Essay

Das Nächste, bitte!

Von Stephan Porombka
27.09.2012. Wir treten ein in die Boom-Zeit der Literatur. Und wer jetzt die Augen zumacht und behauptet, das alles sei flach, sei nur technische Spielerei, der ist taub. Wie der Text zum Flow wird, lässt sich noch nicht absehen. Die Litflow in Berlin erlaubt morgen und übermorgen, neues Denken über das Schreiben zu tanken.
Am 28. und 29. September 2012 veranstaltet die Kulturstiftung des Bundes in Berlin mit "LitFlow" einen "Thinktank für die nächste Literatur". Die eingeladenen Expertinnen und Experten kümmern sich hier nicht um das, was es im Literaturbetrieb schon gibt. Sie rechnen die neuesten Entwicklungen des Internet hoch, um Auskunft von den Bedingungen und Möglichkeiten der Literatur der nächsten Jahre und Jahrzehnte zu geben. Dabei sollen sie nicht die Zukunft richtig voraussagen. Sie sollen spinnen. Sie sollen verrückte, absurde und auch plausible Ideen präsentieren, damit wir alle weiterspinnen können und selbst auf neue Ideen kommen. (Unter anderem unterhält sich am Sonnabend auch Perlentaucher Thierry Chervel mit dem Pionier Bob Stein.) Warum so etwas gebraucht wird und warum dieses Verfahren bereits Teil der Literatur ist, erklärt hier Stephan Porombka, einer der Organisatoren von LitFlow und Mitherausgeber des gleichnamigen Online-Magazins. Zugleich ist er als Professor der Studiengänge für "Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus" und "Literarisches Schreiben" an der Universität Hildesheim für die Ausbildung der nächsten Literatur zuständig.

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Dieses Jahr wird es in Frankfurt eine besondere Buchmesse geben. Nicht wegen der Anwesenden. Viel interessanter ist, was noch nicht da ist. Der Markt für literarische Produkte befindet sich in einem epochalen Umbruch. Und kaum jemand weiß, ob man im nächsten Jahr noch das machen wird, was man jetzt macht. Echte Sicherheit gibt es in der Buchbranche zwar ohnehin nicht. Aber so unsicher wie jetzt war es wohl noch nie.

Disruptive Innovationen

Tatsächlich haben die Neuerungen, die sich durch die Weiterentwicklung des Internet ergeben, für den gesamten Literaturbetrieb etwas zutiefst Verstörendes. Ökonomen nennen so etwas "disruptive Innovationen". Die zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht langsam und einigermaßen berechenbar etablieren. Disruptiv sind sie, weil sie plötzlich auftauchen und in kurzer Zeit das gesamte Marktgefüge so sehr verschieben, dass alles Etablierte in Frage gestellt wird.

Das Problem für alle, die sich im Bestehenden selbstzufrieden eingerichtet haben: Sie können nicht richtig erkennen, was passiert. Das mühsam gesammelte Erfahrungswissen verliert rapide an Wert. Die bewährten Instrumente der Marktforschung versagen, weil es den neuen Markt noch gar nicht richtig gibt. Zuerst ist er noch klein und unbedeutend. Die Produkte, die auf ihm gehandelt werden, fallen in der Qualität gegenüber den üblichen Standards ab. Außerdem versprechen sie wenig Gewinn. Weil das so ist, macht man als Etablierter weiter wie bisher. Und wartet ab.

Das geht so lange, bis es zu spät ist. Die Branche für Fotokameras hat das erlebt. Die großen Kultmarken sind fast vom Markt verschwunden. Sie haben den rechtzeitigen Wechsel zur Digitalisierung verpasst. Etabliert haben sich stattdessen Firmen, die abenteuerlich genug gestimmt waren, in die Weiterentwicklung einer Kameratechnologie zu investieren, auf die Experten lange Zeit nur verächtlich herabschauen wollten.

