regietheater verzichtete.

Die Widersprüche stecken ja schon im Text, und erst recht in der Musik, die in ihrer Schönheit jede charakterliche Zuschreibung ohnehin transzendiert. Klar ist Osmin für Mozart ein Barbar, der sich am Ende eine unterhaltsame Hinrichtung der gefassten Flüchtlinge wünscht: "Erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heiße Stangen." Aber da ist ja auch die Großherzigkeit des Bassa, die Mouawad nicht leugnen kann: Der Islam war für die Aufklärung auch eine positive Projektionsfläche, weil er immerhin so etwas wie eine Geschichte und einen Begriff von Toleranz hatte. Als Gegenfigur zum Islam hatte die Aufklärung nicht "den Westen" im Blick, sondern die katholische Kirche, die zu eben jener vom Bassa geübten Gastfreundschaft, die am Ende sogar die geliebte Konstanze ziehen lässt, nicht fähig ist.

Immerhin, Mouawad gibt zu denken. Auch wenn seine Aktualisierung in den Fugen knirscht: Sie ist legitim, dafür ist eine Inszenierung da. Die seltsame Frage ist für mich eigentlich nur: Warum dann auf deutsch? In Lyon? Es muss doch wohl auch eine französische Übersetzung der Librettos existieren - wäre es nicht ebenso gut - und fürs Publikum drei mal einleuchtender - möglich gewesen, das ganze Drama mit Musik auf französisch zu geben? Aber da spielt nun wieder die Opernkonvention hinein, die seit einigen Jahrzehnten besagt, dass Opern in ihrer Originalsprache zu geben seien. Für ein jüngeres Publikum müssen sie wirken wie in Cellophan abgepackt. Hält das wirklich frisch?

Die andere Frage ist natürlich, wie es überhaupt zu dieser Kritik im Perlentaucher kommt. Es ist ja nicht so, dass der Perlentaucher permanent seine Envoyés spéciaux an die Schauplätzes des musikalischen Weltgeschehens entsendet - das könnte er sich nämlich gar nicht leisten-.

Hier wäre also ein offenes Geheimnis des Kulturbetriebs anzusprechen: Es ist heutzutage so, dass Berichterstattung von den Gegenständen der Berichterstattung nicht selten erst ermöglicht wird, durch Einladungen inklusive Anreise und Hotel. Viele Kritiken, auch in Zeitungen, würden ohne solche Einladungen nicht mehr zustande kommen, denn auch die Zeitungen sind finanziell geschwächt.

Ich hatte Lust auf diese Reise, weil auch ein Gespräch mit dem Lyoner Intendanten Serge Dorny winkte, der eine kurze Zeit in Dresden war, bis er von Christian Thielemann weggedrängt wurde. Und ich fand es interessant, dass er es interessant fand, den Perlentaucher einzuladen. "Wenn man auf Frankreich blickt, sieht man, dass von den drei großen Zeitungen eine, Libération, möglicherweise bald verschwinden wird. L'Express, einst ein großes Nachrichtenmagazin, ist gefährdet", sagt der Belgier in ausgezeichnetem Deutsch. Das Publikum informiere sich zuvörderst nicht mehr aus den Zeitungen über die Oper in Lyon, sondern über das Netz, zumeist wohl über die sozialen Medien. "Trotzdem ist für mich natürlich interessant, die Journalisten der drei großen Zeitung in Frankreich - Le Monde, Libération, Figaro - hier zu haben, weil sich die Opinion Leaders - nicht die wirtschaftlichen, aber die politischen - noch stark über die Zeitungen informiern".

Was aber die Kommunikation mit dem Publikum angehe, so Dorny weiter, interessierten ihn Zeitungen heute viel weniger. "Wir haben früher viel Werbung in Zeitungen gemacht, das stecken wir heute alles ins Netz, in unsere eigene Netzpräsenz - eine Person kümmert sich bei uns nur darum -, und in die sozialen Medien wie Facebook."

Dadurch ändert sich natürlich die Öffentlichkeit, wende ich ein, denn in der klassischen Musik, in der Oper, aber auch im Theater ist an die Stelle der dünner gewordenen Zeitungen nicht eine Entsprechung im Netz getreten. Bei Literatur, Popmusik oder Kino gibt es zwar inzwischen einige interessante Adressen - aber für die klassischsten Sparten des Kulturbetriebs sieht es im Netz traurig aus.

Dorny stimmt dem zwar zu, aber er macht durch seine weiteren Ausführungen auch klar, dass die Lage der Medien nicht zu seinen Prioritäten gehört. Ihm geht es in erster Linie um seine Institution, und das Netz ist für ihn nur eines der Instrumente, mit denen er als Opernchef einen viel weiter gehenden sozialen Wandel in den Griff kriegen will.

Es ist faszinierend, Dorny zuzuhören, wenn er seine Oper positioniert. Sie steht wirklich anders da, als die meisten deutschen Häuser. Sie ist die einzige Oper in einem Großraum von 6 oder 7 Millionen Menschen - mit einem Budget von 38 Millionen Euro. Dafür würden viele deutsche Intendanten nicht mal höflich hüsteln. Die Bayerische Staatsoper in München hat zum Beispiel 86 Millionen Euro. Der Unterschied liegt im Stagione-Betrieb, der wesentlich günstiger ist als der deutsche Repertoire-Betreib mit täglich wechselnden Vorstellungen und einer viel kontinuierlicheren Präsenz. Dorny hat's in gewisser Hinsicht leichter als deutsche Intendanten:

Aber bei ein paar Punkten wünschte man sich, dass ihm auch deutsche Intendanten zuhören: Der Altersdurchschnitt des Lyoner Publikums liegt bei 45 Jahren, drei Jahre höher als der der französischen Bevölkerung. Andere Institutionen in Frankreich hätten eher einen Altersdurchschnitt von 50 Jahren. In Deutschland soll der Altersdurchschnitt des Klassikpublikums bei 55 bis 60 Jahren liegen.

