Essay

Revolution ohne Gewähr

Von Andre Glucksmann
17.02.2011. Wer Revolution und Freiheit sagt, sagt nicht gleich Demokratie, Respekt für Minderheiten, Gleichberechtigung, gute Nachbarschaft. Das alles bleibt noch zu erringen. Begrüßen wir die arabischen Revolutionen und begleiten wir sie mit wachem Blick auf die Gefahren.
Aus Liberation vom 7. Februar. Wir danken Andre Glucksmann für die Nachdruckerlaubnis. D.Red.

Eine Revolution überrascht die Welt: die oben, von Panik ergriffen; die unten, die nicht fassen können, wie sie von Minute zu Minute ihre Angst überwinden; die außen - Experten, Regierungen, Fernsehzuschauer, ich selbst - beschuldigt, das Unvorhersehbare nicht vorausgesagt zu haben. Woher dieses Gezänk auf den französischen Kirchtürmen: die Rechte hat versagt, trommelt die Linke, die wohlweislich vergessen hat zu erklären, warum Ben Ali (und seine Einheitspartei) Mitglied der Sozialistischen Internationale blieb, ganz wie Mubarak und seine monokratische Partei. Ersterer wurde am 18. Januar 2011 rausgeworfen, drei Tage nach seiner Flucht, Letzterer am 31. Januar in Windeseile. Dieses heikle Thema rührte niemand an. Nicht die nachlässige Presse. Nicht die mit Putins allmächtiger Partei "Einiges Russland" verbandelte Rechte, die sich jetzt bei Chinas Kommunistischer Partei einschmeichelt. Statt diese weitverbreitete Vorliebe für Autokraten zu hinterfragen, prangert man lieber das "Schweigen der Intellektuellen" an.

Nachdenken bedeutet nicht loszuspurten, um ein Ereignis einzuholen und zu überholen, das einem den Atem nimmt. Abgesehen von der Bewunderung für die Massen, die ihre Angst bezwingen, ist es interessant sich mit der Überraschung zu befassen, die die vorgefassten Meinungen so unvorbereitet getroffen hat. Erstes Vorurteil: Auf die Konfrontation der beiden Blöcke folgte der Kampf der Kulturen. Zweites alternatives Vorurteil: Auf den Kalten Krieg folgte der Frieden der ökonomischen Vernunft und das unblutige Ende der Geschichte. Ein doppelter Irrtum, wie die Implosionen der "arabischen Ausnahme" zeigen. Mit Gewalt reißen sie die scheinbar festgefügten ethnischen und religiöse Blöcke ein, die "arabische Welt", die "islamische Kultur". Wie wurde uns eingetrichtert, dass Freiheit und Demokratie der arabischen Straße unwichtig seien, solange der israelisch-palästinensische Konflikt andauert? Die Frage der Unterdrückung nicht auf die lange Bank - oder nach Jerusalem - abschieben zu wollen, das galt in den Salons und den Universitäten als Gipfel der euozentrischen Unanständigkeit, als menschenrechtlerisch oder zionistisch.

Seit Januar 2011 gibt es keine Zwangsläufigkeit mehr im Maghreb und im Nahen Osten. Was auch komme: Begrüßen wir die Umwälzungen mit einer "Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt". So sprach Kant von der Französischen Revolution, auch wenn er manche ihrer Wendepunkte missbilligte.

Die Globalisierung, die seit dreißig Jahren die Erde überzieht, beschränkt sich nicht auf die Finanzen und die Ökonomie. Sie trägt über die Grenzen ein Virus der Freiheit, das manchmal die Oberhand gewinnt (wie in den samtenen Revolutionen) und manchmal an die Brutalität des profanen politisch-militärischen Apparats stößt wie 1989 am Tienanmen oder die des himmlischen wie im Iran 2009.

Und trotzdem: eine globalisierte Jugend hört nicht auf, aus vollen Kräften (oft digital) zu rufen: "Hau ab!" Die tunesische Leidenschaft erschütterte sehr schnell auch die ägyptische Festung. Eine geistige Atombombe sprengte die Ketten der alten Knechtschaft, die sich als keineswegs naturwüchsig erwies, und daher auch abgeschüttelt werden kann.