Dass die Musikbranche von der Einführung der mp3-Formate und den Online-Tauschbörsen fast vollständig zerlegt wurde, ist hinlänglich bekannt. Die Zeit der großen Labels ist vorbei. Die Zeit der großen Studios auch. Wie Musik zukünftig gemacht wird, wie Popstars generiert werden und wie sie ihr Geld verdienen, ist offen. Die Karten werden auf allen Ebenen neu gemischt. Und sie werden immer weiter gemischt. Denn während die Interessengruppen aufwändig und langwierig über das Copyright debattieren, werden schon wieder die nächsten Kopier- und Verteilmethoden für das Netz in Umlauf gebracht.

Dem Journalismus geht es nicht anders. Seit einigen Jahren kämpfen die Zeitungen und Magazine darum, mit den neuen Entwicklungen Schritt zu halten und neue Geschäftsmodelle zu erfinden. Noch vor einem Jahr konnte man Herausgeber, Redakteure und Journalisten auf Partys und Empfängen in völliger Ratlosigkeit antreffen.

Mittlerweile bessert sich die Stimmung. Vor allem dort, wo man sich offener aufs Netz einlässt. Viele begreifen, dass sich das Geschäft langsam aber sicher verkehrt hat. Eigentlich publiziert man digital. Daneben macht man auch noch Print-Ausgaben. Zwar gibt es immer noch Versuche der Verleger-Lobby, einen Zusammenhang zwischen Qualitätsjournalismus, Demokratie und gedruckter Zeitung herzustellen. Doch faktisch wird jenseits davon längst viel ausprobiert und vor allem viel diskutiert.

Der Fall des Hauses Brockhaus

Auch die Buchbranche hat ihre dramatischen Erfahrungen mit disruptiven Innovationen gemacht. 2006 ist die letzte Auflage der dreißig Bände umfassenden Brockhaus-Enzyklopädie erschienen. Als der Verlag in die Planung für die nächste Ausgabe gehen wollte, begann der Markt zu bröckeln. Dann löste er sich mit Hochgeschwindigkeit auf. Denn Wikipedia war da. Und Wikipedia verwandelte sich trotz aller Widerstände, Schmähungen und Wutattacken aus dem Kreis der etablierten Verleger, Pädagogen, Kulturkritiker, Handbuchherausgeber und professionellen Artikelschreiber innerhalb kürzester Zeit in die Enzyklopädie überhaupt, die keinem anderen Universallexikon überhaupt noch Luft zum Atmen ließ.

"Die Zeit, in der man sich eine hervorragende Enzyklopädie von anderthalb Meter Umfang ins Regal stellt, um sich dort herauszusuchen, was man wissen will, scheint vorbei zu sein", ließ der Verlag 2008 mitteilen. Die letzte Auflage kann man bei Komplettabnahme für 2.901 Euro mitsamt DVD und Onlinezugang kaufen. Doch liegt sie, wie man es mit der alten Redensart wohl treffender kaum sagen kann, im Lager wie Blei.

Nur auf den ersten Blick erzählt diese Geschichte etwas vom Untergang eines Imperiums. Eigentlich ist es eine Erfolgsgeschichte der Enzyklopädie. Denn die lebt. Sie ist lebendiger als je zuvor. Nur wird sie jetzt ganz anders hergestellt. Sie wird anders geschrieben. Sie wird anders aktualisiert. Und ihre Artikel werden anders weiterverwertet. Schneller nämlich, oft unbedenklicher, manchmal abstruser. Aber auch schlauer, gewitzter und produktiver. Damit hat sich kurzerhand die enzyklopädische Idee in der gesamten Kette von der Produktion über die Distribution bis zur Rezeption verwandelt. Verleger, Herausgeber, Autoren, Lektoren, Korrektoren, Leser, Kommentatoren - ihre Rollen sind komplett neu definiert. Keiner macht das, was man auf diesen Positionen noch in der alten Buchkultur gemacht hat.

