Essay

Eines jener semantischen Hackebeile

Von Pascal Bruckner
04.01.2011. Islamophobie: Ein einfaches Wort übt einen schweren Druck aus. Man muss es schon deshalb zurückweisen, weil es eine moralische Erpressung im Sinn hat. Eine Antwort auf Alan Posener
"Wer Dinge falsch benennt, trägt zum Unheil in der Welt bei", sagte Albert Camus. Darum bleibe ich dabei, dass das Wort "Islamophobie", strikt betrachtet, ebenso wenig Sinn hat wie "Christianophobie" oder "Buddhophobie" oder "Atheophobie". In seiner Erwiderung meines ersten Artikels mobilisiert Alan Posener die ganze nationalsozialistische Artillerie, um uns auf den herrschenden Diskurs einzuschwören. Er bringt die "Islamophobie" in die Nähe des Antisemitismus und argumentiert damit selbst ziemlich zweifelhaft. Sind die Muslime im Europa des Jahres 2011 denn in der Lage der Juden in den dreißiger Jahren? Über wen macht man sich hier eigentlich lustig? Wenn es nicht lächerlich wäre, wäre es schlicht widerlich. Zumal die extreme Rechte den Muslimen häufig wesentlich eher zuneigte als den Juden und Hitler selbst eine große Sympathie für den Großmufti von Jerusalem, Al Husseini, empfand, mit dem er sich zusammentat, um die Vernichtung der Juden Palästinas unter britischem Mandat vorzubereiten. Erinnern wir auch daran, dass die "Protokolle der Weisen von Zion" und andere antisemitische Schriften heute von der Türkei bis nach Ägypten florieren. Diese deplatzierten Vergleiche verdunkeln den Gegenstand der Debatte.

Worum handelt es sich denn? Islamische Fundamentalisten, denen daran liegt, die Blasphemie wieder zum Verbrechen zu erklären, haben Ende der siebziger Jahre den Begriff der "Islamophobie" erfunden, um die geringste Kritik an ihren religiösen Lehren mit Rassismus gleichzusetzen. Ein geschickt, wenn auch grob fabrizierter Begriff. Er hat sich dennoch verbreitet, vor allem im Westen, wo ihn sich viele Geistesgrößen ohne viel nachzudenken zu eigen machten, entzückt, eine neue Quelle der Diskriminierung entdeckt zu haben, die man als das größte Übel multiethnischer Gesellschaften ansah. Neue Wörter zu schmieden, um die komplizierte Realität zu bändigen, ist der Traum aller totalitären Bewegungen. "Islamophobie" ist eines jener semantischen Hackebeile, die dazu dienen, jeden Einwand abzuschneiden: Es ist bestürzend zu sehen, dass Intellektuelle in die Falle taumeln und einen Begriff verteidigen, der jedes kritische Urteil verhindern soll. Es ist abstoßend, einen Schriftsteller wie Henning Mankell, den man inspirierter kannte, erklären zu hören, dass die jüngsten Gewalttaten in Schweden auf eine dominierende "Islamophobie" zurückzuführen seien. Damit schiebt er den potentiellen Opfern die Verantwortung für Untaten zu, die ihnen gelten. Und es ist ein doppelter Akt der Verachtung, einerseits für die Verletzten und andereseits für die vereinzelten Muslime, die gegen die Fanatiker in den eigenen Reihen kämpfen.

Denn der Begriff der "Islamophobie" zielt zunächst darauf, jene Gläubigen einzuschüchtern, die ihren Glauben frei ausleben und zum Beispiel während des Ramadan nicht fasten wollen (in Marokko nennt man sie die "Dejeuneurs", ein Wort, das man sowohl als "Mittagesser" als auch als "Fastenverweigerer" übersetzen könnte. Sie werden regelmäßig verfolgt, vor Gericht gestellt, mit Gefängnis bedroht). Auch wer sagt, dass die Antipathie gegen die muslimische Religion nur unsere Aversion gegen Einwanderer maskiert, liegt falsch: Die Muslime in Europa sind in ihrer großen Mehrheit gute französische, deutsche, britische Bürger, seit mehreren Generationen integriert, und nur einige - minoritäre, aber einflussreiche - Elemente unter ihnen wollen Proselyten machen und Intoleranz züchten.

