Essay

Die Ethnozentriker, ihre Vordenker und die Deutschen

Von Wolfgang Kraushaar
22.04.2016. Die Auseinandersetzung mit der AfD vor dem Hintergrund der Flüchtlingsfrage wird der Lackmustest für die deutsche Demokratie. Bislang hat die deutsche Politik den Rechtsextremismus schmählich verdrängt - das Versagen im NSU-Skandal reichte bis in die Spitzen des Apparats. Auf die Fünfprozenthürde für die AfD bei den Bundestagwahlen darf keiner mehr hoffen. Wie also umgehen mit der AfD und den von ihr instrumentalisierten Themen?
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Man mag es drehen und wenden wie man will: die drei Landtagswahlen vom 13. März 2016 stellen in der Geschichte der Bundesrepublik einen Einschnitt, vielleicht sogar eine Zäsur dar. Und das aus drei einfachen, in ihrer Faktizität kaum zu bestreitenden Gründen:

- Noch nie zuvor war es einer vergleichsweise kleinen Partei wie den Grünen - zumal in einem großen Flächenland wie Baden-Württemberg - gelungen, stärkste Partei zu werden.
- Nur selten zuvor hat die SPD, wenn man einmal von dem gegenläufigen Ergebnis in Rheinland-Pfalz absieht, so schlecht abgeschnitten, wodurch die Frage aufgeworfen wurde, ob sie überhaupt noch als eine "Volkspartei" bezeichnet werden dürfe.
- Und noch nie war es einer zwar nicht völlig neuen, aber doch sehr jungen Partei wie der Alternative für Deutschland (AfD) gelungen, in einem Bundesland wie Sachsen-Anhalt ein Ergebnis von über 24 Prozent zu erzielen, sich auf diese Weise das Votum beinahe eines jeden vierten Wählers zu sichern und damit eine Art parlamentarischen Raketenstarts hinzulegen.

Diese drei Punkte schienen zunächst für eine Verteilung von Licht- und Schattenseiten zu sprechen und den Eindruck einer Fragmentierung der Wahlerfolge zu befördern. Doch dieser von den in den etablierten Parteien verbreitete Eindruck täuscht. In Wirklichkeit gab es nur einen Sieger und das war ganz eindeutig die AfD. Ihr Erfolg lässt sich nur durch die Annahme erklären, dass sie mit ihrer ultimativen Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen für einen nicht unerheblichen Teil der Wählerschaft die ausschlaggebende Alternative dargestellt hat. Weil sowohl die SPD, die Grünen, die Partei Die Linke und eine in Teilen sozialdemokratisierte CDU im Schnitt verloren hatten, bestand das Hauptergebnis in einem nicht unerheblichen Rechtsruck und einer als Folge insgesamt komplizierter gewordenen Ausgangssituation für die jeweiligen Regierungsbildungen.

Eindeutige Verlierer waren jedenfalls linke, linksökologische und sozialdemokratische Strömungen im Parteienspektrum. Daran können auch die Wahlsiege der Grünen in Baden-Württemberg und der SPD in Rheinland-Pfalz nichts ändern. Gerade der frenetische Jubel, der bei diesen beiden Parteien nach der Verkündung ihrer partiellen Wahlerfolge ausbrach, war verräterisch. Denn er folgte dem nur zu durchsichtigen Zweck, das jeweilige Desaster in den beiden anderen Bundesländern möglichst zu übertünchen und damit die eigene Wählerschaft ebenso wie das TV-Publikum zu beschwichtigen.

Das Endergebnis war in seinem Durchschnitt aber darüber hinaus vor allem eines: eine Niederlage der parlamentarischen Demokratie. Angesichts der dramatischen Bilder, die Tag für Tag von den Schauplätzen der Flüchtlingsdramen im östlichen Mittelmeer zu sehen sind, waren die drei Landtagswahlen eine schallende Ohrfeige für die Protagonisten der Willkommenskultur, deren Echo noch lange nicht verklungen sein dürfte und einem für die nähere Zukunft der Republik Angst und Bange machen kann.

Doch ist die Aufregung, die auch aus diesen Worten spricht und mittlerweile eine Vielzahl von Kommentaren durchzogen hat, nicht völlig übertrieben und eher Indiz für einen Alarmismus, der bei den unterschiedlichsten Anlässen immer wieder einmal aufbrandet? Und wäre es statt dessen nicht viel eher angebracht, - wie das etwa Thomas Schmid in einem Welt-Artikel getan hat - für mehr Gelassenheit zu plädieren? Schließlich muss es sich ja nicht gleich um eine Katastrophe handeln, wenn vier Fünftel, mindestens aber drei Viertel der abgegebenen Stimmen auf jene als "demokratisch" für gut geheißenen Parteien entfallen. Außerdem kann man sich ja vielleicht wirklich nicht dauerhaft in der Illusion wiegen, dass Deutschland bei Parlamentswahlen als einziges europäisches Land von der mittlerweile fast überall grassierenden Anti-EU-Haltung verschont bleiben würde. Das scheint nicht ganz unplausibel zu sein, auf jeden Fall aber dürfte es ziemlich beruhigend wirken. Ist es aber auch überzeugend? Daran allerdings dürften bei näherem Hinsehen durchaus Zweifel angebracht sein.


Was ist eigentlich eine Volkspartei?

Eine, ja vielleicht die zentrale Rolle in der gegenwärtigen Debatte spielt eine Begriffsopposition: der Gegensatz zwischen Volks- und Protestparteien. Während dem ersten Terminus in unserem politischen System gemeinhin Stabilität sowie Legitimität und insofern eine besondere demokratische Qualität zugerechnet werden, wird dem anderen unterstellt, dass es sich dabei um ein eher ephemeres Phänomen auf der politischen Bühne handle, das monothematisch eingestellt sei, von zeitlich begrenzter Dauer wäre und über geringe oder gar keine Legitimationsressourcen verfüge. In der Kontradiktion wird der einen politischen Kraft eine wenn nicht gar demokratiebefördernde, so zumindest doch demokratiebewahrende Funktion zugesprochen. Während die Union und die SPD nicht müde werden zu behaupten, dass allein ihnen der Status von "Volksparteien" gebühre, glauben sie im Umkehrschluss, die AfD mit der Subsumption unter den Begriff "Protestpartei" dequalifizieren zu können. Ob es jedoch so ohne weiteres möglich ist, einem politischen Gegner einen Terminus aufzuzwängen, den er selbst vehement ablehnt, darf bezweifelt werden.

Der wohl symptomatischste Satz des gesamten Wahlabends dürfte von dem Spitzenkandidaten der AfD in Sachsen-Anhalt gestammt haben, einem in der bundespolitischen Öffentlichkeit bis dahin weitgehend unbekannten Mann namens André Poggenburg. Er lautete: "Wir sind die neue Volkspartei!" Und die Begeisterung, mit der ihm diese Vokabel über die Lippen ging, dürfte an die Fernsehzuschauer gerichtet zweierlei bedeutet haben: Hier seht ihr eine Partei, die im Unterschied zu den beiden abgewirtschafteten Regierungsparteien CDU und SPD die Bezeichnung "Volkspartei" zu recht trägt. Und dieser Ausdruck dürfte als eine Art "Ehrentitel" gemeint sein, dessen Bedeutung von einer der üblichen Parteien in einer Massendemokratie gar nicht richtig verstanden werde; denn er stehe für "das Volk" als solches und allein die AfD sei die Partei, die "das Volk" in seiner Gesamtheit repräsentiere und demzufolge diesen Titel auch nur für sich allein beanspruchen könne. Es war diese völkisch-totalitäre Anmaßung, die plötzlich im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand.

Doch was ist eigentlich eine Volkspartei? Gibt es objektivierbare Kriterien in quantitativer oder qualitativer Hinsicht dafür, wann eine Partei zur "Volkspartei" wird oder aber ihrer mangelnden Resonanz wegen diesen Status wieder einbüßt? Oder muss ihr entscheidendes Kriterium eher unabhängig von prozentualen Anteilen als Merkmal von Strukturbedingungen gesehen werden?

Das Wichtigste vorweg: Beim Begriff "Volkspartei" handelt es sich nicht um einen wissenschaftlichen Terminus, sondern eine Bezeichnung, die sich eine Partei selbst verleiht, um damit einen Geltungsanspruch markieren zu können. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die eigene Partei, wie das Alf Mintzel einmal formuliert hat, "...an das ganze Volk wendet und ihrem Anspruch nach nicht nur eine einzelne soziale Klasse oder Schicht vertreten will, sondern das ganze Volk." Eine solche Partei stellt sich zwar auch gegen den Typus der Honoratiorenpartei, in erster Linie aber ist sie gegen linke Parteien, sozialistischer, sozialdemokratischer oder kommunistischer Couleur gerichtet. Also Parteien, die sich in der Regel als Vertretung einer bestimmten Klasse, der des Proletariats, begriffen und sich deshalb in der Vergangenheit häufig auch als "Arbeiterpartei" bezeichnet haben. Vor diesem Hintergrund erscheint die Selbstetikettierung als ein ideologischer Kampfbegriff, mit dem die unterschiedlichsten bürgerlichen Parteien die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker aufkommenden linken Parteien durch die Besetzung eines überzogenen Geltungsanspruchs, nämlich das Volk in seiner Gesamtheit zu präsentieren, in ihre Schranken weisen, wenn nicht gar als bloß partikularistisch degradieren wollten.

Die erste Partei, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Charakter einer "Volkspartei" für sich in Anspruch nahm, war ausgerechnet eine, die diese Bezeichnung nicht in ihrem Namen trug: die Christlich Demokratische Union (CDU). Der explizite Bezug auf den von den vom Nationalsozialismus auf so unvorstellbare Weise vergifteten Volksbegriff schien erst einmal verbaut zu sein. Das konnte angesichts der Tatsache, dass sich unter denjenigen, die 1945 zu ihrer Gründung aufgerufen hatten, mehrheitlich NS-Opfer befanden - christliche Widerstandskämpfer, KZ-Überlebende und Emigranten - kaum überraschen. Nun sollte der Unionsbegriff dafür stehen, dass man die trennenden Klassen und Konfessionen überwinden und insofern zumindest implizit für das ganze Volk sprechen wolle.

Die zweite bundesdeutsche Partei, die diese Bezeichnung adaptierte, brauchte dafür bekanntlich über ein Jahrzehnt länger. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) verstand sich ja zunächst als Arbeiterpartei. Nachdem sie dreimal hintereinander bei Bundestagswahlen den Unionsparteien CDU/CSU unterlegen war, setzte sich der von Herbert Wehner, Willy Brandt und Fritz Erler angeführte pragmatisch eingestellte Flügel durch und sorgte 1959 mit der Verabschiedung des Godesberger Programms dafür, dass das Selbstverständnis einer marxistischen Klassenpartei durch das einer im Wettbewerb um die Regierungsmacht offenbar erfolgversprechenderen Volkspartei abgelöst wurde. Die SPD hatte es vorgezogen, anstatt weiter auf unabsehbare Zeit in der Oppositionsrolle zu verharren, nun selbst unter das Begriffskostüm des bürgerlich-konservativen Kampfbegriffs zu schlüpfen. Dabei ist es dann auch angesichts einer unter Gesichtspunkten der parlamentarischen Machteroberung eher wechselhaften Geschichte geblieben.

Seit langem gelten in der nicht zu Unrecht als Parteienstaat apostrophierten Bundesrepublik die beiden "Volksparteien" als unverzichtbare Stützpfeiler der parlamentarischen Demokratie. Demgegenüber wird dem politischen Schlüsselbegriff in den Sozialwissenschaften mit Distanz und Skepsis, ja Ablehnung begegnet. Nicht wenige plädieren dafür, den Terminus aus dem wissenschaftlichen Wortschatz zu streichen. Die Gefahr, so wird von den dezidierten Gegnern argumentiert, dass der Ausdruck parteipolitisch missbraucht und von den beiden politischen Lagern, den Christ- wie den Sozialdemokraten, zu Zwecken der eigenen Werbung instrumentalisiert werden könnte, sei einfach zu groß. An terminologischen Alternativen hat es nicht gemangelt. Doch technokratisch anmutende Begriffsbildungen wie "moderne Massenpartei", "Jedermannspartei" oder "soziale Rahmen-" beziehungsweise "soziale Querschnittspartei" blieben unpopulär und gerieten rasch in Vergessenheit.

