Essay

Zwei Tage im Mai

Von Aleida Assmann
13.05.2016. Die Gründung der Montanunion am 9. Mai 1950 hat sich nicht als europäischer Gedenktag durchsetzen können. Denn das fundierende Schlüsselereignis für Europa ist der 8. Mai 1945: die Kapitulation Deutschlands und das Ende des Zweiten Weltkriegs. Ob und wie dieser Tag in den verschiedenen Ländern begangen wird, hängt jedoch von den geltenden Geschichtsnarrativen ab - und die sind noch immer umkämpft.
Der 9. Mai 1950 ist der Tag der Gründung der Europäischen Union. Damals hat der französische Außenminister Robert Schuman, der deutsche Wurzeln hatte und während der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs im Widerstand kämpfte, in einer historischen Rede eine europäischen Produktionsgemeinschaft der Kohle- und Stahlindustrie vorgeschlagen. In der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die auch Montanunion genannt wurde, ging es vordergründig um einen zollfreien Zugang zu den Rohstoffen der Schwerindustrie. Hintergründig ging es bei dieser wirtschaftlichen Zusammenarbeit jedoch um etwas ganz anderes, nämlich um die Zähmung Deutschlands. Es musste unter allen Umständen verhindert werden, dass Deutschland sich für einen weiteren Krieg hochrüstet und damit noch einmal für seine Nachbarstaaten gefährlich werden könnte. Die Wirtschaftskooperation der sechs Gründungsmitglieder Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und der Niederlande diente also im Kern einer dauerhaften Friedenssicherung. Deutschland, das sich im Zweiten Weltkrieg so gewalttägig ausgebreitet hatte, das so viel Leid über die europäischen Nachbarn gebracht und die europäischen Juden so radikal vernichtet hatte, durfte in Europa nie wieder so viel Spielraum erhalten und musste deshalb zunächst einmal gezähmt, eingehegt und eingegliedert werden.

Der 9. Mai gilt deshalb als Grundstein der heutigen Europäischen Union. Für diesen Feiertag ist zwar immer wieder geworben worden, aber er konnte sich in der Bevölkerung der Mitgliedstaaten nie wirklich durchsetzen. Das mag auch daran liegen, dass er in unmittelbarer zeitlicher Nähe des 8. Mai liegt, dem Tag des Kriegsendes in Deutschland, der seit 1985 mit immer größerer Zustimmung vor allem der nachwachsenden Generationen als 'Tag der Befreiung' gefeiert wird. Anders als der 9. Mai 1950, der Tag der Gründung der EU, hat der 8. Mai 1945 in Deutschland tiefe Spuren im biografischen Erfahrungs- und Familiengedächtnis hinterlassen, auch wenn die Stimmen dieser Zeitzeugen heute mehr und mehr verstummen.

In Westdeutschland spielte der 8. Mai in den ersten vier Jahrzehnten nach dem Krieg als besonderer Gedenktag noch keine Rolle. Eine Rede des Präsidenten Heinemann zum 8. Mai 1975 blieb ohne Resonanz. Das mag aus heutiger Perspektive überraschen, aber dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen herrschten in West- und Ostdeutschland während des Kalten Krieges gegensätzliche Geschichtsnarrative. Weil der Tag in der DDR als 'Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus' im politischen Gedenkkalender als Pflichttermin von 1950-1985 fest fixiert war, war er für die Westdeutschen politisch besetzt. Zum anderen war das Datum lange Zeit inhaltlich und emotional zu komplex, ja widersprüchlich aufgeladen, um es in die Form eines offiziellen Gedenktags zu gießen: war der Tag der Kapitulation nun ein Tag der Trauer über Zusammenbruch und Verlust oder der Freude über Befreiung und Neubeginn? Erst nachdem Präsident Richard von Weizsäcker der Bevölkerung vierzig Jahre nach Kriegsende die Bedeutung dieses Datums in einer historischen Rede im Bonner Bundestag zum 8. Mai 1985 neu aufgeschlossen hatte, konnte der Tag in der westdeutschen Öffentlichkeit intensiv diskutiert, neu erinnert und offiziell begangen werden. (Bild: Delegation der DDR-Massenorganisation Junge Pioniere am 8. Mai 1954 am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Foto: Heinz Funck)

