Essay

Als mir die Energie zum Schlafen fehlte

Von Ralf Bönt
07.05.2013. Die Fernsehmoderatorin Vanessa Blumhagen feiert große Erfolge mit ihrem Buch über die Hashimoto-Krankheit - aber sie liegt wahrscheinlich falsch. Trotzdem offenbart ihre Geschichte viel über das erodierende Arzt-Patient-Verhältnis und über die Segnungen des Netzes. Reflexion am eigenen Beispiel
Deutschland exportiert seine alten Menschen nach Thailand, die USA überlassen ihre Kriegsveteranen dem Massenselbstmord, in Russland ist es für den Mann heute normal, 14 Jahre vor seiner Frau zu sterben, meistens am Alkohol: An der Art, wie sie mit den Kranken umgehen, sind eine Gesellschaft und ihre Kultur gut zu erkennen. Liest man sich durch die Forschungen von Lothar Weißbach, Professor für Urologie, so erfährt man, dass die Krebsvorsorge bei uns zur Zeit mehr Menschenleben kostet, als sie rettet. Überdiagnostiziert und übertherapiert, zu häufig und zu schnell operiert, sieht man den einzelnen hier als Rohstoff eines Systems, das sich selbst nährt. So ist das, mag man sagen, in einer Ideologie. Aber um welche Ideologie handelt es sich?

Wir sind es im Medizinbetrieb gewohnt, über Geld zu streiten: Ist Gesundheit eine soziale Angelegenheit oder eine private? Ist der heroische, nämlich selbstzerstörerische Antikapitalismus eines Molière, der lieber starb als sich von geldgierigen Ärzten behandeln zu lassen, hysterisch oder das andere Extrem, das Ronald Reagan in seiner berühmten Rede gegen die Krankenversicherung vertrat, indem er sie als trojanisches Pferd der Sozialisten bezeichnete? Sie wollten, so der Präsident, über die Achillesverse Gesundheit die Freiheit einschränken und Schritt für Schritt die Macht über den Einzelnen erlangen, getarnt als Verantwortung. Am Ende stehe ein totalitäres System.

Wer hat als Patient noch nicht in die leeren Augen eines Arztes gesehen, hinter denen vom einst erworbenen Fachwissen und dem Wunsch zu helfen nur noch eine Registrierkasse und der Fünfjahresplan der Kasse übrig geblieben ist? Das Problem entscheidet sich aber nicht zwischen Privat- und Kassenpatient. Wenn man heute mit einem Chirurgen freundlich beim Bier zusammen sitzt, und mal fragt, so ganz im Ernst, wie viele Operationen unnötig seien, dann lautet die Antwort zum Beispiel fünfzig Prozent, und fragt man, wie das aufgeschlüsselt nach gesetzlicher und privater Krankenkasse aussähe, dann kann man etwa erfahren, dass der Privatpatient gefährdeter ist, weil man an ihm mehr verdient. Lothar Weißbach empfiehlt eine höhere Selbstbeteiligung und erhofft sich davon eine größere Befassung des Patienten mit jedem bevorstehenden Eingriff.

Das erscheint als möglicher Weg, denn das eigene Geld strukturiert das beim voll Versicherten einseitige Machtverhältnis zwischen Arzt und Patient neu. Momentan sitzt der Kranke quasi rechtlos vor dem ohnehin schon überlegenen Doktor, von dessen Fachwissen und Zeitmanagement er abhängig ist. Die Selbstbeteiligung ist ein Fuß, den der Patient in die Tür des thronenden Arztes zu bekommen hat. Der zweite, entscheidende Faktor ist die Einsicht, dass das sehr viel höhere in jede Konsultation eingezahlte Gut sowieso die Gesundheit selbst ist. Man kann sie nicht beim Arzt abgeben und nach zwei Stunden repariert wieder abholen. Vielmehr muss man die Verantwortung für sie am Ende sowieso immer selbst tragen. Der Arzt ist nicht mehr als ein Partner.

Hier tut sich allerdings sehr viel, und das Werkzeug ist das Internet als größte denkbare, von keinem geduldigem Papier gebremste Informationsquelle. Ärzte stöhnen und fluchen, wenn Patienten mit eigenem Verdacht ankommen. Gewohnt über Schicksale zu bestimmen fragen sie abfällig: Haben Sie das im Netz gelesen? Oft ist es zum Glück so. Dass der Patient sich selbst informiert, mit anderen Patienten kommuniziert und das gegebenenfalls anonym, ist ein kaum zu überschätzender Gewinn. Ärzte müssen dringend lernen, konstruktiv damit umzugehen, denn die laienhaft vom Patienten aufgesammelten Informationen benötigen einen wissenschaftlichen, ärztlichen Abgleich.