Eines ist jedenfalls klar: Es gibt kein numerisch objektivierbares Kriterium für die (Selbst-)Etikettierung "Volkspartei", weder was ihre Mitgliedstärke noch was ihr prozentuales Abschneiden bei Wahlen anbetrifft. Im Gegensatz zu Landtagswahlen, die im Endeffekt immer als sekundär abgetan werden können, gelten Ergebnisse von unter 30 Prozent als problematisch und solche von unter 20 Prozent, wie es vor kurzem erstmals für die SPD angezeigt worden ist, als alarmierend. Wenn jedenfalls die beiden parlamentarischen Platzhalter Union und SPD nach einer Bundestagswahl in der Addition nicht mehr genügend Mandate auf sich vereinigen können sollten, um eine weitere "große" Koalition zu bilden, dann wäre der für sie reservierte Platz "Volkspartei" wohl geräumt.


Was ist eigentlich eine Protestpartei?

Als der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier am Abend der Kommunalwahlen, bei der in seinem Bundesland am 6. März sowohl die CDU als auch die SPD die 30-Prozent-Schwelle klar verfehlt hatten, dem Fernsehpublikum zu erklären versuchte, dass der Wahlerfolg der AfD ganz eindeutig das Resultat einer "Protestpartei" sei, war nur zu durchsichtig, was er damit bezwecken wollte. Die Losung lautete: Es gibt keinen wirklichen Grund zur Beunruhigung. Das sei ein ganz vorübergehendes Phänomen. Sobald sich der Ansturm der Flüchtlinge gelegt habe, werde sich das auch wieder gegeben haben und die AfD schon bald darauf ebenso vergessen sein wie zuvor die Republikaner, die Schill-Partei oder die DVU.

Was also macht eigentlich eine Protestpartei aus? Steht der Begriff für mehr als das von den etablierten Parteien, die die Verteilung der Staatsmacht nur zu häufig unter sich ausgemacht haben, aus höchst durchsichtigen Gründen gewählte Negativetikett? Lassen sich Strukturmerkmale erkennen und quantitative oder qualitative Kriterien benennen, von welchem Punkt an von einem derartigen Parteientypus gesprochen werden kann?

Zunächst einmal scheint eines offenkundig zu sein: der Begriff ist durch einen grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet. Das Phänomen des Protests ist so fluide, dass es üblicherweise nur mit einer Bewegungsform kombiniert werden kann. Dagegen von einer "Protestpartei" zu sprechen, stellt eigentlich eine contradictio in adiecto dar. Denn wenn eine solche politische Verbindung tatsächlich das Ziel verfolgen sollte, parlamentarisch zu reüssieren, dann müßte wohl eher von einer oppositionellen Partei die Rede sein.

In den Fällen, in denen ungeachtet der erwähnten Begriffsprobleme von "Protestparteien" gesprochen wird, geht es in aller Regel um ein Übergangsphänomen. Eine Protestbewegung, deren Handlungskanon sich allmählich erschöpft hat, sucht nach einem Ausweg aus ihrer anhaltenden politischen Erfolglosigkeit und beginnt deshalb sukzessive für Parlamente zu kandidieren, zunächst auf kommunaler, dann auf Länder- und schließlich auf Bundesebene. Diesen Prozess hat etwa die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre aus dem Kontext der Anti-AKW- im Besonderen und der Ökologie-Bewegung im Allgemeinen entstandene und im Jahr 1980 gegründete Partei der Grünen auf exemplarische Weise vollzogen. Wie wenig man durch den Schritt der Parteiengründung sich nicht mit den im Bonner Bundestag vertretenen Parteien gemein machen wollte, wurde damals an einer eigenen Begriffsschöpfung deutlich. Die in dieser Phase überragende Führungsfigur Petra Kelly, die die Formierung einer eigenen Partei durch die Fusion zwischen Umwelt- und Friedensbewegung überhaupt erst möglich gemacht haben dürfte, sprach ausdrücklich von einer "Anti-Parteien-Partei". Das sollte nichts anderes bedeuten, als dass sich ihre Partei, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren wolle, auf rein oppositionelle Aufgaben beschränken müsse. Dieser Kurs ließ sich jedoch, wie nur allzu rasch deutlich wurde, nicht lange durchhalten.

Insbesondere nachdem es der Partei 1983 erstmals gelungen war, in den Bundestag einzuziehen, mehrten sich die Stimmen, die dafür votierten, dass man nicht auf dem Status einer Protestpartei verharren und sich auf Dauer nicht mit der Rolle einer Fundamentalopposition begnügen dürfe. In der Folge avancierte eine sich als "realpolitisch" begreifende Fraktion um Joschka Fischer zur richtungweisenden Kraft. Die sogenannten "Fundis" um Jutta Ditfurth wurden dagegen soweit an den Rand gedrängt, dass sie sich von den Grünen lossagten und eine eigene Gruppierung aufmachten. Vor dem Hintergrund dieses sich über Jahre hinweg abspielenden Flügelstreits wurde klar, dass es sich zumindest bei dieser Variante einer Protestpartei um ein transitorisches Phänomen gehandelt hat.

Was macht nun über dieses Beispiel hinaus die Phänomenologie einer Protestpartei aus? Es sind die folgenden Merkmale:

- Sie entsteht in der Regel aus einer Protestbewegung heraus;
- da sie von einer Gelegenheitsstruktur abhängig ist, bedarf sie eines bestimmten Zeitfensters, in dem sie sich formieren und Gestalt annehmen kann;
- von ihren Zielforderungen her tritt sie meistens monothematisch auf, weil sie sich um ein einziges, in der öffentlichen Wahrnehmung als durchschlagend angesehenes Thema formiert;
- sie ist gegen das jeweilige Establishment gerichtet, das sie nicht einfach für eine Legislaturperiode abgelöst, sondern möglichst ganz und gar entfernt sehen möchte;
- sie betreibt eine Politik der offenen Emotionalisierung, die jede Form des Kompromisses wenn nicht unmöglich, so doch äußerst schwierig macht.

Ob sich aus diesen Aspekten aber auch von den einzelnen Beispielen unabhängige Strukturmerkmale ableiten lassen, die einer Überprüfung nach wissenschaftlichen Kriterien standhalten, darf bezweifelt werden. Denn die Gründung von Protestparteien folgt ja keinem zuvor ausgemachten Konzept. Sie entstehen eher naturwüchsig und stellen in der politischen Landschaft häufig nur ein vorübergehendes Phänomen dar. Der Aufstieg einer einstigen Protestpartei wie den Grünen, der 1998 gar die Beteiligung an einer Bundesregierung gelang, mag dem widersprechen, andere wie etwa die Law-and-Order-Partei des Ex-Richters Ronald Schill, die 2001 in Hamburg auf knapp zwanzig Prozent kam, mit diesem Ergebnis zwar Juniorpartner eines von der CDU angeführten Senats werden konnte, aber schon bald wieder in der Bedeutungslosigkeit versank und mittlerweile in Vergessenheit geraten ist, steht für eine gescheiterte Transformation und Konsolidierung. Ob es der AfD gelingen wird, diesem Schicksal mittel- oder längerfristig zu entgehen, kann niemand vorhersagen.


Und was hat es mit dem Rechtspopulismus auf sich?

Ein weiterer Umschreibungs- und Zuordnungsversuch besteht darin, die AfD als eine rechtspopulistische Partei zu charakterisieren. Unter Kommentatoren scheint in dieser Hinsicht weitgehend Konsens zu herrschen. Doch auch die Verwendung des Begriffs Rechtspopulismus macht die Sache kaum einfacher als die des bereits problematisierten Begriffs Protestpartei.

Denn der Begriff ist ebenso schillernd wie ungenau und in seiner Semantik von einer geradezu sich selbst potenzierenden Vielschichtigkeit. Obwohl in politischer Hinsicht der Rechtspopulismus nicht ganz zu Unrecht im Vordergrund des Interesses steht, fällt es schwer, ihn positionell eindeutig zuzuordnen. Als "populistisch" kann genauso gut auch eine linke Strömung beziehungsweise Gruppierung identifiziert werden. Das Attribut entzieht sich den üblichen politischen Richtungszuweisungen nicht weniger als den wissenschaftlichen Klassifikationsschemata.

Eine politische Erscheinung als "populistisch" zu identifizieren ist fast immer pejorativ gemeint. Wenn eine solche Attributierung vorgenommen wird, dann wird damit zugleich suggeriert, dass jeder wisse, was unter diesem Reizwort zu verstehen sei. Es wird ein stillschweigendes, augenzwinkerndes Übereinkommen darüber hergestellt, dass man nicht explizit werden müsse, um sich über die Semantik zu verständigen. Die Andeutung gehört zur populistischen Rede ebenso wie zur Rede über den Populismus.

Der Terminus "Populismus" ist jedoch nicht jenem Fundus an sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeiten zuzurechnen, den man als einigermaßen gesichert ansehen könnte. Noch immer ist die theoretische Diskussion von einer gewissen Beliebigkeit gekennzeichnet. Diese Gefahr war schon 1967 auf einem von der London School of Economics veranstalteten Populismus-Symposium angeprangert worden. Dort war die Kritik geäußert worden, dass sich im akademischen Bereich jeder nach Bedarf seine eigene Populismusdefinition zurechtlegen würde. Hierzulande ist die Forschung erst sehr spät dazu gekommen, in diesem Thema überhaupt ein Desiderat zu erkennen. Beinahe alles, was in diesem Umfeld an Aspekten eine Rolle gespielt hat, ist in der Vergangenheit dem Thema Rechtsradikalismus beziehungsweise Rechtsextremismus zugeschlagen worden. Die scheinbare Eindeutigkeit im Umgang mit einem höchst ambivalenten Phänomen hat sich als heuristische Schwierigkeit ersten Ranges erwiesen.

Die Schwierigkeiten liegen dabei sowohl in der Eingrenzung des Phänomens als auch in seiner begrifflichen Präzisierung. Die Tatsache, dass weder das Phänomen, um das es geht, noch der Begriff eindeutig fixiert ist, macht in theoretischer Hinsicht eine Gegenstandskontrolle so ungemein vertrackt. Populismus ist eine mäandernde Erscheinung, ein politisches Chamäleon, dessen Wandlungsfähigkeit schier unbegrenzt zu sein scheint. Immer wieder aufs Neue passt es sich seiner Umgebung an und macht eine Analyse, der es auf möglichst klare Distinktionen ankommt, so schwierig.

In ihrem Kern ist diese Problematik darauf zurückzuführen, dass jene Instanz, auf die sich der Populismus beruft, eine Abstraktion ist, der in der Politik keine wirkliche Unmittelbarkeit zukommt: "das Volk". Der Souverän, der in der parlamentarischen Demokratie - von seltenen Ausnahmen abgesehen - nicht ohne Grund nur vermittelt zum Zuge kommt, ist von dem im letzten Jahr auf so tragische Weise ums Leben gekommenen Soziologen Helmut Dubiel einmal als "das 'Ding an sich' der politischen Theorie" bezeichnet worden. Mit anderen Worten: Es ist Vorsicht bei all jenen politischen Kräften geboten, die den Anspruch vertreten, sie könnten unmittelbar die Interessen des Souveräns vertreten.

So wie populistische Bewegungen beziehungsweise Organisationen sich einerseits auf das Volk berufen, begreifen sie sich andererseits als Opposition gegen das jeweilige Establishment. In diesem Dualismus ist bereits das aus anderen historischen Zusammenhängen bekannte Auseinandertreten von Masse und Führer, von Mob und Elite angelegt. Wie die britische Politikwissenschaftlerin Margaret Canovan, eine der einflussreichsten Populismus-Theoretikerinnen, hervorgehoben hat, besteht das wichtigste Merkmal des Populismus darin, durch diese Doppelstruktur gekennzeichnet zu sein.

In der Forschung herrscht mehr oder weniger Einigkeit darüber, dass es drei Standard-Topoi gibt, die sich in der Bundesrepublik als Ausgangspunkte für populistische Mobilisierungen herausgeschält haben:

- Die Europapolitik, weil in Fragen einer Fortsetzung der europäischen Integration, zumal sie mit zusätzlichen finanz- und währungspolitischen Anforderungen verbunden sind, das Verhältnis zur Nation tendenziell in Frage gestellt wird;
- die Einwanderungspolitik, weil in Fragen der Immigration, zumal sie mit einem Verfassungsgut wie dem Asylrecht gekoppelt ist, das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden nicht mehr als unantastbar gilt, sondern veränderten Gegebenheiten angepasst und immer wieder aufs neue fixiert werden muss;
- die Politik der Inneren Sicherheit, weil damit eine der wesentlichen Aufgaben des mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Staates, die Privatsphäre des einzelnen Bürgers vor kriminellen Übergriffen zu schützen, tangiert wird.

Es ist naheliegend, dass dies nur die drei wichtigsten Felder sind, die sich als Tummelplätze populistischer Stimmungsmacher eignen. Drei andere, kaum weniger wichtige Terrains sind die NS-Vergangenheit mit ihrer nicht unterzukriegenden Schlussstrichmentalität, der Terrorismus mit der durch dessen diffuser Bedrohlichkeit evozierten Kopf-Ab-Mentalität und Delikte sexueller Gewalt, die der kriminologischen Forschung nach zwar kontinuierlich abgenommen haben, jedoch durch die skandalisierend-voyeuristischen Tendenzen des Internets, des Fernsehens und auch der Printmedien verstärkt, von großen Teilen der Bevölkerung als unablässig steigend wahrgenommen werden.