Der Siegeszug der eBooks

Ökonomen raten etablierten Unternehmen, im Falle disruptiver Innovationen früh genug auf solche Verschiebungen zu achten. Im Literaturbetrieb werden solche Ratschläge allerdings immer noch gern überhört. So hat man zuerst gehofft, dass die Einführung der eBooks noch lange auf sich warten lässt. Kaum waren die Lesegeräte auf dem Markt, hieß es von Seiten der deutschen Verlage: Die Downloadraten sind so unglaublich gering, dass niemand nervös werden muss. Als sie nach oben schossen, blieb man stumm. Als sie dann zwischendurch wieder leicht nach unten gingen, frohlockten die Branchenblätter, der Hype ums eBook sei wieder vorüber.

Mittlerweile erobern die elektronischen Bücher die Bestsellerlisten. Die New York Times hat im August gleich zehn Romane auf den vorderen Rängen gemeldet. Sie wurden über unabhängige kleine Projekte oder gleich von den Autoren selbst veröffentlicht. Die haben den Text selbst formatiert, ihn von Bekannten lektorieren lassen, das Cover mit Photoshop gebastelt, die Marketingstrategie selbst entwickelt und dann das Buch in den Online-Buchläden hochgeladen.

Man tut gut daran, Erfolge dieser Art nicht verächtlich als schlechte Trivialliteratur abzutun, sondern als Vorboten von etwas viel Größerem zu verstehen. Einen Eindruck davon haben die Emissäre des Online-Buchhändlers Amazon gegeben, als sie sich vor einigen Wochen in Berlin mit den großen Literaturagenturen trafen, um ein eigenes Verlagsprogramm vorzustellen. Darin soll es auch gedruckte Bücher geben, vor allem aber sollen eBooks annonciert werden. Amazon garantiert, sich um die Texte, die bei ihnen erscheinen, ganz besonders zu kümmern. Und das können sie. Immerhin gehört ihnen der Buchladen, der in Deutschland Branchenriesen wie Thalia oder Weltbild in die Knie zwingt.

Nachdem die Buchhandelsketten in den letzten Jahren mit Erfolg versucht haben, die kleinen Buchläden aus den Innenstädten heraus zu pressen, müssen sie selbst ihre Riesengeschäfte schließen oder verstärkt vom Buch auf Non-Book und medialen Krimskrams umschalten. Nun haben, so hofft man, die kleinen Buchhandlungen eine neue Chance. Nur wissen die jungen Buchhändler, die einen Laden eröffnen: Diese Chancen lassen sich nicht mit jenen verwechseln, die es mal gab, bevor Amazon auf den Plan trat. Jetzt muss man von Beginn an überlegen, welche Verbindungen zwischen den realen und den virtuellen Lese-, Schreib-, Kommunikations- und Verkaufsräumen gelegt und wie sie gepflegt werden müssen.

Wenn Amazon das Verlagsgeschäft aufmischt, wird es dort zu ähnlichen Verschiebungen kommen. Die großen Verlage werden sich dann mit dem Giganten messen müssen. Die kleinen können versuchen, neue Nischen mit neuen Produkten zu finden. Wenn Amazon die nicht auch trockenlegt! Denn eröffnet wird vom Branchenriesen flankierend eine Self-Publishing-Plattform, über die jeder Autor mit seinen Texten direkt in den größten aller Buchläden gelangen kann, um von dort aus die Leser zu erreichen. Auch hier setzt Amazon darauf, dass alle, die jenseits der Verlage publizieren, zumindest dort präsent sein wollen, wo die Leute hinklicken, wenn sie Bücher im Netz suchen. Google spuckt bei Anfragen nach Autoren und Titeln ohnehin zuerst die Links aus, die in die großen Buchhandlungen führen.

"Wir sind die Urheber" - ja und?!