Mit diesem Schritt war es den Deutschen möglich, ihren Sonderweg des Erinnerns zu verlassen und jenseits der Polarisierung des Kalten Krieges ein neues gesamtdeutsches Narrativ zu entwickeln, in dem Platz für Trauer und Freude war. Von nun an war der 8. Mai, was besonders bei den jüngeren Generationen sehr gut ankam, ein europäischer Freudentag, den die Deutschen mit den Siegern zusammen feiern konnten. Diese Befreiung hatte in Deutschland freilich einen etwas anderen Klang. Hier hieß das: 'Befreit von uns selbst' (wie ich einen Artikel zum 8. Mai 2005 einst überschrieben habe). Denn in der Erinnerung an das Kriegsende als Befreiung darf gerade in Deutschland die Frage der Verantwortung für Millionen Tote und unermessliches Leid, das Hitlers Vernichtungskrieg über Europa gebracht hat, nicht ausgeblendet werden. In einer Rede anlässlich der Feierstunde im Berliner Bundestag am 8. Mai 2015 erinnerte letztes Jahr auch der Historiker Heinrich August Winkler an diesen dunklen Untergrund des 'Freudentages' der Befreiung und verknüpfte dies mit einem Hinweis auf neue Ausbrüche von Hetze und Gewalt. Das Datum sei eine Mahnung, so Winkler, "die eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 zu beherzigen: die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten".

Die Lehren, die man aus der Geschichte zieht, haben unterschiedliche Akzente, je nach dem, von welchem Standpunkt man auf sie schaut. Tatsächlich hatte der 8. Mai als Freudentag der Befreiung während des Kalten Krieges diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs eine ganz andere Bedeutung. In Frankreich wurde der 8. Mai als Tag des Sieges der Alliierten seit Kriegsende kontinuierlich gefeiert. Im Gedenkkalender Englands spielt allerdings nach wie vor der 11. November 1918, der Tag des Sieges nach dem Ersten Weltkrieg, eine wesentlich größere Rolle, der auch nach annähernd hundert Jahren noch jährlich begangen wird. In den Niederlanden wurde der 5. Mai 1945 zum Gedenktag der Befreiung, an die bis heute mit zwei Schweigeminuten gedacht wird. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks war die Situation einheitlich. Hier wurde der 8. Mai zu einem staatlichen Pflichttermin und zentralen symbolischen Bindemittel der Sowjetunion. Nach dem Auseinanderbrechen dieses Staatenbundes erlosch in den ehemaligen Ostblockstaaten deshalb abrupt das Interesse an dem verordneten 'Tag der Befreiung', der nun umgekehrt als Beginn einer neuen Epoche der Unfreiheit angesprochen werden konnte. Die wirklichen Tage der Befreiung lagen für diese postkommunistischen Staaten in der Nähe des 9. November 1989. Mit ihrem Eintritt in die EU haben sie das gemeinsame sowjetische Befreiungsnarrativ mit ihren jeweiligen nationalen Befreiungsnarrativen überschrieben.

In Russland fällt der Tag der Kapitulation und des Sieges über Nazideutschland aufgrund einer Zeitverschiebung auf den 9. Mai. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion musste sich Russland als Nation neu erfinden. Dabei hat sich der heilige Identitätskern des Landes vom 'Mythos Lenin' auf den 'Mythos Stalin' verlagert. Der Inbegriff dieses Zentrums, das heute die Einheit der Nation in Russland verbürgt, ist der alte Gedenktag des Sieges Stalins über Nazideutschland, der 9. Mai 1945, der heute nur noch in Russland in der alten Form einer großen Militärparade mit schwerem Kriegsgerät und Aufmärschen, Fahnen und Orden gefeiert wird. Nach der Wende von 1991 lösten sich die Satellitenstaaten der ehemaligen Sowjetunion aus diesem Gedenkbündnis, das auf das Format einer nationalen russischen Erinnerung zurückschrumpfte. In Polen zum Beispiel wird inzwischen bewusst wieder der europäische 8. Mai und nicht der russische 9. Mai begangen.

Nach einer Zeit des Abflauens der Begeisterung für den 9. Mai hat dieser Gedenktag in Russland in den letzten Jahren einen unverhofften Aufschwung erfahren. Der Stolz auf die Rote Armee und den Sieg über Hitler ergreift inzwischen die gesamte russische Bevölkerung in einer Hochstimmung, für die auch eine neue kulturelle Erinnerungspraxis erfunden wurde. Bisher standen bei den 9. Mai-Feiern die hochdekorierten Veteraninnen und Veteranen im Mittelpunkt. Inzwischen kommen auch die Nachkommen mit ins Bild, die im Gedenkzug mitmarschieren und dabei die Fotos ihrer verstorbenen Väter und Verwandten hochhalten zum Beweis, dass sie nun in deren Fußstapfen gehen. Damit verwandeln sie ein an die körperliche Erfahrung der Akteure gebundenes soziales Kurzzeitgedächtnis in ein nationales Langzeitgedächtnis. Das heroische Siegergedächtnis des 9. Mai hat eine neue Aufladung erfahren; zum einen, weil es alle problematischen Erinnerungen an Stalins Verbrechen überstrahlt und zum anderen, weil es den einzig kontinuierlichen Fixpunkt im historischen Gedächtnis darstellt, den die heutige russische Nation ungebrochen aus der Sowjetunion übernehmen und weiterpflegen kann. (Demonstrationszug in Moskau. Foto: freeman via alles-schallundrauch.blogspot.de)