Das kann man zur Zeit bei der Fernsehmoderatorin Vanessa Blumhagen beobachten, die mit ihrem Buch über ihre Schilddrüsenerkrankung am Markt ist. Sie schildert darin eine dreijährige Odyssee durch Arztpraxen und Behandlungszimmer von Heilpraktikern. Hier und da flog sie auch raus, oder man legte ihr einen Psychiater nahe. Am Ende stellte sie die Diagnose selbst: Hashimoto, eine Entzündung der Schilddrüse, hervorgerufen durch eine Autoimmunreaktion. Heute geht es ihr besser, allerdings noch immer nicht gut. Offenbar nimmt sie hohe Dosen Thyroxin oder Thybon ohne Nebenwirkungen zu haben oder auf die Warnungen der Mediziner zu hören, sie bringe sich mit den hoch dosierten Schilddrüsenhormonen um.

Das ist eine mir sehr vertraute Situation, und wenn ich von meiner eigenen Krankengeschichte die Eckdaten mitteile, so tue ich das mit derselben Begründung, mit der David Wagner das Erzählen seiner Lebertransplantation begründet: Weil Erfahrung und Wissen auch Verantwortung erzeugt. Für den Genesenen oder den noch Kranken ist der Verzicht auf Intimität dabei keine einfache Sache. Dies ist auch der Grund, warum ich die im Internet auftauchende Häme für Frau Blumhagen zurückweisen möchte: Man kann darüber debattieren, ob eine Fernsehmoderatorin dick sein darf, aber nicht darüber, dass Vanessa Blumhagen Existenzängste hatte, als sie zunahm. Sie werden zum beunruhigenden Kontrollverlust über das eigene Leben erheblich beigetragen haben, und es ist gut, dass sie sich den Ärzten widersetzte und selber suchte, bis sie etwas fand. Dennoch ist Lance Armstrongs Dopingprogramm relativ harmlos gegen die Bereitschaft, mit überdosiertem Thybon abzunehmen.

Dazu ist, was Blumhagen beschreibt, keine Schilddrüsenentzündung nach Hashimoto, jedenfalls nicht nur. Es ist mehr als begreiflich, dass Ärzte gegen die Kampagne von Frau Blumhagen protestieren, die mit ihrer Website Hashimoto Deutschland auf eine unerkannte Volkskrankheit hinweisen möchte und dabei dieser Krankheit falsche Symptome zuordnet, wie etwa Allergien. Ihr ist passiert, was Menschen häufig passiert, wenn sie ein Erleuchtungserlebnis und eine Erlösung erfahren haben: Das Sendungsbewusstsein geht mit ihnen durch.

Tatsächlich ist Hashimoto eher eine Modekrankheit, die Ärzte bei Problemen mit der Schilddrüse sehr schnell hervorziehen. Hashimoto ist leicht diagnostizierbar und nach einer Anfangsphase äußerst leicht zu behandeln, das bestätigen Tausende von Ärzten und Zehntausende von Patienten. Man darf ihnen glauben. Eigenartigerweise gleicht meine Krankengeschichte der von Frau Blumhagen in sehr vielen Details, mir jedoch diagnostizierte man Hashimoto und es war eine Fehldiagnose. So erlebte auch ich unter anderem den Verlust der Handschrift, was gewiss nicht auf die Schilddrüse zu schieben, sondern ein neurologisches Problem ist. Auch ich hatte mit Grützebeuteln der Kopfhaut zu tun, es gibt da keinen Zusammenhang mit der Schilddrüse, aber einen Hinweis auf Schadstoffkonzentrationen.

Nun zu einigen der eigentlichen Symptome: Watte im Kopf, Kraftlosigkeit, Schwindel und Übelkeit, die Unmöglichkeit, das Thyroxin vernünftig zu dosieren. In den Jahren vier bis zehn kam bei mir noch einiges Unappetitliche hinzu. Am Ende stand eine eklatante Überdosierung, beinahe 500 Mikrogramm am Tag, was für eine halbe Fußballmannschaft ebenso lässig gereicht hätte wie für meinen Tod: Eine Überdosierung kann den Ruhepuls gefährlich hochtreiben. Aber ich hatte keine Nebenwirkungen. Und keine Chance, mit weniger auszukommen. Nicht mal einen Tag. Sofort litt ich unter dramatischem Energiemangel, das Immunsystem brach zusammen, ich wurde krank, hatte Entzündungen, schlief nicht mehr. (Wusste jedoch noch nicht, dass Schlaf ausreichend Energie voraussetzt.)

Auch ich wurde aus Praxen geworfen und auch mir half am Ende - nach zehn Jahren und dem Verlust von Familie und Arbeit, beinahe auch der Wohnung - das Internet. Nach einem Anfangsverdacht konnte ich Quecksilber als ersten und größten Störenfried ausmachen. Nach der Injektion einer Säure, die Metalle ausleiten kann, konnte ich die Dosis Thyroxin um 20 Prozent senken, ich musste dies auch, denn mein Ruhepuls hatte sich zeitweise verdoppelt. Dann wurde es brenzlig mit einem noch höheren Ruhepuls. Ich setzte das Thyroxin ab und überstand zwei Tage, auch mit Hilfe von Betablockern. Erst anderthalb Jahre später musste ich die Substitution wieder aufnehmen, allerdings in ganz normaler Höhe von 75 Mikrogramm.