Vernachlässigung, absichtliche Ignorierung, gezielte Dethematisierung und eine mitunter tiefsitzende Tabuisierung solcher Topoi stellen wichtige Faktoren für die Möglichkeit dar, einen populistischen Konstitutionsprozess in Gang zu bringen. Es bedarf solcher durch Auslassungen geschaffener Gelegenheiten, um das Potential, die offenbar nie ausgehenden populistischen Ressourcen, aktivieren zu können. Oder wie es der Journalist Gunter Hofmann einmal formuliert hat: "Nur eine Bühne, die leer ist, kann auch von Populisten besetzt werden." Zunächst bedarf es eines Artikulateurs und dann eines Akteurs, um das jeweilige von der Regierungspolitik vernachlässigte oder gar ausgesparte Thema aufzugreifen und es politisch zu besetzen.

Im Zentrum des Populismus steht wohl das, was der Politologe Frank Decker einmal als eine "prekäre Synthese von Personalismus und Gemeinschaftsdenken" bezeichnet hat. Eines der seit der Autoritarismusforschung bekannten Standardmuster für Simplifizierungen besteht in der Personalisierung von Strukturbeziehungen und Systemeffekten. Die Gesellschaft wird ganz dualistisch betrachtet: dem "kleinen Mann" steht das Establishment gegenüber. Ihre Aufteilung erfolgt - einen bekannten Buchtitel Günter Wallraffs folgend - in zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Blöcke: "Ihr da oben" und "Wir da unten". Die Ohnmacht, an undurchschaubar gewordenen Verhältnissen noch irgend etwas ändern zu können, verführt dazu, die Unangreifbarkeit von Machtstrukturen auf Einzelpersonen zurückzuführen und Macht auf diese Weise hemmungslos zu personalisieren. Die Form der radikalen Simplifizierung hat für die Betreffenden auf jeden Fall einen entscheidenden Vorteil - sie verschafft ihnen emotional Erleichterung, indem sie aufgestaute Frustrationen und Aggressionen abbaut. Die Ablehnung einer sich im Zuge der Modernisierung immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft korrespondiert dabei mit der romantischen Verklärung antiquierter Gemeinschaftsvorstellungen. Die sogenannten "einfachen Leute" werden zum Ideal erhoben. Und da sie im Grunde nichts ändern, sondern sich nur beklagen können, bedarf es der Führungsfiguren, die stellvertretend für sie das Wort ergreifen und die Dinge in die Hand nehmen.

Unter denjenigen, die wie inzwischen üblich als Modernisierungsverlierer bezeichnet werden, verfestigt sich rasch der Eindruck, dass es die jeweils Regierenden, aber häufig auch die etablierten Parteien insgesamt, verabsäumt hätten, entscheidende politische Probleme - wie etwa die Innere Sicherheit, die Arbeitsmarkt-, Steuer- und Währungspolitik, die Sicherheits- und Europapolitik sowie Fragen des Einwanderungs- und Asylrechts - anzufassen und sie in ebenso entschiedenen wie durchgreifenden Handlungen zu lösen. Nur eine verwaiste Bühne professioneller Politik kann auch von Amateuren, Seiteneinsteigern und selbsternannten Akteuren besetzt werden.

Die aus der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik aufgeführten Beispiele zeigen jedoch, dass sich keineswegs jede Auslassung auch als Anknüpfungspunkt einer populistischen Mobilisierung eignet. So wichtig das objektive Thematisierungs- beziehungsweise Handlungsdefizit auf der einen Seite auch sein mag, nicht weniger relevant ist auf der anderen Seite die Resonanzträchtigkeit bei einem Teil des Publikums. Wenn es keine erkennbare Menge an Interessenten gibt, die die von der Bundesregierung etwa heruntergespielten Aufgaben einer Osterweiterung der Europäischen Union oder einer Umgestaltung der NATO aufgreift, weil sie darin eine Beunruhigung verspüren könnte, wird es auch kein noch so talentierter Charismatiker vermögen, unter dieser Voraussetzung eine populistische Dynamik in Gang zu bringen. Der jeweiligen Auslassung muss immer auch eine als "populär" geltende thematische Disposition in einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung entsprechen.

Der Durchbruch populistischer Führungsfiguren vollzieht sich in aller Regel nicht im Rahmen einer langfristigen Strategie, sondern anlassbezogen und überraschend. Dem ersten Auftritt in der politischen Arena geht keine Steigerung einer als Kontinuitätslinie beschreibbaren Entwicklung voraus, sondern die situative Verdichtung einer Krisenstimmung, die sich im Hervorzaubern eines polemisch auftretenden Populisten entlädt. Angesichts dieser okkasionalistischen Grundfigur ist es alles andere als Zufall, dass "der populistische Moment", wie der Titel eines richtungweisenden Buches von Lawrence Goodwyn gelautet hat, bereits vor Jahrzehnten ins Zentrum der Populismus-Forschung gerückt ist. Es bedarf der Wahrnehmung einer spezifischen Gelegenheitsstruktur durch eine Person, die sich als optimale Besetzung zur Lösung eines einzigen Problemfeldes zu inszenieren in der Lage ist.

Im Falle Ronald Schills etwa traf beides auf eine geradezu idealtypische Weise zusammen: Ein Jurist, der als Richter "Gnadenlos" in der Rolle rächender Gerechtigkeit auftrat, wurde im Falle eines gravierenden Handlungsdefizits - der tendenziellen Nichtwahrnehmung von Fragen der Inneren Sicherheit durch eine von ihrer eigenen Mentalität ausgebremsten Regierungskoalition - von einem Teil des Wahlvolks auserkoren worden, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Diese Konstellation - ein politisches Defizit durch ein in Aussicht gestelltes Angebot bedienen zu können - war so durchschlagend, dass es dem Kandidaten nicht nur auf Anhieb gelang, seine Partei zur drittstärksten Kraft im Parlament zu machen, sondern sie auf diesem Wege umgehend an einer Regierungskoalition zu beteiligen, in der der Populist das innenpolitische Ressort wahrnehmen und damit seine Wunschrolle als der Hüter von Recht und Ordnung übernehmen konnte.


Wie gefährlich ist die AfD?

Doch alle Versuche, dem irritierenden Phänomen des Rechtspopulismus beizukommen, führen zu keiner wirklichen Klärung der Frage, welche Gefahr von der AfD für die deutsche Demokratie ausgeht. Im Kern geht es ja darum herauszufinden, an welchem Punkt Populismus in Extremismus oder - schlimmer noch - in Terrorismus umschlägt. Wann und wo haben wir es bei ihr mit explizitem Rechtsextremismus zu tun?

Zunächst einmal stimmt es, dass keineswegs alle, vermutlich nicht einmal die Mehrheit der AfD-Wähler als rechtsradikal (ab)qualifiziert werden können. Wer etwa den baden-württembergischen Spitzenkandidaten der AfD, Jörg Meuthen, argumentieren hört, würde weder von seinem Tonfall her noch vom Inhalt mancher seiner Positionen auf die Idee kommen, dass hier ein politischer Rechtsaußen das Wort ergriffen hat. Und gewiss nicht alle von der AfD aufgestellten Forderungen lassen sich per se als irrational abtun. Die Überlegung etwa, dass sich die Integration Hunderttausender von Flüchtlingen für einen Teil der deutschen Bevölkerung nicht nur in kultureller, sondern auch in materieller Hinsicht als folgenreich erweisen werde, ist nicht einfach aus der Luft gegriffen. Angesichts der insbesondere in den Großstädten immer prekärer gewordenen Situation auf dem Wohnungsmarkt wird es zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, die entweder arbeitslos sind oder sich im Niedriglohnsektor bewegen, mit Sicherheit zu Konkurrenzsituationen kommen. Darüber hinaus sind Engpässe in den unterschiedlichsten Sektoren des Sozialsystems denkbar, wenn nicht gar wahrscheinlich. Das alles sollte in einem Land, das ökonomisch so stabil wie die Bundesrepublik ist, eigentlich zu verkraften sein. Doch wo die anstehenden Integrationsprozesse unvermeidlich zu Reibungseffekte führen, die Angstgefühle erzeugen, können sie von Stimmungsmachern missbraucht und ausgebeutet werden.

Der Kölner Soziologe Erwin K. Scheuch hatte den expliziten Rechtsradikalismus einst der "normalen Pathologie westlicher Industriegesellschaften" zugerechnet und mit dieser zweifelsohne entlastenden Formel dafür gesorgt, dass schon vor Jahrzehnten die Aufregung über den möglichen Einzug der NPD in den Bundestag, der dann doch nicht eintrat, abgemildert wurde. Ganz ähnlich haben jetzt viele Kommentatoren auf die Erfolge der AfD reagiert und rhetorisch gefragt, was denn dagegen spreche, dass es nun auch in bundesdeutschen Parlamenten eine rechtsgerichtete Partei gebe, die wie ihre Pendants in Frankreich, England und anderswo die EU, den Euro und die Flüchtlinge ablehne. Doch lässt sich hier tatsächlich von einer "Normalisierung" im Aufstieg der Rechtspopulisten beziehungsweise -extremisten sprechen? Wohl eher nicht.

Denn es wäre ziemlich verharmlosend und vermutlich eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, die AfD als ein isoliertes politisches Phänomen zu betrachten. In Wirklichkeit dürfte ein System kommunizierender Röhren existieren, mittels derer die "Alternative für Deutschland" mit der "Pegida"-Bewegung, einer Reihe durchaus profilierter Intellektueller, die gerade von links nach rechts abzuwandern im Begriff sind, und vielleicht auch einigen unter den fremdenfeindlichen Brandstiftern verbunden ist. Zumindest aber existiert eine zeitliche Koinzidenz, mit der die unterschiedlichen Akteure Effekte erzeugen, die politisch zusammenspielen:

- eine fremdenfeindlich radikalisierte Partei,
- eine außerparlamentarischen Bewegung völkischer Couleur,
- eine sich formierende nationalkonservative Intelligenz und
- eine Vielzahl gewalttätiger Initiativen, die immer wieder aus der Anonymität heraus menschengefährdende Anschläge verüben. Es ist nicht auszuschließen, dass diese sich eines Tages zu einer mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) vergleichbaren terroristischen Struktur verselbständigen und vielleicht irgendeines Tages einmal als bewaffneter Arm von "Pegida" und AfD verstanden werden müssen.

Wie stark in Deutschland im Laufe der letzten drei Jahre Angriffe auf Flüchtlingseinrichtungen zugenommen haben, verrät eine Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA). Waren es 2013 noch 69, gab es 2014 schon 199; bevor diese bereits besorgniserregenden Zahlen im letzten Jahr mit 1.027 Taten auf mehr als das Fünffache angestiegen sind. Beim Großteil der verübten Delikte soll es sich um Sachbeschädigung, Propaganda und Volksverhetzung gehandelt haben. Noch dramatischer freilich fiel der Anstieg bei Brandstiftungen und Gewalttaten aus. Die Anzahl der Brandanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte ist von 2014 auf 2015 mit 95 sogar um das 15-fache angestiegen. Ein Rechercheteam der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, die diese Anschlagswelle zusammen mit ihrer Online-Redaktion für die ersten elf Monate des letzten Jahres untersuchte, hat festgestellt, dass die Täter keinerlei Rücksicht darauf nehmen, ob die in den Häusern befindlichen Flüchtlinge hätten verletzt werden oder gar sterben können. Es sei nur ein glücklicher Zufall gewesen, dass bislang noch keiner zu Tode gekommen sei.

Angesichts dieser Zusammenhänge ist es alles andere als eine Übertreibung, wenn in der Presse behauptet wird, dass es sich bei dieser besonders gefährlichen Aktionsform inzwischen um ein regelrechtes Massenphänomen handle. Auch bei der Zahl der fremdenfeindlichen Gewalttaten wurde vom BKA von 2014 auf 2015 ein Zuwachs von 28 auf 173 verzeichnet. Und der Trend scheint weiter anzuhalten. So wurden allein in den ersten sechs Wochen des Jahres 2016 bereits 94 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte verübt, davon zwölf Brandstiftungen und 19 Gewalttaten. Die Tatsache, dass sich die AfD-Parteivorsitzende Frauke Petry und ihre Stellvertreterin Beatrix von Storch im Januar öffentlich für einen Schusswaffeneinsatz gegen Flüchtlinge ausgesprochen haben, muss als ausdrückliche Ermunterung von rassistischen und fremdenfeindlichen Gewalttätern verstanden werden.