Diese Entwicklung hat einige Beobachter auf eine scheinbar absurde Idee gebracht. Wenn man verhindern will, dass Amazon den Buchmarkt dominiert, sollen die Verlage ihre eBooks ohne Kopierschutz verkaufen. Nur so könne man dem Giganten die Stirn bieten, der die Texte auf seinem Lesegerät fest verschlossen hält. Denn erstens sei nicht mit dramatischen Einbrüchen bei den Verkaufszahlen zu rechnen. Und selbst wenn es so sei, müsse man sich eben überlegen, welche neue Formen des Marketings, des Verkaufs und der Leserbindung sich entwickeln ließen. Wer in dieser Zeit einen Verlag macht, kann sich eben nicht nur auf das Beschwören der Tradition verlassen.

Im Literaturbetrieb der Gegenwart mangelt es aber an Phantasie für neue Publikations- und Vertriebsformen. Nachdem im Mai dieses Jahres über hundert Autoren den Aufruf "Wir sind die Urheber" unterschrieben und damit für ein starkes Urheberrecht protestiert haben, wurde deutlich: Die Nerven liegen so blank, dass keiner mehr auf einem angemessenen Niveau nachdenken will. Tatsächlich hatten die Autoren mit ihrer Unterschrift offiziell gemacht, dass sie nicht nur keine Ahnung von der Internetkultur haben, sondern auch gar nicht so genau wissen, in wie weit sie persönlich oder ihre Kollegen aktuell durch Raubkopien im Netz geschädigt werden.

Befragt man Autoren nach den konkreten Geschäftsmodellen, über die sie sich selbst und ihre Kollegen finanzieren, so kommt heraus: Der Lebensunterhalt wird in der Regel nur zum kleinen Teil durch den Buchverkauf finanziert. Das Honorar, das man für die Arbeit an einem Buch bekommt, lässt sich meist nicht einmal auf den monatlichen Hartz IV-Satz umrechnen. Die Autoren finanzieren sich über Stipendien und Preise. Dazu kommen journalistische und essayistische Aktivitäten, Lesungen und Auftritte aller Art, schließlich die Arbeitsaufträge, die mit dem schriftstellerischen Kerngeschäft nur wenig zu tun haben.

Auf jeden Fall gilt: Die Raubkopieindustrie richtet in diesem Finanzierungsmix keinen echten Schaden an. Sie tut es ja ohnehin nicht, wenn wirklich stimmt, was die Verleger so standfest behaupten: dass die Verkaufszahlen von eBooks gar nicht der Rede wert sind.

So hat der Urheber-Aufruf letztlich nur eins erreicht. Er hat mit viel heißer Luft von den tatsächlichen Gegebenheiten im Literaturbetrieb abgelenkt. Um dagegen den Realitätssinn zu stärken, hat Martin Kretschmer, Leiter des britischen Centre for Intellectual Property Policy and Management, in einer eigenen Studie darauf hingewiesen, dass man es auch im Bereich der Literatur mit einem Markt zu tun hat, auf dem die Gewichte ungleich verteilt sind. "Zehn Prozent aller Schriftsteller bekommen vierzig Prozent des gesamten Honorars", stellt er fest. Kretschmer sagt deshalb auch: "Die empirischen Daten belegen, dass das Urheberrecht dabei versagt, die finanzielle Unabhängigkeit von Kreativen zu sichern."

Solche Befunde stützen den Verdacht, dass es bei der "Wir sind die Urheber"-Kampagne gar nicht um Geld ging. Es war nur der Versuch, jene Zentralwährung der alten Literatur in Umlauf zu bringen, die nur noch im Betrieb selbst etwas zählt. Beliehen wird dabei allein symbolisches Kapital. Das Buch gilt als der wichtigste Festwert. Der traditionelle Verlag gilt als Bürge, der für die Qualität des Textes einsteht.

Jenseits davon aber etabliert sich eine Ökonomie, die auf solche Institutionen wenig Wert legt und sich auch für die alte Währung nicht mehr so recht interessiert. Aufmerksamkeit und Anerkennung werden im Netz nach anderen Gesetzen verteilt. Was immer auch nach Massenmedium aussieht, wird übersehen. Wo immer ein Autor als Großschriftsteller auftreten will, um zu sagen, wie Literatur zu entstehen oder zu funktionieren hat, hört man weg. Oder die Crowd macht sich darüber lustig. Die Explosion der Blog-Kultur hat das genauso vorgeführt wie die eigenartige Sogkraft der Masse von Kundenrezensionen, die ins Netz gestellt werden. Den Rest erledigen derzeit die Social Media-Plattformen, auf denen neu formatiert wird, was einmal literarische Öffentlichkeit hieß.