Freilich behauptete die Schlichtungsstelle der Ärztekammer später, ich hätte mir das alles eingebildet: Eine schöne Vorstellung eigentlich für einen Romancier, über eine Einbildungskraft zu verfügen, die den Hormonhaushalt in diesen Dimensionen beeinflusst. Ich kämpfte aber noch fünf Jahre mit den schwereren Folgen der Vergiftung. Einen Zusammenhang zwischen Quecksilber und der Schilddrüse, wie er in Chatgroups intensiv diskutiert wird, stritten die Gutachter, Professoren der Rechstmedizin an der LMU München, ab. Darüber sei nichts bekannt. Unter ihnen war der Quecksilberexperte Gustav Drasch, und er meinte auch, das Ausbohren einer Amalgam-Zahnplombe ohne jede Absaugung von Dampf und Staub sei 1993 noch lege artis gewesen. Dabei konnte man schon in den Neunziger Jahren in Handbüchern über Risiken von Amalgam nachlesen, dass Quecksilber ein Antagonist des Selen ist und so das Enzym blockiert, das aus Thyroxin das wirksame Thybon macht (zum Beispiel bei Andrew Hall Cuttler). Erste Forschungsergebnisse publizierten Lars Barregard und andere im Jahr 1994 in Fachorgan Occupational and Environmental Medicine. Heute tauchen die Hinweise in populären Ratgebern zur Schilddrüse auf, etwa bei Sandra Cabot. Das Netz ist voll von wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema. Die Besonderheit dieser Störung ist, dass im Test die Hormonlevels ganz normal sind, sie aber im Stoffwechsel nicht wirken können.

Auch wenn im Bericht der WHO über endokrinologisch wirksame Chemikalien der Hinweis nicht fehlt, dass Quecksilber die Verfügbarkeit von Selen und damit die Schilddrüse stört, zucken Ärzte noch heute mit den Schultern und fassen sich an den Kopf, wenn ich die Sache erwähnen muss. Oder sie freuen sich über meine guten Werte.

Selen ist für die Schilddrüse so wichtig wie Jod. Dass Jod von Nitraten blockiert wird, weiß jeder. Die Bundesregierung hat die Empfehlung zur Jodierung von Speisesalz gegeben, was mancherorts als Zwangsjodierung der Bevölkerung angesehen wird. Gegen die Nitrate in Wasser, Luft und Boden kommen wir halt nicht mehr an. Quecksilber ist heute immer noch in Zähnen und neuerdings in Sparlampen, die vorzugsweise in Wohnräumen kaputt gehen oder in der Batteriesammelstelle landen, in meinem Supermarkt wenige Meter von der Gemüseauslage entfernt. Es greift enzymatisch noch an vielen anderen Stellen des Stoffwechsels ein, insbesondere dämpft es die Energiegewinnung in den Zellen. Quecksilber verlässt den Körper kaum, führt über zirka 15 Jahre zu einer Schädigung des Nervensystems und schließlich zu einer schwer diagnostizierbaren multiplen Erkrankung, die für den Patienten und seine ratlosen Angehörigen echt kein Spaß ist. Blumhagens Erregung wäre verständlich, wenn sie Ähnliches erlebt. Und zwar auf direkte wie indirekte Weise. Hashimoto kann das nicht erklären.

Ich hatte damals übrigens eine Leidensgenossin, die wie Vanessa Blumhagen mit Thybon experimentierte. Die Schriftstellerin Ellen Miller, (mehr hier) Schülerin von E. L. Doctorow und Dani Shapiro. Miller wollte nicht wie Blumhagen abnehmen, sondern in der Nacht Schlaf finden. Quecksilbertests sind leider wertlos, weil nicht entscheidend ist, was man ausleitet, sondern was im Körper verbleibt. Das ist nicht am lebenden Menschen messbar. Vielleicht war es bei ihr auch etwas anderes. Es dürfte zum Beispiel komplexe Interferenzen, wie sie bei Blei und Quecksilber in der Schädigung von Nervenfasern nachgewiesen sind, auch endokrinologisch geben. Ellen Miller starb kürzlich jedenfalls genau so, wie man es mir aufgrund der Dosierung jahrelang prophezeit hat: an einem plötzlichen Herzinfarkt. Es ist also Zeit, gegen die Erosion des gegenseitigen Respekts von Arzt und Patient anzuschreiben. Und dass Frau Blumhagen etwas vorsichtiger agiert.

Ralf Bönt