Besorgniserregend muss allerdings auch die beschämend niedrige Aufklärungsquote der genannten Straftaten erscheinen. Bei den 222 von dem Zeit-Team untersuchten Angriffen sind nur in vier Fällen die Täter überführt und von Gerichten abgeurteilt worden. In acht weiteren Fällen, heißt es, sei Anklage erhoben worden; das sind insgesamt nur fünf Prozent aller Angriffe. Dagegen sind bislang elf Prozent der Ermittlungsverfahren eingestellt worden. Diese vorläufige Bilanz stellt ein Armutszeugnis von Polizei und Justiz dar. Auch deshalb, weil die Aufklärungsquote bei Brandanschlägen ohne fremdenfeindlichen Hintergrund deutlich höher liegt. Doch das ist keineswegs alles. Laut einer im Januar auf eine Anfrage der Partei "Die Linke" hin gegebenen Antwort der Bundesregierung werden im gesamten Bundesgebiet 372 Rechtsextremisten per Haftbefehl gesucht. Von diesen hätten sich nicht weniger als 126 schon länger als ein Jahr ihrer Festnahme entzogen. Demnach ist es also einem Drittel der Betreffenden gelungen, erfolgreich unterzutauchen. Angesichts dieser Relation muss bezweifelt werden, dass die Sicherheitsbehörden ihren Aufgaben mit der nötigen Entschlossenheit nachgehen.

Aufhorchen lässt andererseits auch, dass Unbekannte von der baden-württembergischen Stadt Waiblingen aus Drohbriefe an ein halbes Dutzend ehemaliger AfD-Mitglieder, darunter den ehemaligen BDI-Vorsitzenden Olaf Henkel, verschickt haben. Ihnen wird blutige Rache dafür angedroht, dass sie die AfD verlassen und sich mit der "Allianz für Fortschritt und Aufbau" (Alfa) eine neue politische Heimat gesucht haben. "Tod Dir und Deinen Alfa Schwachmaten" heißt es darin. Außerdem: "Petry wird Kanzlerin eines Neuen Deutschland und da gibts für Dich keinen Platz mehr." Die auf einer Schreibmaschine verfassten Zeilen enden in Manier der früheren RAF mit der Parole "Der bewaffnete Kampf hat begonnen". Unterzeichnet sind die Drohungen mit "AFD ARMEE FRAKTION", abgekürzt "AAF". Eine von ihnen ist zudem, als wolle man sich den Erfurter AfD-Agitator in die Rolle eines neuen "Führers" hineinfantasieren, mit der Parole "Heil Höcke" versehen. Das mag vielleicht alles nur ein schlechter Scherz sein. Da jedoch niemand ausschließen kann, dass doch mehr dran sein könnte, hat die Stuttgarter Polizei die Ermittlungen aufgenommen.

Die Tatsache, dass es im Herbst letzten Jahres ein aus fremdenfeindlichen Motiven verübtes Attentat auf eine Politikerin gegeben hat, ist inzwischen soweit entkontextualisiert, dass es eher als singuläres Ereignis wie eine jener als Schicksalsschläge apostrophierten Unglücke wahrgenommen und damit gleichsam privatisiert wird. Doch was am 17. Oktober 2015 in Köln geschehen ist und die parteilose Politikerin Henriette Reker um ein Haar das Leben gekostet hätte, sollte nicht voreilig unter der Rubrik individueller Schreckensnachrichten verbucht werden. Denn die von einem 44-Jährigen verübte Tat gehört ganz eindeutig in den Zusammenhang rechtspopulistischer Reaktionen auf die politische Krise, mit dem wachsenden Zustrom von Flüchtlingen umzugehen und der zu diesem Zeitpunkt sich geradezu überschlagenden Fremdenfeindlichkeit. Der arbeitslose Anstreicher hatte die Kandidatin für das Amt der Kölner Oberbürgermeisterin, die zu diesem Zeitpunkt als Sozialdezernentin für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen zuständig war, perfide um eine Rose aus einem von ihr im Arm gehaltenen Strauß gebeten, um dann aus der Deckung der von ihm in Szene gesetzten Freundlichkeit ein Jagdmesser zu zücken und es ihr in den Hals zu rammen. Wie ernst es ihm mit diesem Mordanschlag gewesen sein musste, verriet sich darin, dass er noch nach seiner Festnahme im Streifenwagen seinen inständigen Wunsch zum Ausdruck brachte, dass die Politikerin nicht gerettet, sondern auch tatsächlich sterben werde.

Auch wenn im nun folgenden Prozess vor dem Kölner Oberlandesgericht die Frage eine Rolle spielt, ob der Angeklagte überhaupt psychisch zurechnungsfähig sei, so weisen doch starke Indizien in Richtung auf eine überlegte und auch in Einzelheiten sorgfältig geplante rechtsextreme Tat hin. Der Attentäter, der laut eigenem Bekunden mit seiner Tat nicht nur ein Zeichen gegen die in seinen Augen verfehlte Flüchtlingspolitik setzen wollte, sondern damit zugleich auch beanspruchte, stellvertretend für die deutsche Bevölkerung zu handeln, hatte zuvor tagelang im Internet recherchiert, die Festplatte seines Computers vernichtet und seine Wohnung aufgeräumt, um möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Dass er nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden auf eine einschlägige Vergangenheit in rechtsextremen Kreisen zurückblicken kann, scheint in dieses Bild zu passen. In früheren Jahren stand er mit der 1995 vom Bundesinnenministerium verbotenen militant-rechtsextremen "Freiheitlich Deutschen Arbeiterpartei" (FAP) in Verbindung, nahm an verschiedenen Gedenkmärschen für den einstigen Führer-Stellvertreter Rudolf Heß teil, sympathisierte mit einer Gruppe von Hooligans, spielte eine Zeit lang mit dem Gedanken der NPD beizutreten und spendete zuletzt der neonazistischen Kleinpartei "III. Weg" einen, wenn auch nur mageren Geldbetrag zur Herstellung einschlägiger Aufkleber. Relativ unwahrscheinlich, jedoch nicht ganz auszuschließen, dürfte die Möglichkeit sein, dass der Rechtsextreme kein Einzeltäter war. Schon die Tatsache, dass er seine PC-Festplatte dem absehbaren polizeilichen Zugriff entzog, sollte jedenfalls die Öffentlichkeit im allgemeinen und die Ermittler im besonderen misstrauisch stimmen.

Besorgniserregend dürfte in dieser Hinsicht auch sein, worauf BKA-Präsident Holger Münch kürzlich hingewiesen hat: dass sich in Deutschland im Zuge der aufgeheizten Flüchtlingsdebatte tatsächlich rechte Terrornetzwerke bilden könnten. Von den fremdenfeindlichen Protestbewegungen würden sich möglicherweise zu allem entschlossene Gruppen abspalten und "Strukturen bis hin zum Terrorismus" aufbauen. Besonders auffällig sei dabei, dass auch viele bislang politisch völlig unauffällige Bürger teils schwere Straftaten begingen. Rund 80 Prozent der im Zusammenhang mit Angriffen auf Asylunterkünfte ermittelten Straftäter seien zuvor nicht durch das aufgefallen, was allgemein als politisch motivierte Kriminalität klassifiziert werde. Mehr als die Hälfte von ihnen sei bislang polizeilich "völlig unauffällig" gewesen. Ähnlich haben sich zuletzt auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière und mit Hans-Georg Maaßen der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz geäußert.

Was sich in solchen Fällen scheinbarer Normalität abgespielt haben könnte, hat einmal der spätere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem Interview veranschaulicht. Nachdem 1992 aufgedeckt worden war, dass die Einwohner einer kleinen, in Brandenburg gelegenen Gemeinde namens Dolgenbrodt militante Rechte für die Durchführung eines Anschlags auf ein im Ort befindliches Flüchtlingsheim finanziert hatten, das durch einen Brandanschlag vollständig zerstört wurde, erklärte Thierse: "Das Bestürzende an Dolgenbrodt ist das Moment von Normalität. Rechtsradikale können sich offenbar wie Fische im Wasser bewegen. Da gibt es einen diffusen Untergrund einer kleinbürgerlichen, anständigen Normalität, aus der Zustimmung, Deckung, Verdrängung, Verschweigen kommt oder mehr. Die Rechtsradikalen exekutieren in einer Art von osmotischem Prozess nur noch eine Emotion, die ohnehin in der Bevölkerung da ist." Mithilfe dieser Einschätzung könnte auch begreifbar werden, warum es beispielsweise dem in Jena so gut vernetzten NSU-Trio möglich war, auch während seiner über so viele Jahre hinweg verübten Mordserie unentdeckt zu bleiben. Wenn es genügend Sympathisanten und Unterstützer gibt, die sich in diesen Taten wiedererkennen, dann sehen sie in den Rechtsterroristen vor allem Akteure, an die sie ihre eigenen fremdenfeindlichen Mordphantasien delegieren können und deswegen auch keinerlei Veranlassung sehen, Alarm zu geben.

Ganz ähnlich hat das kürzlich auch ein Autorenteam der taz am Beispiel einer kleinen, ganz in der Nähe von Dresden gelegenen Stadt namens Freital beschrieben. Dort, wo auch der Initiator der völkisch gesinnten "Pegida", Lutz Bachmann, seinen Wohnsitz hat, war es im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres zu einer ganzen Serie von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und deren Unterstützer gekommen. Michael Richter, Stadtrat der Partei "Die Linke", auf dessen Privatwagen sogar ein Sprengstoffanschlag verübt worden war, erklärt sich das Zustandekommen dieser Aktionen damit, dass sie "in der Freitaler Gesellschaft anerkannt" seien. Das sei jedenfalls die Grundstimmung, die in der Stadt herrsche. Als dann am 19. April endlich die Polizei eingriff, war das ein längst überfälliger Schritt. Im Auftrag des Generalbundesanwalts waren im Morgengrauen 200 Beamte mit der GSG 9 an der Spitze in den Ort vorgedrungen und hatten fünf mutmaßliche Mitglieder der als rechtsterroristisch eingeschätzten "Gruppe Freital" festgenommen. Den vier Männern im Alter von 18 bis 39 Jahren und einer 27-jährigen Frau wird versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Sie sollen zudem enge Verbindungen zu der nach einer Buslinie benannten rechtsextremistischen "Bürgerwehr FTL/360" unterhalten.

Die ansonsten vorherrschende und bereits vor zwei Jahrzehnten ausgeprägte Tendenz zu Verharmlosung und Beschwichtigung fremdenfeindlicher Attacken hat die SZ-Journalistin Annette Ramelsberger neulich in ihrem, anlässlich des NSU-Prozesses verfassten Artikel "Dunkeldeutschland" problematisiert. Das seit nunmehr beinahe drei Jahren laufende Münchner Verfahren gegen Beate Zschäpe und andere stelle eine "Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft" dar. Aufschlussreich sei dabei weniger das Verhalten der Hauptangeklagten als das "Bild einer Parallelgesellschaft", das dort von Zeugen geliefert werde. Bereits 1998, als der NSU gegründet wurde und die "Deutsche Volksunion" (DVU) in Sachsen-Anhalt kurz darauf 12,9 Prozent der Stimmen erreichte, sei alles vorhanden gewesen, was der Rechtsterrorismus "als Nährboden" gebraucht habe: "das Verharmlosen, das Alles-Verstehen-Wollen, die Nachsicht von Bürgermeistern, Lehrern, Richtern, das Wegschauen der Polizei, die Appeasementpolitik von Landesfürsten wie Manfred Stolpe in Brandenburg und Kurt Biedenkopf in Sachsen, die ihren Bürgern den Kopf tätschelten und ihnen einredeten, sie seien immun gegen Rechtsradikalismus." Das zusammen habe es ermöglicht, dass die vor Gericht gestellten rechten Schläger so häufig freigesprochen worden und ihre Straftaten damit ungeahndet geblieben seien.

Dieses offenkundige Versagen der Politik, hier von jeweils einem Ministerpräsidenten der CDU und der SPD, der Justiz wie der Polizei dürfte nicht unerheblich mit dazu beigetragen haben, dass der Rechtsterrorismus gar nicht als solcher wahrgenommen wurde, sich über Jahre hinweg ausbreiten und eine Serie von fremdenfeindlichen Mordtaten verüben konnte. Und nun scheint die Bundesrepublik erneut an einer solchen Schwelle zu stehen und ihre Bürger müssen sich die ewiggleichen Beschwichtigungen seitens der bei den drei Landtagswahlen letztlich so abgestraften, als etabliert bezeichneten Parteien anhören. Doch etwas hat sich nachhaltig verändert. Nicht nur die Stimmlage ist eine andere geworden. Was in den neunziger Jahren zumeist noch hinter vorgehaltener Hand eher tuschelnd ausgetauscht wurde, das ist nun auf Straßen und Plätzen bei Demonstrationen und Kundgebungen offen und ungebremst in seiner ganzen Aggressivität zu hören.