Ermöglicht hat diese Erneuerung, so Dorny, ein radikaler Schnitt: Das Publikum der Lyoner Oper bestand früher zu 85 Prozent aus Abonnenten. "Und die Auslastung lag bei 87 Prozent, das war wie ein Privatclub, und die Oper war kaum noch präsent in der Stadt, weil man um das Publikum nicht mehr werben musste." Hat eine Oper zu viele Abonnenten, altert das Publikum, und es gibt keinen Austausch. Dorny hat die Abonnenten auf 23 Prozent zurückgedrängt. Den Preisvorteil von 40 Prozent gegenüber regulären Tickets hat er auf zehn bis 15 Prozent reduziert. Dafür bekommen die Abonnenten eine höhere Exklusivität, etwa Präsenz bei den Premieren.


Öffnung zur Stadt. Blick aus dem Foyer der Oper. Foto: privat.

Um das neue Publikum zu gewinnen, ist die Lyoner Oper offensiv in die Stadt gegangen. Seine neuen Saisonprogramme etwa stellt Dorny nicht nur in seinem Haus vor - sondern Bezirk für Bezirk in großen Lyoner Cafés. Die Oper kooperiert in langfristigen Projekten mit Schulen in Lyoner Vorstädten. Künstler und Techniker haben "dadurch auch ein ganz anderes Gefühl für die Bedeutung ihrer Arbeit". Unter den Kolonnaden des Operneingangs hat er ein großes Café eröffnet. "Die Leute sollen sagen, wir treffen uns an der Oper oder in der Oper, die Oper soll in aller Munde sein": Jean Nouvels Architektur unterstützt die Politik der Offenheit, etwa durch einen zweiten, als Amphitheater angelegten Saal im Untergeschoss, in den die Oper freie Produktionen einlädt, nicht nur klassische Musik, "aber es soll mit Tanz und mit Gesang zu haben".

Noch ein anderer Faktor gibt Dorny eine relative Freiheit: Er erhält den größten Teil seiner Subventionen von der Stadt, nur zwanzig Prozent vom gefürchteten Zentralstaat. "Ich berichte in erster Linie an den Oberbürgermeister, erst in zweiter Linie an den Kulturminister." Dorny muss sich also anders als viele andere Kulturfunktionäre in Frankreich nicht vor allem mit den kleinen Sonnenkönigen aus der Hauptstadt herumschlagen. Darum öffnete Dorny das Haus im wesentlichen der städtischen Bevölkerung: "Alle zahlen Steuern für das Haus, nicht nur die, die es besuchen. Also müssen wir so offen sein wie möglich." Viel gelernt hat er hier aus seiner Zeit als Intendant des London Philharmonic Orchestra, auch weil britische Kulturinstitutionen wesentlich weniger staatliche Subventionen bekommen.

Diese Politik der fast schon obsessiven Offenheit wirft auch noch einmal ein Licht auf Mouawads Inszenierung der "Entführung". Der ganze Abend präsentierte sich eher als Drama denn als "klassische Musik". Stefan Montanaris musikalische Leitung war eher Fritz Busch als Karajan: Mozart ist ein Komponist fürs Theater, kein apollinischer Halbgott. Montanari hält es auch aus, wenn über die Ouvertüre hinweggesprochen wird - ja, er hält sie an, um Raum für Mouawads szenische Ideen zu geben.


Szenenfoto aus der "Entführung". Copyright: Stofleth

Das Ensemble aus jungen Sängern fügt sich bestens in dieser eher dramatische als musikalische Konzeption von Oper. Alle spielen prächtig, alle bemühen sich sehr, auch die deutschen Dialoge, mit denen sie sich gewiss ganz schön herumquälen mussten, glaubhaft herzusagen. Sängerisch sind alle brillant, aber mehr noch eben sängerisch-spielerisch. Den größten Szenenapplaus erhielt, wie es sich gehört, Jane Archibald als Konstanze, obwohl mir ihre Rolle undankbar scheint, weil Mozart der Konstanze ein paar kalte Koloraturen auf den Leib schrieb, mit denen sie ausgerechnet die Innigkeit ihrer Gattenliebe unterstreichen soll. Mozarts "Entführung" war damals ein kulturpolitisches Großprojekt. Es ging darum zu beweisen, dass große Oper auf Deutsch möglich sei - und zwar nicht irgendwo, sondern an der Wiener Hofoper unter den Augen und Ohren von Kaiser Joseph II. Auch Diven und Favoriten mussten dabei bedient werden.

Höhepunkt war für mich - neben David Steffens als Osmin - Cyrille Dubois' Belmonte: Dubois ist ein hinreißender Tenor französischer Tradition, hell timbriert mit zuckersüßen Höhen, der es sogar schafft, aus Mozarts Koloraturen - ja, auch er hat zu tirilieren - komödiantischen Witz zu schlagen.

Die Produktion läuft noch bis zum 15. Juli.

Thierry Chervel