Literary Socializing

In diesen Netzwerken bewegen sich Autoren mit neuem Selbstverständnis und Verlagsprojekte mit neuer Struktur. Sie haben ihre Seiten bei Facebook, ihre Accounts bei Twitter und ihre Blog-Seiten bei Wordpress oder anderen Anbietern geschaltet. Selbst Literaturkritiker, die sonst gegen Zeilenhonorar schreiben, sind hin und wieder mit von der Partie. Sie schalten auf eine Kultur des Mitteilens und Teilens um. Denn in den neuen Kanälen profitiert man nicht, wenn man die Sachen zurückhält. Man profitiert nur, wenn man gibt, was man hat und weitergibt, was man von anderen bekommt.

Die Idee, dass man die Sachen weitergeben muss, statt nur die eigene Eitelkeit zu füttern, setzt für die Literatur etwas frei, das lange Zeit verschüttet war. Das Lesen hat sich in der westlichen Kultur als meditative, konzentrierende Technik durchgesetzt. Durch sie schließt man sich von der Außenwelt ab. Die moderne Bildungsidee beruht wesentlich darauf, dass jeder für sich aufnimmt, was in den Büchern steht, und alles in sich ablagert und speichert, um ein vollwertiges Individuum zu werden. Buchleser saugen sich voll. Sie geben nicht ab.

Das ändert sich im Netz. Hier werden immer mehr Experimente mit neuen Formen des Social Reading unternommen. Auf den Seiten von Literatur-Communities beleben Gleichgesinnte die Gesprächskreiskultur. Zeitungen etablieren Reading Rooms, in denen sich Experten und Laien im Blogformat oder im direkten Schlagabtausch über Neuerscheinungen austauschen. Verlage engagieren Kritiker, die gemeinsam ganze Romane durcharbeiten und Stück für Stück ihre Leseerfahrungen dokumentieren und die der anderen kommentieren. Die Studierenden aus literatur- und kulturwissenschaftlichen Seminaren werden von Dozenten dazu angeleitet, ihre Lektüren samt ihrer Reflexionen von Sitzung zu Sitzung zu veröffentlichen und damit für andere sichtbar zu machen. Was bislang jeder für sich machen musste, wird plötzlich als hochdynamische, kreative Praxis sichtbar, die vor allem davon lebt, dass andere mitmachen.

Smarte Literatur

Das alles vollzieht sich nicht mehr in Medien, die voneinander getrennt sind. Die Bücher standen für sich. Die neuen Geräte sind verschaltet. Und zwar so, dass sie ein Netzwerk ergeben, in das man sich als Leser und Schreiber mittlerweile nicht einmal mehr einloggen muss. Man ist immer schon drin.

Die Labtops, Tablets und Smartphones werden jederzeit geortet und selbstständig angeschlossen. Zunehmend tragen sie selbst immer weniger Daten. Die sind ausgelagert in die Clouds, wo sie von überall abgerufen und allein oder gemeinsam bearbeitet werden können. Die Geräte sind nur noch Durchgangsstationen für den Stream. Die Bibliothek, die man besitzt, steht nicht mehr zuhause. Alle Texte liest man, wo man gerade ist. Und wenn man bei der Lektüre auf seinem Smartphone Zeilen markiert und Anmerkungen schreibt, wird auch das in der Datenwolke gespeichert, damit man es später auf seinem PC wieder sichtbar machen kann.