So hat etwa die in der Presse häufig als "Pegida-Frontfrau" bezeichnete Tatjana Festerling, die den Hamburger Landesverband der AfD mitbegründet hatte, dann aber aus der Partei ausgetreten war, um ihrem Ausschluss zuvorzukommen, im Januar auf einer Kundgebung in Leipzig ihre Anhänger mit den Worten aufzuputschen versucht: "Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln." Damit dürfte sie selbst in genau entgegengesetzter Richtung den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt haben. Obwohl es anschließend zu tätlichen Übergriffen auf eine MDR-Reporterin und einen Welt-Journalisten kam, war von Seiten der Polizei oder der Justiz nichts geschehen. Es blieb schließlich dem Deutschen Journalistenverband überlassen, in das rechtsstaatliche Vakuum vorzustoßen und eine entsprechende Strafanzeige gegen die Demagogin zu stellen.

Die Ressentiments und Hassgefühle, die zwischen politischen Biedermännern, rechtsradikalen Brandstiftern und Animateuren wie Claqueuren in der Bevölkerung ausgetauscht werden, sind keineswegs atmosphärische Bagatellen, sondern eine gefährliche Botschaft. Bedrohlicher aber noch als die eigentliche Message ist die Struktur, in der sich diese osmotischen Prozesse vollziehen. Das Modell der kommunizierenden Röhren verrät, dass es unterhalb des eilfertig verbreiteten Bildes von den den Fremden gegenüber so freundlichen Deutschen ein zumindest in Ansätzen funktionierendes ethnozentrisches System geben muss. Die politische Kraft, der es gelingt, die hier zirkulierenden Emotionen, als Parteiorganisation in den Griff zu bekommen und auf parlamentarischem Wege auszuschöpfen, könnte nicht nur ein erfolgversprechendes Modell etablieren, sondern vielleicht sogar Teile der Staatsmacht erobern.

Es gehört zur Ungleichzeitigkeit von Politik, Zivilgesellschaft und Rechtsstaat, dass die NPD inzwischen vielleicht gerade deshalb das geringere Übel ist, weil sie sich so klar als rechtsextrem zu erkennen gibt. Weil sie im Gegensatz zur AfD über keine oder zu wenig populistische Resonanzkörper verfügt, ist sie in ihrer Wirkkraft eingeschränkt und spielt in der sogenannten Flüchtlingskrise, die ja in Wirklichkeit eine staatliche Krise ist, dem im Grundgesetz noch immer garantierten Recht, Flüchtlingen Asyl zu gewähren, zur Durchsetzung zu verhelfen, nur noch eine untergeordnete Rolle. Anders sieht es hingegen mit einer in der Bundesregierung vertretenen Regionalpartei aus.

Es dürfte alles andere als Zufall sein, dass laut einer im März durchgeführten Forsa-Umfrage der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer bei den Anhängern der AfD mit 69 zu 47 Prozentpunkten beliebter als die Parteivorsitzende Frauke Petry ist. Jedenfalls sprechen viele Indikatoren dafür, dass auch die CSU zu den ethnozentrisch dominierten Parteien gezählt werden muss. Auch unabhängig von der politischen Zuspitzung der sogenannten Flüchtlingskrise, in der sie sich nicht zu schade war, die Politik der Bundeskanzlerin zu hintertreiben und zu diesem Zweck Kontakt mit dezidierten Flüchtlingsgegnern wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán aufzunehmen, hat sie sich ein ums andere Mal wie in Sachen Autobahn-Maut für Ausländer mit Vorstößen zu profilieren versucht, die die Fremdenfeindlichkeit als zentralen Teil ihres Markenkerns unter Beweis gestellt hat. Sie und ihre Wählerschaft unterscheiden sich offenbar nur graduell von der der AfD.


Der Ethnozentrismus als Matrix

Die entscheidende Kategorie zur Analyse der zwar diffusen, in ihrem Kern aber brandgefährlichen fremdenfeindlichen Stimmung ist die des Ethnozentrismus. Dieser ist das Grundmuster, eine Art Zellkern, aus dem heraus Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus und Rechtsextremismus generiert werden.

Beim Ethnozentrismus geht es um die Voreingenommenheit von Individuen gegenüber als "fremd" wahrgenommenen Gruppen. In einer Definition des amerikanischen Soziologen William Graham Sumner, der den Begriff in seinem 1906 erschienenen Buch "Folkways" erstmals verwendet hat, heißt es, dass damit eine Sicht der Dinge gemeint sei, in der "die eigene Gruppe der Mittelpunkt von allem" sei. Er hatte dabei allerdings miteinander konkurrierende Volksstämme im Sinne, die durch ihre jeweiligen Sitten und Gebräuche darauf bedacht waren, sich gegen alle anderen durchzusetzen oder für ihr Handeln doch zumindest eine möglichst vorteilhafte Ausgangsposition zu verschaffen.

Wenn der Terminus heute gebraucht wird, dann geht es dabei, kurz gesagt, um die Selbstbezogenheit einer Gruppe, die sich in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht gegen andere stellt. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung hatte die Kategorie 1955 in einer Studie über das Nachkriegsbewusstsein der Deutschen mit den Worten definiert, dass darunter eine Einstellung zu verstehen sei, "welche die 'gute' eigene Gruppe mit der 'schlechten' Fremdgruppe kontrastiert, welche zwischen 'uns' den Deutschen, und 'den anderen', den Ausländern, unterscheidet und auf diese alles mögliche Schlechte projiziert." Zwei Funktionen sind in dem Begriff wie ein blinder Mechanismus miteinander verknüpft: die "Eigengruppenüberbewertung" und die "Fremdgruppenabwertung" (Andrea Herrmann).

In einer Studie von Michael Terwey über "Ethnozentrismus in Deutschland", die auf einem Datensatz der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, kurz ALLBUS genannt, aus dem Jahr 1996 basiert, wurde besonders auf sogenannte "Restriktions-Items" abgehoben, mit denen rigide Formen ethnischer Ausgrenzung wie etwa die Forderung, dass angesichts einer fortexistierenden Arbeitslosigkeit in Deutschland lebende Ausländer umgehend in ihre Heimatländer abgeschoben werden sollten, herauspräpariert werden. Die vergleichenden Varianzanalysen verrieten Trends, die sich in den meisten Fällen bis heute erhalten haben. Sie besagen,

- dass ethnozentrische Optionen in den neuen Bundesländern häufiger auftreten als in den alten;
- dass der durchschnittliche Ethnozentrismus von der Größe des jeweiligen Wohnortes abhängig ist: je kleiner die Gemeinde, umso stärker die Abwehr des Fremden und je größer die Stadt, umso geringer die Ablehnung;
- dass die Häufigkeit einer ethnozentrischen Einstellung mit dem Alter zunimmt: bei den Jüngeren, der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen, ist sie am niedrigsten und bei den Älteren, der Gruppe der über 60-Jährigen, am höchsten;
- dass sie mit dem Bildungsgrad korreliert: am geringsten ist sie bei akademisch Ausgebildeten, am höchsten bei niedrig Gebildeten;
- das schlägt sich auch in den sozialen Milieus nieder: am geringsten sind sie in den "gehobenen" Milieus anzutreffen, am stärksten unter selbständigen Landwirten und einfachen Arbeitern;
- das betrifft auch die politischen Positionen: rechtsorientierte Deutsche sind weitaus anfälliger als linksstehende;
- und es betrifft auch die Werteeinstellung: der postmaterialistisch eingestellte Typus ist weitaus weniger anfällig als der materialistisch eingestellte.

Als ideologische Grundelemente des Ethnozentrismus können die folgenden Komponenten bestimmt werden: eine völkische Gesinnung, ein biologistischer Antimodernismus, ein antieuropäischer Nationalismus, ein antiwestlicher Neutralismus, ein kulturkonservativer Antiamerikanismus, ein sekundärer Antisemitismus und ein historischer Revisionismus.

Diese Ideologeme, die zumeist nur notdürftig kaschiert auftreten, stellen zweifelsohne ein brisantes antidemokratisches Gebräu dar. Wer etwa den thüringischen Landesvorsitzenden der AfD, Björn Höcke, bei einer seiner Reden in Erfurt erlebt, der bekommt eine Lehrstunde in Massendemagogie, in deren Rhetorik die ethnozentrischen Grundelemente regelmäßig abgerufen werden. Niemand beherrscht momentan den Nazi-Sound besser als der aus Westfalen stammende und ursprünglich der Jungen Union angehörende Oberstudienrat. Unmissverständlich rassistische Positionen wie die, dass sich das Sexualverhalten von Afrikanern und Europäern genetisch unterscheide, hat er etwa mit der die Schließung deutscher Grenzen legitimierenden Gegenüberstellung eines "lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyps" und eines "europäischen Platzhaltertyps" pseudowissenschaftlich zu unterlegen versucht. Die Kombination der unterschiedlichsten ethnozentrischen Ideologeme spiegelt sich in seinen massenwirksamen Hasstiraden wider.

Wenn der Schlüssel zu Erfolg oder Misserfolg einer populistischen Bewegung vor allem im Charisma ihrer Führungsfigur begründet ist, dann dürfte es von großer Bedeutung sein, wie sich Höckes Karriere weiterentwickelt. Es wäre allerdings ein Missverständnis, anzunehmen, dass mit Charisma einseitig eine persönliche Eigenschaft im Sinne von Ausstrahlung, Autorität, Prestige oder Popularität gemeint wäre. Nach Max Webers berühmter Charakterisierung definiert sich Charisma ja als "eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit, um derentwillen sie als ... 'Führer' gewertet wird." Der Soziologe M. Rainer Lepsius hat darauf aufmerksam gemacht, dass mit Webers Definition in den Sozialwissenschaften ein Bedeutungswandel einhergegangen sei - Charisma meine seitdem nicht mehr irgendeine spezifische Qualität einer Person, sondern die Eigentümlichkeit einer sozialen Beziehung. Charisma stehe für eine soziale Interaktion "zwischen einem Charismaträger und einem Charismagläubigen". Das Augenmerk sollte sich also weniger auf die vermeintliche "Persönlichkeit" eines Charismatikers konzentrieren als auf die Struktur der charismatischen sozialen Beziehung. Übertragen auf eine Analyse der rechtspopulistischen AfD heißt das, dass nicht irgendeine besondere Eigenschaft populistischer Führungsfiguren entscheidend ist, sondern die Interaktion, die diese "Charismaträger" mit ihren "Charismagläubigen" zu führen in der Lage sind. Und etwa auf Höcke angewandt hieße das: Wie weit gelingt es ihm als Redner, die in Flüchtlings- und Asylfragen beunruhigten Bevölkerungsteile anzusprechen und auf sie als Hoffnungsträger zu wirken? Die Interdependenz zwischen einer charismatischen Person und der von ihr charismatisierten sozialen Gruppe ist also der entscheidende Faktor für ihre politische Wirksamkeit.

Die AfD hat sich in der Tat zu einer "Partei der Selbstermächtigung" gemausert, wie das kürzlich Christiane Hoffmann im Spiegel dargelegt hat: sie "...verspricht Heimat: die Volksgemeinschaft, die alles ausgrenzt, was nicht deutsch ist. Gegen den Heimatverlust setzt die AfD ein rassistisches, völkisches Zuhause." Während dieses mit einem Übermaß an Empathie bedacht wird, zeichnet sich ihre Haltung gegenüber den Flüchtlingen, die unter lebensbedrohlichen Umständen ihre Heimat verlassen haben, durch ihre vollständige Abwesenheit aus.


Die Lektion der neunziger Jahre


Die inzwischen auf so dramatische Weise zu Bewusstsein gekommene Unfähigkeit der politischen Klasse, mit den fremdenfeindlichen Wellen angemessen umzugehen, hängt auch mit einem weitgehenden Versagen der etablierten Parteien zusammen, das auf die neunziger Jahre und die durch die deutsche Einigung in nahezu jeglicher Hinsicht veränderte politische Lage zurückzuführen ist. Die beiden Unionsparteien etwa waren während der vorletzten Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl selbst noch so stark auf die Abwehr von Flüchtlingen und Asylbewerbern gepolt, dass sie als Ermunterung der ethnozentrischen Kräfte verstanden werden konnten. Ohne diese untergründig symbiotische Beziehung wäre das Menetekel von Rostock-Lichtenhagen, wo im August 1992 der rechtsextreme Mob unter den Augen von Polizei, Sicherheitsbehörden und dem christdemokratischen Innenminister tagelang ungehindert eine Hatz auf Ausländer durchführen konnte, nicht möglich gewesen.