Den Sturz eines Tyrannen zu beklagen, kommt nicht in Frage. Ich habe das Ende der kommunistischen Statthalter in Osteuropa gewollt, aber auch das von Salazar und Franco und das von Saddam Hussein, warum sollte mich der Abgang eines Ben Ali und hoffentlich bald der eines Mubarak bekümmern? Was nehmen sie mit, wenn ihre Untertanen sie vertreiben und sie nicht vermissen? Nirgends steht geschrieben, dass auf den Schah Khomeini folgt. Soll ich dem König der Könige vorwerfen, beim letzten Gefecht nicht noch mehr Blut vergossen zu haben, oder eher in den vorangegangenen Jahren zu viel vergossen zu haben?

Einen Volksaufstand, der ein despotisches Regime beseitigt, nennt man eine Revolution. Jede große Demokratie des Westen weiß um ihre gewaltsamen Ursprünge, Frankreich besonders um Saint-Just: 'Die Umstände sind nur widrig für jene, die das Grab fürchten." Die Ermordung Khaled Saids, eines jungen Bloggers, der von der Polizei in Alexandria zu Tode geprügelt wurde, hat nicht eingeschüchtert, sondern elektrisiert. Facebook und Twitter sind das, was einst der Samisdat war. Die kleine Gruppe der Netzbürger trägt die Fackeln der Dissidenz.

Gezündet von einigen wenigen, die nicht zögerten, sich selbst zu opfern, wie Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid, frisst sich der Funke, der die Tyrannei in Flammen setzte, durch unsere Raumzeit. Das Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus, die Stadt der Philosophen, ehrte auch die Tyrannenmörder Harmodius und Aristogiton.

Als Macht der Gegensätze birgt die Freiheit "den tiefsten Abgrund und den höchsten Himmel" (Schelling). Europas Weg zeigt uns, dass eine Revolution überall hinführen kann, zu einer Republik, aber genauso gut zu Terror, Eroberungen und Kriegen. In diesem Moment, da die Macht in Kairo wankt, begeht Teheran den 32. Jahrestag seiner Revolution mit einem Fest der Hinrichtungen und üblen Folterungen. Ägypten - da sei Gott vor! - ist nicht der Iran Khomeinis, weder das Russland Lenins noch das Deutschland der nationalsozialistischen Revolution, Ägypten wird das sein, was seine Jugend, begierig frei zu atmen und zu kommunizieren, seine Muslimbrüder, seine fragwürdige und im Verborgenen agierende Armee, seine Lichtjahre voneinander getrennten Armen und Reichen aus ihm machen werden.

40 Prozent der Ägypter leiden Hunger, 30 Prozent sind Analphabeten. Das macht die Demokratie schwierig und fragil, aber keineswegs unmöglich, wenn, dann hätten die Pariser niemals die Bastille eingenommen. 82 Prozent der ägyptischen Muslime wünschen (gemäß einer im Juni 2010 durchgeführten PEW-Umfrage) die Einführung der Scharia und die Steinigung von Ehebrecherinnen. 77 Prozent finden es normal, dass Dieben die Hand abgehackt wird, und 84 Prozent befürworten die Todesstrafe für diejenigen, die die Religion wechseln. Dies verbietet allzu rosige Voraussagen.

Von der Revolution und ihren Wiederholungen bis zur demokratischen und laizistischen Republik, brauchte es in Frankreich zweihundert Jahre. In Russland und in China wird die Zeitspanne nicht kürzer sein, wenn die Reise überhaupt an ihr Ende kommt. Auch die Vereinigten Staaten, die glaubten, das Himmelreich in zehn Jahren erreicht zu haben, täuschten sich. Erst kamen noch ein furchtbarer Bürgerkrieg, der Klassenkampf und die Schlacht um Bürgerrechte - lang dauernde zweihundert Jahre des Zorns.

Wer Revolution und Freiheit sagt, sagt nicht gleich Demokratie, Respekt für Minderheiten, Gleichberechtigung, gute Nachbarschaft mit anderen Völkern. Das alles bleibt noch zu erringen. Begrüßen wir die arabischen Revolutionen, sie überwinden das angebliche Schicksal. Aber reden wir sie nicht schön: all die Risiken, auch die schlimmsten Gefahren stehen ihnen bevor. Es reicht, auf unsere Geschichte zurückzublicken: Die Zukunft ist ohne Garantie.

Aus dem Französischen von Thekla Dannenberg