Wenn in einem nächsten Schritt auch noch die Geräte verschwinden und die Bildschirme und Tastaturen über Projektionen mit Licht zu bedienen sind oder den Usern direkt auf den Leib rücken, dann werden die Nutzer tatsächlich von den Wolken umgeben sein, aus denen jede ihrer Bewegungen und Aktivitäten heraus beobachtet, gespeichert und mit bereits vorhandenen Daten aggregiert.

Wer sich ins Netz einloggt, weiß heute längst, dass sich Programme an seine Fersen heften. Genauso sollte wissen, wer in eBooks schmökert, dass sich die Beziehung zum Buch neu formiert. Denn jetzt ist es immer auch der Leser, der von seinem Gerät so gelesen und interpretiert wird, dass ihm Vorschläge für nächste Aktivitäten gemacht werden. Darauf zugeschnitten sind neue Formen des transmedialen Erzählens, an denen längst nicht mehr nur ein Autor, sondern ganze Teams mit beteiligt sind. Sie bauen Geschichten, die in den Netzwerken der wirklichen Welt spielen, in der die Leser sich bewegen. Wie in einem Spiel müssen sie Spuren suchen und zu einer Story verknüpfen, die sie dazu bringt, die eigene Umgebung neu zu entdecken.

Nicht nur wird damit die Wirklichkeit literarisiert. Auch verbindet sich das Lesen und Schreiben mit allen anderen Bewegungen des Alltags. Weil die Geräte ihre Nutzer von früh bis spät begleiten, wird das Abrufen und Bearbeiten von Texten, das Twittern, Posten, Chatten und Mailen zu einer kommunikativen Dauertätigkeit. Literatur ist nicht mehr das andere. Man ist mittendrin.

Das alles lässt sich aber aber nur dann angemessen verstehen, wenn man es nicht mit dem verwechselt, was in der Buchkultur gang und gäbe war. Wer es trotzdem tut, läuft in eine Falle. Dann wirkt das Angeschlossensein an die Geräte und das dauernde Lesen und Schreiben so, als würde man bloß prokrastinieren, und das heißt: Sinnloses tun und dabei langsam aber sicher sein Gehirn in die Demenz treiben.

Wer sich einreden lässt, dass man die neuen Kompetenzen ausgerechnet an denen messen muss, die für das Lesen von Büchern notwendig sind, hat schon verloren. Dann lassen sich die produktiven und kreativen Aspekte des dauernden Umwälzens, Anreicherns und Weitergebens von Material gar nicht erst erkennen. Als Nutzer ist man dann auf lange Zeit verdammt, alle Aktivitäten im Netz mit einem schlechten Gewissen zu begleiten.

Stattdessen sollte man genau hinschauen, um zu verstehen, welche Möglichkeiten es mit sich bringt, wenn die Texte unter den veränderten Bedingungen ihren Aggregatzustand ändern. Denn wichtig ist, dass man sie dauernd weiter übertragen kann. Und wichtig ist, dass sie sich weiter bearbeiten lassen. Was nicht mit fließt, kommt nicht vor.

Damit ändert die Literatur dann auch ihre Bedeutung. Sie ist keine heilige Substanz mehr, über deren Besitz man sich definiert. Sie verliert ihre Unberührbarkeit. War früher die Frage der verehrenden Leser, was uns der Autor sagen will oder sein Werk uns sagen kann, so lautet nunmehr die Frage der User: Was kann ich damit machen? Texte werden zum Treibstoff, mit dem sich die Produktivität, die Kreativität und die Kommunikation in Bewegung halten lässt.

Der Text erscheint deshalb nicht mehr, wie früher noch, als Werk. Er hat schon im Zuge seiner Modernisierung den Charakter eines offenen Projekts angenommen. Nun wird der Text zum Flow. Er setzt etwas in Bewegung, das weder er selbst noch sein Autor kontrollieren kann. Erfolgreiche Texte funktionieren dementsprechend wie virale Kampagnen. Sie pflanzen sich innerhalb der Netzwerke fort, indem sie geteilt und weiterverteilt, kommentiert und variiert werden.