Worin die politische Funktion der Inkaufnahme solcher lebensgefährdender Ausschreitungen bestanden haben könnte, dürfte nur wenige Monate später deutlich geworden sein. Die beiden "Volksparteien" CDU/CSU und SPD vereinbarten im Dezember 1992 den sogenannten Asylkompromiss, der im Mai 1993 zu einer Neuregelung des im Grundgesetz verankerten Rechts auf politisches Asyl führte, die von Kritikern als eine substanzielle Aushöhlung des entsprechenden Artikels 16 angesehen wurde. Da diese unter Bundeskanzler Kohl durchgeführte Verfassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit der Bundestagsabgeordneten erforderlich machte, war sie nur möglich durch eine entsprechende Zustimmung einer zuvor als Kritikerin der christdemokratischen Flüchtlingspolitik in Erscheinung getretenen Partei möglich, der in der Oppositionsrolle befindlichen SPD.

Die Folgen waren einschneidend und unübersehbar. Während die Asylanträge von Flüchtlingen, die ganz überwiegend aus den ethnisch motivierten Bürgerkriegen des im Zerfallstadium befindlichen Vielvölkerstaats Jugoslawien stammten, rasch zurückgingen, verminderte sich die Anzahl der fremdenfeindlichen Brandanschläge nur sehr viel langsamer. Nur die Nachrichtentechnik "verbesserte" sich währenddessen. Jedesmal wenn wieder einmal in den Morgennachrichten von einer weiteren nächtlichen Schandtat berichtet wurde, war anschließend wie bei einem Anrufbeantworter das Mantra "Es liegen keinerlei Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Anschlag" vor. Obwohl noch keiner der Ermittler etwas Konkretes über Spuren und mögliche Tatverdächtige geäußert hatte, wollte man auf diese Weise offenbar dem längst etablierten Bild mörderischer Fremdenfeindlichkeit möglichst rasch einen Riegel vorschieben. Es war so, als hätte man eine mediale Brandmauer vor dem Nicht-Gewünschten errichten wollen. Das wiederum bestand freilich nicht in der Verhinderung der Schandtat, sondern in der Nicht-Verbreitung der Nachricht darüber.

Zu einem noch schlimmeren Menetekel wurde - und das gleich in zweifacher Hinsicht - ein Brandanschlag auf ein Flüchtlingshaus in der Lübecker Hafenstraße, wo am 18. Januar 1996 in einer einzigen Nacht so viele Menschen ums Leben kamen wie in der NSU-Mordserie insgesamt. Doch obwohl unmittelbar darauf drei dringend tatverdächtige Rechtsradikale aus Grevesmühlen festgenommen werden konnten, wurden in der Folge nicht sie, sondern ein überlebender Flüchtling aus dem ausgebrannten Haus vor Gericht gestellt. Nachdem der junge Libanese freigesprochen werden musste, ist der mutmaßliche fremdenfeindliche Mordanschlag zwanzig Jahre später so gut wie in Vergessenheit geraten.

Die vielbeschworene Zivilgesellschaft hat sich zu dieser Zeit mit den fremdenfeindlichen Attacken, die zu Hunderten von Todesopfern führten, eher symbolisch auseinandergesetzt. Sie reagierte mit Demonstrationen und Kundgebungen, vor allem aber mit Lichterketten. Und als es im Oktober 2000 zu einem Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge kam, mit dem von Kohls Nachfolger Gerhard Schröder propagierten "Aufstand der Anständigen". Das diente der Selbstveredelung ebenso wie der Beruhigung und kam letztlich einer Form des Selbstbetrugs nahe. Man glaubte offenbar tatsächlich, mit solchen Akten die gefährlichen Kräfte in der eigenen Gesellschaft bannen zu können. Doch das dürfte ein gravierender Irrtum gewesen sein.

Der erst mehr als ein Jahrzehnt später aufgedeckte NSU-Skandal, der so tief in die staatlichen Institutionen ragt, hat dem Land in gewisser Weise die Quittung für das tiefgreifende Versagen in den neunziger Jahren beschert: Aus den fremdenfeindlichen Strömungen hatten sich nicht nur, aber insbesondere in Ostdeutschland von Rechtsextremen durchsetzte Milieus etabliert, aus denen heraus sich rechtsterroristische Strukturen kristallisierten, die schließlich dazu führten, dass Einzelne in den Untergrund gingen und über viele Jahre hinweg unerkannt als Mörderbanden agieren konnten.


Stellt der Ethnozentrismus nicht auch ein Späterbe der DDR dar?

Jetzt, wo die Ethnozentriker dabei sind, weiter in die Parlamente vorzudringen, muss da nicht auch die Frage aufgeworfen werden, was das alles mit dem Umbruch von 1989/90 zu tun hat, den Leipziger Montagsdemonstrationen, dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Einigung? Die Volksmassen, die damals auf die Straße gingen und ohne Staatsgewalt nicht mehr zu bändigen waren, hatten die nicht bereits ihr völkisches Credo intoniert? Aus dem "Wir sind das Volk!", mit dem die Nationalhymne der DDR in Anspruch genommen wurde, war im Handumdrehen ein "Wir sind ein Volk!" geworden. War das nicht bereits jenes Selbstermächtigungs-Tremolo, mit dem nach zwölf Jahren NS- und vierzig Jahren SED-Diktatur zugleich auch die Macht im Staate beansprucht wurde? Und spiegelte sich in der allseits verbreiteten Rede von der friedvollen "Bürgerrechtsbewegung" nicht nur die eine Seite, die jene andere, in der sich gar nicht so demokratiefreundliche Kräfte bereits massiv zu Wort meldeten, einfach ausgeblendet hat?

Denn das, was seit 1990 folgte, diese unfassbare Welle fremdenfeindlicher Übergriffe und Attacken, wie es nach 1945 weder in West- noch in Ostdeutschland keine auch nur annähernd vergleichbare gegeben hatte, konnte nicht einfach vom Himmel gefallen sein. Dass es bereits am ersten Jahrestag der deutschen Einigung am 3. Oktober 1991 nicht weniger als zwanzig fremdenfeindlich motivierte Anschläge gab, hätte ein böses Omen für all das sein müssen, was dann geschah. Auf Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen folgten mit Mölln, Solingen und anderen zwar auch einzelne westdeutsche Städte, prozentual betrachtet lag das Übergewicht aber ganz eindeutig in den neuen Bundesländern. Und das hat sich beileibe nicht geändert. Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums wurde 2014 mit 47 Prozent fast die Hälfte aller amtlich registrierten fremdenfeindlichen Übergriffe in Berlin und den neuen Bundesländern verübt, einem Gebiet also, in dem nicht einmal 17 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung leben. Hinzu kommt, dass der Rechtsterrorismus des NSU aus Jena, die "Pegida"-Bewegung aus Dresden und die drei wichtigsten Landtagsfraktionen der AfD aus Sachsen, Thüringen und Brandenburg stammen.

Das ostdeutsche Übergewicht dieser radikalisierten und parziell gewalttätig entgrenzten ethnozentrischen Bewegung schlägt sich auch in den empirisch nachweisbaren Mehrheitsverhältnissen rechtspopulistischer Einstellungen in der jeweiligen Gesamtbevölkerung nieder. In einer 2014 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel "Fragile Mitte - feindselige Zustände" durchgeführten Meinungsumfrage traten die entsprechenden Einstellungen in allen Kernkomponenten des Rechtspopulismus wie Autoritarismus, Fremdenfeindlichkeit, Misstrauen gegen über der Demokratie, der Abwertung von Roma, Muslimen und Asylsuchenden auf dem Gebiet der ehemaligen DDR auf signifikante Weise stärker auf. (Hier die Studie als pdf-Dokument.)

Im Unterschied zur alten Bundesrepublik war die DDR ein Nachkriegsdeutschland ohne "1968". Im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Staaten wie Polen und der Tschechoslowakei etwa gab es in jenem Jahr des Aufbruchs keine Studentenbewegung. Und im Unterschied zur Freien Universität in West-Berlin, in der die Revolte nicht nur ihren Ursprung hatte, sondern auch insgesamt ihren stärksten Ausdruck fand, blieb nur wenige Kilometer entfernt an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin alles ruhig. Die Macht der SED war auf Zwang aufgebaut und konnte deshalb keinerlei Form politischer Opposition, keine Freiheits- und Emanzipationsbestrebungen dulden. Unter diesen Bedingungen war sie nicht nur unfähig, politische und soziale Reformen zu tolerieren, sie konnte auch keine Ernst zu nehmende, bis in die subjektive Dimension des einzelnen Individuums reichende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zulassen.

Unter ihrem zur Staatsdoktrin aufgeblasenen Antifaschismus konnten die autoritären Einstellungen und Mentalitäten, die die Wahlerfolge der Nazis erst ermöglicht hatten, fortexistieren. Hinzu kam ein geradezu überbordender Nationalismus von links. Das SED-Zentralorgan hieß (und heißt auch nach dem Ende der einstigen Staatspartei noch immer) nicht ohne Grund Neues Deutschland. Die Staatssozialisten von Moskaus Gnaden verstanden sich als bessere Nationalisten. Die von den Nazis auf so furchterregende Weise zu Schanden gebrachte Vorstellung von der deutschen Nation sollte in der DDR "gerettet" werden. Mit diesem tollkühn anmutenden Vorhaben gingen allerdings auch wesentliche Sekundärtugenden einher wie sie in der ethnozentrischen Matrix beschrieben worden sind: Autoritarismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Genau dagegen wiederum hatte sich die 68er-Bewegung in der Bundesrepublik gerichtet, die sich ja ebenfalls als sozialistisch begriff, aber in ihrer großen Mehrheit das SED-Regime ablehnte.

Und angesichts dieser mittlerweile ein knappes Jahrhundert zurückliegenden Konstellation dürfte es alles andere als Zufall sein, dass sich die auf dem Gebiet der einstigen DDR so besonders stark gewordene AfD programmatisch nun offenbar als eine Anti-68er-Partei begreift. Als die führenden Vertreter der AfD einen Tag nach ihren Wahlerfolgen in den drei Bundesländern auf der Bundespressekonferenz in Berlin den Journalisten zu erklären versuchten, in welche Richtung sie weiter vorzupreschen gedächten, ging es auf einmal um das große Ganze. Der bayerische AfD-Landesvorsitzende Petr Bystron erklärte vollmundig: "Gestern ist ein Paradigmenwechsel eingetreten, es ist das Ende der Herrschaft der Altachtundsechziger." Wovon er sprach, war in seinen Augen nichts anderes als ein Generationenprojekt. Nun käme es darauf an, "die Linken" auf der ganzen Linie zurückzudrängen und "Bürgerlichkeit und Liberalität" wieder zum Zuge kommen zu lassen.

Diese Position ist keineswegs isoliert, sondern wird von anderen Vertretern an der Spitze der jungen Partei geteilt. So hat beispielsweise der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Martin Renner wiederholt formuliert, dass es endlich an der Zeit sei, "die Überwindung der linksideologischen Indoktrination unserer Gesellschaft in Angriff zu nehmen." Und in der "Erfurter Resolution", an der auch Björn Höcke maßgeblich mitgewirkt hat, heißt es im selben Tenor: "Zahllose unserer Mitglieder verstehen die AfD als Bewegung des Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte." Und sein Parteifreund Poggenburg stößt mit einer ganz ähnlichen, allerdings finalisierend zugespitzten Parole in dasselbe Horn: "Wir müssen die Altachtundsechziger rückabwickeln, bis wir wieder einen Normalzustand erreicht haben." Es geht offenbar um eine Kehrtwende, eine Art Re-Normalisierung Deutschlands und der Deutschen.

Das Bild, das hier von den 68ern und ihrer Bewegung transportiert wird, ist jedoch ein Popanz. Kaum jemand unter ihren einstigen Aktivisten wird die damalige Revolte für derartig erfolgreich halten. Aus einer solchen Perspektive dürfte noch Angela Merkels Bundespolitik ein Spätresultat der 68er-Bewegung sein. Im Grunde genommen richtet sich das Gerede vom politischen Paradigmenwechsel und der Abwicklung der 68er gegen eine sich über Jahrzehnte hinweg erstreckende Politik der Modernisierung und Liberalisierung, die von der sozialliberalen Koalition begonnen und schließlich - wie partiell und wechselhaft auch immer - von den Christdemokraten fortgesetzt worden ist.