Religionen sind so wie philosophische Doktrinen Glaubenssysteme. Sie sind keine Rassen, denn sie vereinigen Frauen und Männer aller Kontinente. Der Rassismus attackiert Personen in ihrer Substanz: den Juden, den Araber, den Schwarzen, den Weißen, den Gelben und so weiter. Er sperrt sie ein in dieser Substanz, verbietet ihnen jeden Ausgang. Juden wurden unter Hitler vernichtet, egal ob sie konvertiert waren. Ihr Ursprung war ihr Kainsmal.

Man hat also das Recht, die großen Konfessionen zu verehren, aber auch, sie absurd zu finden und ihre Grundlagen und Vorurteile anzugreifen. Man hat das Recht, weder den Katholizismus noch den Protestantismus noch den Judaismus noch den Buddhismus zu lieben und es laut zu sagen. Man hat das Recht, den Atheismus gegen die allgegenwärtige Frömmelei zu verteidigen, wie es in den USA mein Freund Christopher Hitchens mit unvergleichlichem Talent tut.

Es verbietet sich allein, die Gläubigen oder ihre Kultstätten anzugreifen. Es gilt absolute Freiheit für die Gläubigen, ihren Glauben in aller Sicherheit zu leben und Moscheen, Synagogen und Tempel zu bauen, deren Finanzierung sich nur an die geltenden Gesetze halten muss. Aber es gibt auch die Freiheit der Ungläubigen, die großen Konfessionen zu kritisieren, sie ins Lächerliche zu ziehen, wenn sie ihre Rechte überschreiten und in die Gesellschaft und ihre Sitten hineinregieren wollen. Solange man sich auf dem Feld der Ideen bewegt, gilt kein Tabu, selbst verbale Überschreitungen sollten erlaubt sein, wie unter Sozialisten, Liberalen und Konservativen. Claude Levy-Strauss hat das Recht zu schreiben, was er in den "Traurigen Tropen" 1955 schrieb: "Im Angesicht der universalen Gelassenheit des Buddhismus und des christlichen Wunschs nach Dialog nimmt die muslimische Intoleranz bei jenen, die ihr erliegen, eine unbewusste Form an. Sie wollen zwar den anderen nicht immer mit Gewalt zwingen, ihre Wahrheit zu teilen, aber (und das ist schlimmer), sie sind unfähig, den anderen als Anderen zu betrachten. Ihr einziges Mittel, sich vor Zweifel und Demütigung zu schützen, besteht in der 'Vernichtung' des anderen als Zeugen eines anderen Glaubens und anderer Sitten." Oder: "Wenn ein Wachmann religiös wäre, dann wäre seine ideale Religion der Islam: strikte Regeln, fünf Mal beten am Tag, Detailgläubigkeit, auch in der Hygiene, rituelle Waschungen, Promiskuität der Männer, aber nicht der Frauen."

Hätte Levy-Strauss diese Zeilen 2010 geschreiben - wäre er dann von antirassistischen Ligen vor Gericht gezogen worden wie Michel Houellebecq im Jahr 2002, nachdem er - in seiner etwas gröberen Ausdrucksweise - feststellte, dass der Islam "nun mal die beschissenste aller Religionen" sei? Wahrscheinlich. Der Philosoph Robert Redeker lebt seit vier Jahren wegen Morddrohungen im Versteck, nachdem er im Figaro schrieb, dass die Gewalt zum Wesen des Islams gehört. Der Imam von Drancy, Hassen Chalgoumy, wird regelmäßig von Fanatikern bedroht, weil er Freundschaft und Kontakt mit der jüdischen Gemeinde suchte. Der Rektor der Moschee von Paris, Dalil Boubakeur, ist nur knapp einem Attentat von fünf Franzosen algerischer Herkunft und dschihadistischer Gesinnung entgangen, die ihn für seine Mäßigung und seine Verteidigung der republikanischen Tradition bestrafen wollten.