Die Orientierungsfigur des Nächsten

Damit gehören die Texte gleich doppelt und dreifach zur nächsten Literatur. Nicht nur weil sie in jenen Medien produziert und weiterproduziert werden, die den Literaturbetrieb neu strukturieren. Zur nächsten Literatur gehören sie auch, weil ihnen der Zug zum Nächsten einprogrammiert ist. Sie wollen und sie können eben nicht das bleiben, was sie sind.

In Gesellschaften, die sich vornehmlich über ihre eigene Tradition beobachten, haben Texte die Funktion, in stillgestellter Weise zu verkörpern, worauf man bauen und zählen kann. In Gesellschaften, die sich stärker über ihre Gegenwart beobachten, wird Texten die Funktion zugeschrieben, einen anderen ästhetischen Zustand herzustellen, in dem das unmittelbare Jetzt festgehalten und zum Schweben gebracht wird.

In Gesellschaften aber, in denen die Innovationsgeschwindigkeit zunimmt und in denen deshalb immer dringender danach gefragt wird, was als nächstes passiert, ändert sich noch einmal ihre Funktion: Texte müssen jetzt das Angebot verkörpern, dass man mit ihnen etwas tun kann. Man muss mit ihnen arbeiten können. Man muss sie verändern können. Und man muss sie weitersenden können, um sie anderen zur Verfügung zu stellen.

Dieses Umschalten von Vergangenheit und Gegenwart auf Zukunft hat etwas Paradigmatisches. Der Soziologe Dirk Baecker vermutet, dass wir es durch die Vernetzung der Computer mit einer neu formatierten Gesellschaft zu tun bekommen. Die wird, weil sie sich nicht mehr über Vergangenes rückversichern muss und sich nicht mehr allzu lang in der Gegenwart aufhalten kann, "auf die Orientierungsfigur des Nächsten geeicht" sein.

Wenn sich diese nächste Gesellschaft durchsetzt, werden sich all ihre Strukturen darauf ausrichten, "einen jeweils nächsten Schritt zu finden und von dort aus einen flüchtigen Blick zu wagen auf die Verhältnisse, die man dort vorfindet". Sie wird "eine Temporalordnung sein, die durch die Ereignishaftigkeit aller Prozesse gekennzeichnet ist und die jedes einzelne Ereignis als einen nächsten Schritt in einem prinzipiell unsicheren Gelände definiert." Dementsprechend brauchen alle, sagt Baecker, die sich in der Gegenwart in Richtung aufs Nächste hin bewegen, zweierlei: Komplexitätsorientierung und Unsicherheitskompetenz.

Schaut man sich die Schreib-, Lese- und Publikationsprojekte an, wie sie im Netz und rund um das Netz herum entstehen, dann erfüllen sie genau das. Ihre Projekte greifen nicht auf etwas Etabliertes zurück. Sie kennen keine festgelegten Rollenmodelle und Aufgabenkataloge. Sie verfügen über keine festen Qualitätskriterien. Sie haben auch keine festen Zukunftsperspektiven. Es sind durchweg Versuche, die einen nächsten Schritt in einem unsicheren Gelände setzen.

Wer einen Blick ins Netz wirft und sich an die Nachrichtenströme bei Facebook oder Twitter anschließt, bekommt einen Eindruck von der großen Lebendigkeit, der großen Dynamik, vor allem der großen Produktivität und Kreativität, die sich derzeit rund um die Literatur und ihre Institutionen entfaltet. So viele neue Ideen, engagierte Diskussionen, interessante Versuche und so viel Bereitschaft, grundsätzlich über die Literatur nachzudenken und ihre Möglichkeiten zu erweitern - das hat der Literaturbetrieb seit Ewigkeiten nicht erlebt.

Wir treten ein in die Boom-Zeit der Literatur. Und wer jetzt die Augen zumacht und behauptet, das alles sei flach, sei nur uninteressanter Kram und technische Spielerei jenseits des eigentlichen literarischen Schreibens, das letztlich Romanform annehmen und in Büchern gedruckt werden müsse, der ist taub und tumb. Schlimmer noch: Wer sich jetzt abwendet und versucht, einfach die Skripte des alten Literaturbetriebs nachzuspielen, der interessiert sich auf sentimentale Weise für Bücher und Buchkitsch, nicht aber für Literatur und literarische Kreativität.