Ex-68er als nationalkonservative Vordenker

Während die 68er also dafür herhalten müssen, mit ihrer Emanzipationsbewegung das deutsche Volk angeblich vergiftet zu haben, entpuppen sich einige ihrer einstigen Aktivisten als intellektuelle Sympathisanten des politischen Ethnozentrismus. Doch wer erlebt hat, wie sich mit Horst Mahler der einstige APO-Anwalt und RAF-Mitbegründer vor zwanzig Jahren als Hypernationalist, Erzfeind der USA, Liberalismus- und Demokratieverächter, Judenhasser und Holocaust-Leugner entpuppt hat, der sollte sich eigentlich über kaum noch etwas wundern. Als er im Jahr 2003 vor dem Bundesverfassungsgericht die NPD vertrat, die vor ihrem bereits damals drohenden Verbot vermutlich nur deshalb noch einmal davonkam, weil die Führungspositionen der rechtsextremen Partei in einem solchen Ausmaß von V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt waren, dass die Öffnung des Verfahrens das Ansehen des Rechtsstaats selbst ernsthaft hätte in Bedrängnis bringen können, stand ihm als Antragsteller kein anderer als sein früherer Kollege Otto Schily gegenüber, dessen Karriere diesen wiederum nicht in den Untergrund, sondern an die Spitze des Bundesinnenministeriums geführt hatte.

Nicht wenige Beobachter der Karlsruher Szenerie müssen damals den Eindruck gehabt haben, sie würden vor ihren Augen ein Stück aus dem Tollhaus erleben. Doch seitdem Mahler 2009 wegen wiederholter Volksverhetzung ins Gefängnis wanderte und dort trotz einer Amputation seines linken Fußes im letzten Sommer wohl bis zum Jahr 2018 immer noch einsitzen wird, zeigt sich die Öffentlichkeit, die ihm früher bei seinen Auftritten förmlich an seinen Lippen hing, desinteressiert an ihm und seiner Vita. Was ein Fehler sein dürfte, weil seine Biografie einiges von dem verraten könnte, was neuerdings wieder Urständ feiert.

Seitdem prominente Philosophen wie Peter Sloterdijk, Germanisten wie Rüdiger Safranski und Schriftsteller wie Botho Strauß, laut Christian Schröder der "Veteran des neorechten Menetekelns", und der Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wettern, den Verlust nationaler Souveränität bejammern und sich in die Phalanx der Merkel-Gegner eingereiht haben, ist die Irritation in der linksliberalen Presse groß. Die Rede ist von "Deutschen Denkern gegen Angela Merkel" (Der Tagesspiegel), neuen "Heimatvertriebenen" (Die Zeit) und anderem mehr. Die Furcht scheint groß zu sein, dass sich wirkmächtige Intellektuelle wenn auch nicht direkt auf die Seite der AfD und von "Pegida" stellen, so doch mit ihren Invektiven jenen Rechtstrend unterstützen könnten, der auf den unterschiedlichsten Ebenen längst im Gange ist. Wieder einmal haben Vergleiche mit jenen Nationalkonservativen Hochkonjunktur, die sich während der Weimarer Republik zwar zu fein waren, um mit den SA-Schlägern und den Nazis insgesamt gemeinsame Sache zu machen, sich aber nicht scheuten, die damalige Demokratie mit geistigen Mitteln mit in den Abgrund zu stoßen.

Nur wenig bekannt ist hingegen, dass einige der Namhaftesten unter ihnen nicht nur in einem entfernteren Sinne zu den 68ern gezählt werden müssen. Neben Safranski, der in Berlin zu den Mitbegründern der maoistischen KPD/AO zählte, gehörten auch Strauß und Sloterdijk dazu, der am Ende der siebziger Jahre auch noch zu den Anhängern der Bhagwan-Sekte zählte und später keine Scheu hatte, seinen Poona-Aufenthalt als sein prägendstes Bildungserlebnis zu bezeichnen. Sein ehemaliger Hochschulassistent Marc Jongen ist nicht nur stellvertretender AfD-Vorsitzender in Baden-Württemberg, sondern tritt auch als tonangebender Ideologe auf, der verhindern möchte, dass die angebliche Zerstörung von Familie, Volk und Kirche weiter voranschreite und den die FAZ gar zum "Parteiphilosophen der AfD" promoviert hat.

Es wäre jedoch billig die weltanschaulichen Grenzverschiebungen und Positionswechsel unter der altbekannten, insbesondere zur Hochzeit des Kalten Krieges von kommunistischer Seite immer wieder angeprangerten Rolle des Renegaten verbuchen zu wollen. Denn weder ist ein Safranski mit einem Arthur Koestler zu vergleichen noch ein Sloterdijk mit einem Manes Sperber. Damit würde man diese Jahrhundertfiguren, die sich als Ex-Kommunisten angesichts der stalinistischen Verbrechen ihrer Vergangenheit bis an die Schmerzgrenze stellten, noch im Nachhinein beleidigen. Die neudeutschen Forderungen nach einem Mehr an staatlicher Souveränität, einer Wiedereinführung strikter Grenzkontrollen und einer Rückbesinnung zur eigenen Nation sind gerade nicht das Ergebnis einer autobiografischen Reflexion, sondern eher wohl das Aufgreifen dessen, was weltanschaulich ohnehin im Schwange zu sein scheint. Insofern könnten sie Indikatoren für eine folgenreiche Verschiebung sein, mit der im Zuge der Flüchtlingsdebatte längst für abgewirtschaftet gehaltene ideologische Positionen des Nationalismus und Neokonservativismus wieder salonfähig werden.

Das Kapitel "1968" ist in dem politischen Spannungsfeld zwischen AfD und "Pegida" aber noch aus einem ganz anderen Grunde aufschlussreich. Denn es sind nicht nur einzelne Stimmen, die als Meinungsmultiplikatoren Positionen des rechtspopulistischen Lagers befördern und verstärken: es ist ein bemerkenswerter Vorgang, der nicht den Inhalt, sondern die Form, die Vermittlung und die Repräsentation betrifft und der bereits seit längerem im Gange ist - der der Adaption ehemals linksradikaler Strategien und Konzepte durch Exponenten der Neuen Rechten.

Die Rede ist von Götz Kubitschek und der "Subversiven Aktion", der einstigen Keimzelle der antiautoritären Bewegung. Der Netzwerker der rechten Szene, der zeitweilig die Partei "Die Republikaner" beriet, als Vordenker von "Pegida" gilt, nur zu gerne Mitglied in der AfD geworden wäre, was ihm aber in der Ägide des früheren Bundesvorsitzenden Bernd Lucke verwehrt worden war, und der heute offensiv die Rechtsaußen-Positionen Höckes und Poggenburgs unterstützt, war vor einem Jahrzehnt auf die Idee gekommen, eine "Konservativ-Subversive Aktion" (KSA) zu gründen.

Es ging ihm ebenso wie der 1963 gegründeten Namensgeberin, der der Kommune-Begründer Dieter Kunzelmann wie die 68er-Ikone Rudi Dutschke und der damals schon nationalrevolutionär gestimmte Bernd Rabehl angehörten, um eines: um Provokation. Dieses Mal nicht an die Adresse der Katholischen Kirche, der Werbeindustrie und anderer als reaktionär oder systemvernebelnd eingeschätzten Kräfte gerichtet, sondern gegen alles, was ihm im weitesten Sinne als links galt: gegen den Versuch der Partei "Die Linke", den SDS wiederzubeleben, den als Verkörperung des 1989/90 untergegangenen SED-Regimes angesehenen ehemaligen Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden der DDR, Egon Krenz, den als altes Schlachtpferd der SPD geltenden Literaturnobelpreisträger Günter Grass, den Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, zugleich eine lebende Legende des Pariser Mai, sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel, weil sie sich in Frankreich an einer Gedenkfeier zum Ende des Ersten Weltkriegs beteiligen wollte. Nach Ansicht von Kommentatoren wie dem Potsdamer Politikwissenschaftler Gideon Botsch ist der Neu-Provokant Kubitschek vor allem vom Aktivismus und Voluntarismus der früheren 68er fasziniert.

Das alles waren offenbar Einübungen in eine Rolle, die den umtriebigen Aktivisten, seines Zeichens Reserveoffizier der Bundeswehr, der an Militäreinsätzen in Bosnien teilgenommen hatte, dazu gebracht oder besser in die Lage versetzt haben, das neurechte "Institut für Staatspolitik" (IfS) mitzubegründen, dem rechtskonservativen Verlag Antaios als Geschäftsführer zu dienen, für die rechtsintellektuelle Zeitschrift Sezession zu arbeiten, deren Blog mit der Parole "Right is right and left is wrong" offeriert wird, und bei den einschlägig bekannten Adressen aufzutreten: bei "Pegida"-Kundgebungen in Dresden, bei Legida-Kundgebungen in Leipzig, bei der Münchner Burschenschaft Danubia, in der Rabehl 1998 sein Coming Out als "Warner vor der Überfremdung Deutschlands" hatte, bei der ebenso separatistischen wie fremdenfeindlichen "Lega Nord" in Rom, beim "Turmkommers" der deutschnationalen Burschenschaften im österreichischen Linz und auf dem Burschentag der "Deutschen Burschenschaft", die in Eisenach ihr 200-jähriges Bestehen feierte.

Einer derjenigen, die sich mit Kubitschek und anderen fremdenfeindlichen Aktivisten in engem Kontakt befinden, ist der Publizist Frank Böckelmann. Auch er ein Ex-68er par excellence. Anfang der sechziger Jahre war er der vielleicht elaborierteste Theoretiker der "Subversiven Aktion", der der politischen Praxis immer ein wenig abhold war und vielleicht deshalb im Unterschied zu seinem Kampfgefährten Kunzelmann den Wechsel nach West-Berlin und der dort erfolgenden Gründung der "Kommune I" nicht mitmachte, dafür aber in München zu einem der Wortführer der antiautoritären Bewegung avancierte, sich bald darauf von der bereits im Zerfall begriffenen 68er-Bewegung wieder zurückzog, in dem von einem seiner Genossen gegründeten Makol-Verlag mehr oder weniger das gesamte Spektrum der Emanzipationstheorien beackerte, eine Dissertation über die Existenzphilosophie von Karl Jaspers verfasste, mit gescheiten soziologischen Studien über die Massenkommunikation, den Journalismus, den Medienbetrieb und einer Aufmerksamkeit erregenden Monographie über den Bertelsmann-Konzern aufzuwarten wusste, und seit 1979 als führende Kraft die Zeitschrift Tumult herausgibt, die sich zunächst "Schriften für Verkehrswissenschaften" nannte und nun, seitdem Böckelmann von München in seine Geburtsstadt Dresden zurückgekehrt ist, als "Vierteljahresschrift für Konsensstörung" daherkommt.

Dieses Organ, das intellektuell betrachtet einen Vergleich mit einer etablierten Kulturzeitschrift wie etwa dem Merkur keineswegs zu scheuen braucht, hat sich zu einer Plattform entwickelt, auf der sich die avancierteren Stimmen des rechtskonservativen bis neurechten Diskurses ausprobieren können. In ihr schreiben nicht nur der Heidegger-Schüler Ernst Nolte, der vor dreißig Jahren in der FAZ den Historikerstreit auslöste, sondern auch der bereits erwähnte Reinhard Jirgl, der mit seiner dort publizierten Polemik "Die Arglosen im Inland" viele seiner Leser mit der Vorstellung vor den Kopf stieß, dass die Xenophilie neuerdings zur Pflicht aller Deutschen und zur Staatsräson gezählt werden müsse.

Böckelmann äußert unter dem Eindruck der "Pegida"-Demonstrationen nicht nur Verständnis für den "Widerstand gegen die Islamisierung Deutschlands", sondern möchte dabei auch selbst nicht länger abseits stehen und in gewisser Weise nun zu gerne auch praktisch mitmachen. Die "Leute" würden jetzt "spüren", glaubte er dem Stern im Dezember 2014, als sich auf den Pegida-Kundgebungen die Teilnehmerzahlen gerade in kaum vorstellbare Höhen schraubten, verraten zu müssen, "...dass sie sich unter der Fahne versammeln müssen." Das waren Worte aus dem Munde eines an Adornos, Horkheimers und Marcuses kritischer Theorie geschulten, einstigen Vordenkers der intellektuellen Linken, der inzwischen die Traditionen der europäischen Aufklärung mit Vehemenz ablehnt und sich in einer geradezu idealtypischen Gegnerschaft zu Jürgen Habermas als überzeugter Anti-Universalist entpuppt.

Ob Kubitschek, ob Böckelmann, ob Jongen, ob Safranski oder Sloterdijk - all diese Stimmen sind in ihrer philosophischen oder soziopolitischen Ausrichtung sicher nicht als einhellig zu verstehen. Aller Verknüpfungen und Verbindungen zum Trotz ist es eher ein vielstimmiges Konzert an Dissonanzen zum linksliberalen mainstream, das von ihnen zu vernehmen ist. Wie unterschiedlich die Positionen im einzelnen aber auch immer sein mögen, sie stehen für eine sich abzeichnende Verschiebung eines in nicht wenigen Fällen am postmodernistischen Denkstil französischer Theoretiker wie Michel Foucault, Jean Baudrillard und Paul Virilio erprobten Diskurses, der nun dabei ist, im unmittelbaren Umfeld von AfD und "Pegida" mit einer Revision von Wertvorstellungen aufzuwarten, mit der vor allem eines erreicht werden soll: die Delegitimierung der Zivilgesellschaft. Dies jedoch wäre zugleich ein Angriff auf die Demokratie.