Das Europa der sechziger Jahre hat den Fehler gemacht, seinen Immigranten keine klaren Vorgaben zu machen: Unsere Gesellschaften garantieren die Glaubensfreiheit, aber keine Sonderrechte. Mit anderen Worten: In einer Demokratie steht das republikanische Gesetz über dem Gottes. In unserem von Jahrhunderten des Krieges zwischen Katholiken und Protestanten geprägten Kontinent schien die religiöse Frage seit langem geklärt: Auch wenn sich die Kirchen dagegen wehrten, waren sie nur mehr moralische Autoritäten ohne weltliche Macht, der Glaube war zur Privatsache geworden.

Alle neuen Konfessionen, die nach Europa gelangten - Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus, die Religion der Sikhs, passten sich diesem Spiel des Pluralismus mehr oder weniger gutmütig an. Der radikale Islam hat diesen stillschweigenden Pakt nach 1979 gebrochen, denn er akzeptiert den Laizismus nicht, sondern fordert Sonderrechte für seine Gläubigen, geißelt die Freiheit der Frauen, zwingt sie zum Schleier, verspricht Homsexuellen die Hölle, möchte Geschlechtertrennung in Krankenhäusern, an Stränden und in Schwimmbädern.

Die angelsächsischen Länder, besonders England, sind in diesen Konzessionen sehr weit gegangen - viel zu weit und haben einen entsprechend großen Hass auf die Toleranz ausgelöst, mit der sie den Islam empfingen. Die offizielle Linke und die offizielle Rechte sind durch ihre Laxheit gleichermaßen für eine Situation verantwortlich, die sie heute nicht mehr beherrschen können. Wenn heute viele Europäer ihre Stimme den populistischen oder rechtsextremen Parteien geben, dann weil sie sich verraten fühlen und die Duldsamkeit ihrer Länder missbraucht sehen. Sie stellen fest, dass es schwierig ist, ein Vertrauensverhältnis zu einem einem im Grunde auf Eroberung gestimmten Monotheismus aufzubauen. Deutsche, Franzosen, Schweden, Dänen haben genug davon, dass religiöse Gefühle die Öffentlichkeit durchdringen und eine lautstarke Minderheit auf der Straße betet, ihre Mitgläubigen terrorisiert und von der Mehrheitsgesellschaft einen Duldungsvorbehalt einfordert, den sie zugleich mit Rassismusvorwürfen begründet.

In seiner aktuellen Ausprägung, die von seiner zivilisatorischen Glanzzeit so weit entfernt ist, appelliert der Islam nicht mehr an die besten Eigenschaften der Menschen: Steinigungen, Attentate, Exekutionen, Selbstgeißelungen, Diskriminierung von Minderheiten (besonders der Christen im ganzen nahen Osten vom Irak bis nach Palästina) - es fällt schwer, diese Religion noch für ihren liberalen Geist zu bewundern.

Daher ist es so wichtig, den Islam zu europäisieren, statt Europa zu islamisieren, wie es die Muslimbrüder und die Salafisten gerne hätten. Ein Islam in Frankreich soll vereinbar sein mit der Demokratie und der Mehrheit seiner Gläubigen freie Religionsausübung gestatten. Die Religion des Propheten gehört in die europäische Landschaft, sie hat wie alle Konfessionen ein Anrecht auf angemessene Kultstätten und auf Respekt. Solange sie selbst die republikanischen Regeln respektiert. Was man ihr im Interesse aller und ihrer selbst als bestes wünscht ist nicht irgendeine "Phobie" oder "Philie", sondern eine heitere Indifferenz in einem für alle Glaubensrichtungen offenen Markt der Religionen.

Islamophobie: Ein einfaches Wort übt einen schweren Druck aus. Man muss es schon deshalb zurückweisen, weil es ein ganzes Wertesystem mit sich schleppt, die Vorherrschaft der Sektierer begründet und eine unerträgliche Erpressung versucht. Man sollte wählen: Entweder man unterstützt die Gotteswütigen oder die Gemäßigten. Glücklich die Skeptiker, die es schaffen, die Glut des Glaubens abzukühlen.

Pascal Bruckner