Das Nächste, bitte!

Von diesen Projekten, deren Entwicklung man derzeit so nah verfolgen kann, wird in zehn Jahren wohl kaum eins noch auf dem Markt sein. Wenn es eins schafft, dann wohl nur unter einer Bedingung: Es muss sich selbst so weit transformieren, dass es kaum noch wieder zu erkennen ist.

Das liegt daran, dass die Projekte selbst als temporäre angelegt sind. Nicht nur sind ihre Macher immer schon auf dem Sprung, etwas Nächstes auszuprobieren. Auch bleiben weder die Geräte noch die Programme, mit denen sie arbeiten, stabil. Wer immer sich auf diesem neuen Markt bewegt und sich in der neuen literarischen Öffentlichkeit etablieren will, wird lernen müssen, mit neuen Halbwertszeiten umzugehen.

Dass die neuen Projekte mit den neuen Unternehmern genauso schnell wieder verschwinden werden, wie sie gekommen sind, heißt aber nicht, dass die alten überleben. Wenn sich die nächste Literatur als obsolet erweist, wird es keine Rückkehr zur letzten oder vorletzten geben. Es wird der Übergang zur Übernächsten sein. Die Logik der Temporalordnung wird durch Ablösungen und Auflösungen aller Art nicht ausgehebelt. Sie wird bestätigt.

Die etablierten Player sollten deshalb nicht frohlocken. Ökonomen, die sich mit disruptiven Innovationen beschäftigen, würden viel eher vorschlagen, dass sie die Entwicklungen der kleinen neuen Projekte mit Interesse beobachten, begleiten, unterstützen und sie nicht zuletzt selbst initiieren. Man sollte die interessantesten und verwegensten Köpfe zusammenrufen, um sich mit neuen Ideen versorgen zu lassen, die auf kein Denkverbot Rücksicht nehmen. Man sollte Thinktanks für die nächste Literatur einrichten. Man sollte Laborräume schaffen, in denen interessante Spinner an neuen Formaten arbeiten. Man sollte generell von Business as Usual auf Experiment umstellen.

Lernen lässt sich dabei der produktive Umgang mit den neuen Geschwindigkeiten. Vielleicht auch der gelassene Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit. Lernen kann man nicht zuletzt etwas von der Abenteuerlichkeit, mit der sich die Akteure der nächsten Literatur auf das völlig Ungewisse das Experimentieren einlassen.

Wenn man nur anerkennt, dass sich der gesamte Betrieb derzeit in einem epochalen Umbruch befindet, dann kann man auch sehen, dass er gerade jetzt so viele Möglichkeiten zur Neuorientierung bietet wie seit zweihundert Jahren nicht mehr. So wie die Literatur um 1800 neu formiert und formatiert worden ist, so wie sie vor zweihundert Jahren neue Autoren, neue Schreibweisen, neue Verleger, neue Publikationswege, neue Leser und neue Lektüren hervorgebracht und über das romantisierte Buch der gesamten Kultur ein neues Paradigma der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung aufgeprägt hat, so wird es jetzt wieder den Literaturbetrieb treffen und ihn einmal mehr umkrempeln.

Wie das genau aussehen wird, ist nur in Umrissen auszumachen. Wir können es nur ahnen. Wir können uns mögliche Geschichten von der nächsten Zukunft erzählen. Wir können Szenarien entwerfen, um zu verstehen, was da auf uns zukommt. Wir können mitmischen, indem wir uns selbst am Nächsten orientieren.

Damit lässt sich dann nicht nur ausprobieren, was auf uns zukommt. Und es lässt sich das Nächste überhaupt erst mit hervorbringen. Tut man das, so erfüllt man gleich zwei Aufgaben der nächsten Literatur.

Stephan Porombka