Die Geschichte des 8. Mai ist noch nicht zu Ende. Seine spaltende Wirkung hat der 8. Mai in Österreich vorerst noch behalten, wo unter dem Druck einer starken 'Erinnerungskonkurrenz' gerade neue Inszenierungsformen dieses Gedenktages entwickelt werden. Bisher hatte die Regierung das Kriegsende am 5. Mai, dem Tag der Befreiung Mauthausens im ehemaligen Konzentrationslager gefeiert und eine Gedenkveranstaltung zum 8. Mai im Parlament angeschlossen. Gleichzeitig fand eine Feierstunde der FPÖ und der Burschenschaften auf dem Heldenplatz statt, die den 8. Mai als 'Tag der Trauer' über die Niederlage Österreichs regelmäßig auf dem Heldenplatz begingen. Als Gegen-Gegen-Erinnerung gewissermaßen wird nun in Wien seit vier Jahren im symbolischen Zentrum der Stadt auf dem Heldenplatz ein 'Fest der Freude' mit Ansprachen, Reden überlebender NS-Opfer, einem öffentlichen Konzert der Wiener Symphoniker und künstlerischen Aktionen begangen. In diesem Jahr kam die 'Lichtintervention' der Wiener Künstlerin Victoria Coeln dazu, die die Stacheldraht-Mauern der gegenwärtigen Außengrenze Europas im Herzen der Stadt auf zwei Tore am Heldenplatz projiziert hat. (Lichtinstallation auf dem Wiener Heldenplatz am 8. Mai 2016. Foto: Victoria Coeln)

In Deutschland haben ein paar Länder wie Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg den Gedenktag (wieder) eingeführt. Auch drei Parteien haben sich jetzt zusammengetan, um im Bundestag den 8. Mai als offiziellen europäischen Gedenktag zu beantragen. Die Linke wirbt für einen "antifaschistischen Gedenktag", der die Erinnerung an die ungeheuren Opfer der Sowjetunion und die Würdigung der Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime mit einschließt. Sie wirbt mit diesem Gedenktag auch für "Demokratie, Humanität und Toleranz". Der alte DDR-Gedenktag muss heute nicht mehr spalten, er kann als ein eigener Akzent in den neuen europäischen Gedenktag integriert werden. Mit dem vielstimmigen 8. Mai als europäischem Gedenktag können die Deutschen aus dem Schatten des Kalten Krieges heraustreten und ihre Wiedervereinigung vertiefen. Aber es geht noch um mehr, nämlich um ein neues Leitbild für Europa, bei dem dieser Gedenktag eine wichtige Rolle spielen kann. Die Fraktionsvorsitzenden von Linken, Grünen und Piraten wollen mit ihrem Antrag deutlich machen, "dass für Hass und Gewalt in Berlin kein Platz ist" und verknüpfen die Erinnerung an die Gewaltgeschichte des Krieges mit der Pflicht, sich für diejenigen einzusetzen, "die heute bei uns Schutz vor Krieg und Vertreibung suchen".

Der 8. Mai hat es in sich. Er war aus verschiedenen Gründen schon immer ein in sich widersprüchlicher Gedenktag im transnationalen Gedächtnis Europas. Mit seinen gegensätzlichen Konnotationen der Befreiung oder Niederlage und den so unterschiedlichen Inszenierungsformen der militärischen Machtdemonstration und des Friedensfestes hat er die Menschen sowohl getrennt als auch verbunden. Im Kalten Krieg spaltete er Europa und eröffnete nach der Wiedervereinigung neue Deutungsmöglichkeiten im Rahmen eines erweiterten europäischen Gedenkens. Ein europäischer Vergleich zeigt, dass inzwischen beim 8. Mai das Thema Befreiung überwiegt und das integrative Potenzial dieses Datums deutlich zunimmt. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn das Ende der beiden Weltkriege erweist sich immer deutlicher als das fundierende Schlüsselereignis für Europa. Diese symbolische Bedeutung ist für die Zukunft keineswegs erschöpft. Deshalb hätte der 8. Mai 1945 auch das Zeug, den blassen 9. Mai 1950, den Tag der Gründung der EU, zu ersetzen. Er wird noch von einem anderen 9. Mai flankiert, dem zentralen russischen Gedenktag. Da der sich aber auf dasselbe historische Ereignis bezieht, enthält dieser Feiertag sogar noch das Potenzial, eine Brücke zu schlagen zwischen der europäischen Friedensfeier und der militärischen Siegesfeier.

Aleida Assmann