Wie mit der AfD umgehen, ihren Wählern, ihren Mitgliedern und ihren Führungsfiguren?

Die zentrale Frage, die seit dem Wahldebakel der etablierten Parteien am 13. März in Politik und Medien diskutiert wird, lautet: Wie sollen man sich eigentlich gegenüber der AfD verhalten? Sollte man sie angreifen und bloßstellen oder eher versuchen, ihr argumentativ beizukommen? Der SZ-Redakteur Johan Schloemann hat in diesem Zusammenhang kürzlich zwei Varianten gegenübergestellt, eine optimistischere und eine pessimistischere: "die Entzauberungs- und die Vergiftungsthese". Während die Möglichkeit, die AfD zu entzaubern, von der Annahme ausgehe, dass sich der öffentliche Streit zivilisierend und letztlich radikalitätszersetzend auswirke und somit auf die Kraft von Argumenten setze, gehe man bei der umgekehrten Möglichkeit, dass die AfD sich weiter ausbreite und das Land durch Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus sukzessive vergifte, von der negativen Vorstellung aus, derzufolge sich in Krisenzeiten eher antidemokratische Positionen durchsetzen würden.

Ersteres mag vielleicht bei Teilen der AfD-Wählerschaft denkbar sein, kaum jedoch beim Gros ihrer Mitglieder und Funktionsträger. Wer sich einmal mit einer derartigen Entschiedenheit auf fremdenfeindliche, rassistische und undemokratische Positionen eingeschworen hat, dem ist vermutlich auch nicht mehr durch Argumente beizukommen. Aus der Annahme, dass der ethnozentrisch eingestellte Kern nicht weiter beeinflussbar ist, dürfte der Schluss zu ziehen sein, dass eine Auseinandersetzung ad personam letztlich fruchtlos bleiben wird.

Statt dessen dürfte sich ein Weg empfehlen, der indirekter verläuft und langwieriger ausfällt. In Annäherung an Schloemanns Diktion könnte man von einer Entgiftungsthese sprechen. Sie lautet: man muss das Terrain, auf dem die AfD bislang so erfolgreich agiert hat, trockenlegen. Das heißt nichts anderes, als dass die weitere Fortsetzung einer hier bereits beschriebenen Politik der Auslassungen unbedingt vermieden werden muss. Es dürfen nicht mehr länger Entscheidungen von großer politischer Tragweite der Bevölkerung weitgehend unkommentiert vorgesetzt und damit der unfreiwillige Eindruck erweckt werden, es handle sich um ein Oktroi.

Es sind noch immer zwei große Problemkomplexe, in deren Zusammenhang der Wählerschaft Entscheidungen mehr oder weniger aufgedrückt werden. Die erste ist die Euro-Rettungspolitik, der die AfD auch ihre Entstehung zu verdanken hat. Wenn es nicht so zynisch klänge, dann ließe sich ihre Konstitution auf die simple Formel bringen: Die angebliche finanzpolitische Alternativlosigkeit der von der Bundesregierung auf Kosten der Steuerzahler umgesetzten Bankenrettung hat eine ungewünschte "Alternative" in der Politik hervorgebracht: die "Alternative für Deutschland". Die zweite ist die Flüchtlingspolitik, die der AfD trotz einer internen Parteienkrise, die zu ihrer Spaltung führte und nicht wenige Kommentatoren zu dem voreiligen Schluss veranlasste, dass es mit ihr nun unablässig abwärts gehen müsse, paradoxerweise erst so richtig zu ihrem Durchbruch verholfen hat. Die Banken- und Finanzkrise hat ebenso wie die mit der Gefahr einer kulturellen Teil-Islamisierung verbundene Integration von Flüchtlingen aus arabischen Staaten massive Ängste ausgelöst, die nicht ernst genommen wurden und deshalb zu einem Emotionsstau mit entsprechenden Hassausbrüchen geführt haben.

Im Vorfeld ihres Programmparteitages haben Spitzenvertreter der AfD nun mit Wortmeldungen Aufsehen erregt, in denen sie sich mit einem möglichst strikten antiislamischen Kurs zu positionieren versucht haben. So hat etwa die stellvertretende Parteivorsitzende Beatrix von Storch zum Besten gegeben, dass der Islam als solcher eine politische Ideologie sei, die sich nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren lasse. Und mit Alexander Gauland hat der andere Parteivize der AfD den Islam als einen "Fremdkörper" in Deutschland bezeichnet, weil es sich bei ihm um keine übliche Religion, sondern um eine Weltanschauung handle, die letztlich die Macht im Staate anstrebe. Deshalb stelle für ihn die "Islamisierung Deutschlands" eine große Gefahr dar.

Diese Haltung dürfte sich nicht nur gegen den Islam, sondern zugleich auch gegen die Flüchtlinge richten, unter denen sich ja zahlreiche befinden, die muslimischen Glaubens sind. Niemand wird jedoch mittlerweile bestreiten können, dass es islamische Kräfte wie etwa den Salafismus gibt, die die Religionsfreiheit als Schutzschild für fundamentalistische Bestrebungen zu missbrauchen versuchen. Insofern nutzen AfD-Politiker nicht völlig unbegründete Befürchtungen aus, um sie für ihre Zwecke instrumentalisieren zu können. Um sich dagegen zur Wehr zu setzen, hilft es jedoch nichts, den vom früheren Bundespräsidenten Christian Wulff einst wie ein Versprechen postulierten Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" blindlings zu wiederholen. Dieses Credo war jedenfalls zu pauschal und letztlich wohl auch überflüssig. Schließlich ist die Religionsfreiheit im Grundgesetz verankert und keine einzige Glaubensrichtung sollte in einem Rechtsstaat einer gesonderten Schutzerklärung durch das Oberhaupt des Staates bedürfen müssen. Es kommt vielmehr darauf an, die Religionsausübung nicht anzutasten, zugleich aber auch einer Politisierung des Islams einen Riegel vorzuschieben und gegenüber fundamentalistischen und terroristischen Tendenzen auf der Hut zu bleiben.

Die andere politische Großbaustelle ist der Umgang mit den Auswirkungen der Banken- und Finanzkrise für Europa. Wer etwa beobachtet, wie die Europäische Zentralbank unter ihrem Präsidenten, jenem finanzpolitischen Geisterfahrer namens Mario Draghi, eine Nullzins-Politik durchsetzt, die einerseits die privaten Sparguthaben sowie einen erheblichen Teil der Alterssicherung sukzessive ruiniert und andererseits Aktionäre, Banken, Börsen und einige südeuropäische Länder systematisch begünstigt, der kann nur zu leicht nachvollziehen, warum es seitens der Geprellten zu einem Gefühl der Lähmung und Handlungsunfähigkeit kommt. Erhebliche Teile der Bevölkerung fühlen sich in dieser Hinsicht nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von nahezu allen im Bundestag vertretenen Parteien im Stich gelassen. Wer die Finanztechnokraten in der EZB einfach walten lässt, der muss sich nicht wundern, dass sich eine Stimmung des ungeschlachten "Wir" gegen das politische Establishment breit macht.

Dass sich angesichts dieser Malaise Wut- und Hassgefühle selbst auf eine so wenig autoritativ auftretende Politikerin wie die Bundeskanzlerin konzentrieren, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie ihre Entscheidungen erklärungsarm oder ganz und gar unkommentiert umsetzt und damit nur allzu häufig den Eindruck einer "Basta"-Politik verbreitet. Zweifel daran, geschweige denn in Erwägung zu ziehende praktische Alternativen werden von ihr oder einem ihrer zumeist nur im Hintergrund agierenden Zuchtmeister, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und Bundesinnenminister Thomas de Maizière, bereits im Vorfeld abgeblockt und faktisch gar nicht erst zugelassen.

Niemand kann eine zuverlässige Prognose abgeben, wie die Bundestagswahlen im Herbst 2017 ausgehen werden. Es besteht nach wie vor kein Grund zur Panik, aber umso mehr einer dafür, die im März sichtbar gewordenen Probleme endlich ernst zu nehmen und ihnen mit Entschlossenheit entgegenzutreten. Wenn die in den Parlamenten etablierten Parteien nur noch meinen, sich zu AfD-Verhinderungsallianzen zusammenschließen zu müssen, wie das gegenwärtig in Sachsen-Anhalt in der Form einer aus CDU, SPD und Grünen zusammengeflickten Kenia-Koalition Gestalt anzunehmen scheint, dann ist die parlamentarische Demokratie bereits in ihren Stottermodus übergegangen. Diese in Österreich bereits 2003 praktizierte schwarz-rot-grüne Regierungskoalition hatte die vorrangige Aufgabe, die rechtspopulistische FPÖ von der Macht fernzuhalten. Sollte etwas Vergleichbares in anderthalb Jahren auch in der Bundesrepublik Deutschland erforderlich sein, dann wäre die Demokratie hierzulande ernsthaft geschwächt.


Der Countdown bis zu den nächsten Bundestagswahlen läuft bereits

Wie ernst die Situation ist, lässt sich vielleicht mit einem Blick zurück in die Anfangszeit der Bundesrepublik veranschaulichen. Als im Juli 1949 in Heidelberg zum ersten Mal seit der NS-Herrschaft wieder Vertreter jüdischer Gruppen in Deutschland zusammenkamen, versuchte der damalige amerikanische Hochkommissar John McCloy den dort Versammelten mit den Worten den Rücken zu stärken: "Für die Welt wird das künftige Verhalten des deutschen Volkes gegenüber der so überaus geringfügigen Zahl in Deutschland verbleibender Juden ein wahrer Prüfstein für die deutsche Geschichte sein." Die Einstellung der Deutschen zu den Juden müsse als "Feuerprobe der deutschen Demokratie" angesehen werden. Im kommenden Jahr wird es jedoch weniger um die in Deutschland lebenden Juden als um die bis hierher durchgedrungenen Flüchtlinge gehen.

Und mit ihnen geht es um den Ethnozentrismus als übergeordneter Feindseligkeitsstruktur, der neben dem Antisemitismus auch die anderen unseligen Ressentiments wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zugerechnet werden müssen. Die seit dem Vorjahr alle anderen politischen Fragen und Probleme in den Hintergrund drängende Aufgabe, wie, in welchen Formen und mit welchen Mitteln, ein demokratischer Staat jenen, die vor Krieg und Gewalt geflohen sind, dauerhaft Asyl und damit Schutz gewähren kann, hat wie ein Brandbeschleuniger bereits vorhandener Ressentiments gewirkt.

Wenn es nicht gelingt, die zunehmende Abspaltung von Wählern zu stoppen und ihren Zulauf zum Rechtspopulismus einzudämmen, dann wird die parlamentarische Demokratie nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft daran Schaden nehmen. Die Aufgabe, Flüchtlingen Asyl zu gewähren, und die von der AfD angeführten flüchtlingsfeindlichen Kräfte von ihrem weiteren Vordringen in demokratische Institutionen abzuhalten, stellt den Lackmustest unserer Demokratie dar. Sollte es den Parteien und den demokratischen Institutionen nicht gelingen, die Ausbreitung dieser frei flottierenden Radikalen zu verhindern, dann könnte die sich in den Parlamenten ausbreitende fremdenfeindliche Bewegung einen noch größeren Schaden anrichten: bedroht wären dann über die Flüchtlinge hinweg die staatlichen Institutionen als solche. Und wer seitens jener antidemokratischen Kräfte einmal Hebel staatlicher Macht in den Händen hält, der wird sie kaum noch freiwillig aufgeben wollen.

Die Hoffnung jedenfalls, dass sich die Erfolge der AfD und damit die Sorgen bis zu den nächsten Bundestagswahlen im Herbst 2017 wieder soweit gelegt haben, dass sie wie anno 1969 die NPD an der Fünfprozenthürde scheitern könnte, teilt inzwischen kaum noch jemand. Sie ist vor allem aus einem Grund völlig unrealistisch: die Flüchtlingspolitik wird selbst dann ein länger andauerndes Problem bleiben, wenn die Zahl der Asylsuchenden tatsächlich so massiv zurückgehen würde, wie das die Bundesregierung durch ihre Krisenpolitik, insbesondere ihrem fragwürdigen Deal mit der Türkei, zuletzt zu bewirken versucht hat; denn auch dann blieben die bereits Aufgenommenen aus der Perspektive der politischen Ethnozentristen nichts anderes als die "Fremden" im Lande, als diejenigen, die ihnen ethnisch betrachtet als "undeutsch" erscheinen und die sie auf dem direktesten Wege ausgliedern und möglichst direkt wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeschicken würden.

Wolfgang Kraushaar

Wolfgang Kraushaar ist Politologe und Historiker der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.