Essay

Bekämpfung des jeweiligen Ungetüms

Von Lukas Foerster
02.11.2010. Viennale 2010: Rudolf Thome qualifiziert sich als polyamouröser Philematologe. Noel Burch und Allan Sekula verkennen die Dialektik des Welthandels. Festivalfilme über Filmfestivals tappen in die Falle des Narzissmus. Aber am Ende stellt sich heraus: Das Monster hat irgendwie recht.

Hahaha von Hong Sang-soo © Viennale

In den Kategorien des Filmproduzentenverbands ist die Viennale "nicht-kompetitiv": Es gibt keinen internationalen Wettbewerb, kaum Welt- oder auch nur Europapremieren, wenige internationale Stars reisen an. Dafür kann sich der Festivaldirektor Hans Hurch den Luxus erlauben, die Rosinen aus den A-Festivals (Berlin, Cannes, Locarno, Venedig) zu picken und neben Perlen zu platzieren, die von den Großen übersehen wurden. Ein Liebhaberfestival mit treuer Kundschaft ist die Viennale, das Programm kennt keine Hierarchien und ist so umfangreich und vielfältig, dass kein noch so breit angelegter Festivalrückblick Vollständigkeit oder auch nur Repräsentativität für sich beanspruchen darf. Im Folgenden fällt also zwangsläufig Großartiges unter den Tisch, so zum Beispiel ein koreanisches Trio veritabler Meisterwerke (die beiden radikal dekonstruktivistischen Komödien Hahaha und Oki's Movie von Hong Sang-soo sowie Poetry, Lee Chang-dongs neuer Versuch, den Humanismus fürs Kino zu retten) oder das hoch interessante Comeback eines fast Vergessenen (Monte Hellmans komplexe Noir-Etüde Road to Nowhere).


Road to Nowhere von Monte Hellman © Viennale

Wenn Hans Hurch doch die eine oder andere nicht-österreichische Premiere nach Wien holt, dann sind das Filme, die ihm und dem Festival besonders am Herzen liegen. Rudolf Thome, dessen letzte Regiearbeit Pink auf der Berlinale 2009 unverständlicherweise in einer Nebensektion verklappt wurde, ist Stammgast der Viennale und bekam für sein neues Werk Das rote Zimmer dieses Jahr die Aufmerksamkeit, die er und der Film verdienen.


Das rote Zimmer von Rudolf Thome © Viennale

Das rote Zimmer ist eine Variation von Themen und Motiven, die Thome bereits seit seinen filmischen Anfängen in den sechziger Jahren umtreiben. Ein weiterer Versuch in Polyamorie, eine weitere Liebesutopie, ein weiterer Versuchsaufbau: Ein Mann, zwei Frauen, ein Haus auf dem Land. Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan aus dem Jahr 1998 hatte exakt dieselbe Ausgangsposition, ein gefühltes Dutzend weiterer Thome-Filme eine, die sich höchstens in Nuancen unterschied. Aber die unterschiedlichen Aktualisierungen des Thome-Universums fühlen sich immer wieder anders und frisch an. Und auf ihre Art immer wieder auch sehr zeitgemäß: Kaum ein Regisseur begleitete die Computerrevolution der achtziger Jahre so konsequent wie Thome (siehe zum Beispiel System ohne Schatten, 1983), im neuen Film kann man ein wissenschaftliches Papier zu physikalischen Vorgängen während des Küssens bewundern.

Ein Kussforscher (= ein Philematologe) steht denn auch im Zentrum des Films. Die beiden Frauen, auf die er trifft, erforschen lieber Gefühle, auch sie erstellen Fragebögen und am Ende formulieren sie Verträge. Das Forschen, Verhandeln und Formalisieren steht der Liebe nicht im Weg, im Gegenteil. Luzie, die eine Frau, schreibt Romane, sie ist es, die Fred findet und in das gemeinsame Landhaus einführt. "Ich werde Dich lieben, bis ich sterbe", sagt sie. Sibil, die andere, jüngere Frau, ist erst sehr herrisch, als Fred dann aber mit verbundenen Augen in Richtung rotes Zimmer geführt wird, hebt sie sanft die Äste eines Baumes, damit die ihm nicht ins Gesicht geraten. Seyneb Saleh, die Sibil wundervoll unbefangen spielt, ist eine Entdeckung.


The Forgotten Space von Noel Burch und Allan Sekula © Viennale

Filmfestivals werden in der Zeit erlebt, erinnert werden sie eher als räumliche Struktur. Es gibt unerwartete Nachbarschaften, Oppositionen und Wahlverwandtschaften. Das Festivalerlebnis schafft räumliche Verdichtungen, aus denen sich fast zwangsläufig Begegnungen, Übereinstimmungen, oder auch Kontraste ergeben, die weniger mit den Objekten selbst zu tun haben, als mit ihrem zufälligen Nebeneinander im Programm. In Wien haben sich zum Beispiel eine niederländisch-österriechische Koproduktion und ein spanischer Dokumentarfilm in Hongkong berührt. Sowohl The Forgotten Space von Noel Burch und Allan Sekula als auch Jose Luis Guerins Guest landen auf ihren sehr unterschiedlich gearteten Reisen (globalisierte Roadmovies sind beide, aber die Bewegungsformen ähneln sich ebenso wenig wie die filmische Flaschenpost, die in ihrem Verlauf entsteht) eben dort. Und beide interessieren sich, in Hongkong angekommen, für dieselbe Personengruppe: Philippinische Hausmädchen, die fernab der Heimat und der eigenen Familie fremde Kinder erziehen. Sonntags treffen sie sich im irgendwo draußen und leisten sich in ihrem Leid Gesellschaft. Ganz zufällig ist der Zufall zwar nicht: Sicherlich gibt es ein Gemeinsames beider Filme, eine gemeinsame Blickrichtung zumindest, die beide Filme in Hongkong zu den exilierten Hausmädchen treibt und nicht irgendwo anders hin. Aber was hinter dem Blick steht, könnte verschiedener nicht sein.


Guest von Jose Luis Guerin © Viennale

Bei Burch/Sekula steht hinter dem Blick eine These: Welthandel ist böse. Exemplifiziert werden soll die These anhand einer niederländischen Eisenbahnlinie, die Kröten tötet, amerikanischen Trailerparks, chinesischen Sweat Shops und Ähnlichem. Die These treibt den Film an und verwandelt die für sich selbst durchaus interessanten Menschen, Orte und Zusammenhänge, auf die die Regisseure stoßen, in Argumente. Material für fünf, wenn nicht zehn interessante Dokumentarfilme gibt es in The Forgotten Space. Nicht nur für Filme über die Hausmädchen (und über die philippinischen Männer, die im Hafen derselben Stadt arbeiten), auch für solche über Architekturgeschichte, Gewerkschaftsbewegungen, Containerschiffahrt.

Aber die interessanten Teile fügen sich zu einem uninteressanten Ganzen. Schuld daran ist einerseits die Reduktion von jedem Bild aufs Argument. Und andererseits auch das Argument selbst, dem alles Dialektische fremd ist. Eine Auseinandersetzung mit dem Welthandel müsste mit der Feststellung beginnen, dass er zuerst einmal eine großartige Sache ist, dass es der Menschheit inzwischen möglich ist, jeden Tag abertausende Container von einem Ende der Welt ans andere zu transportieren. Und dass die Probleme erst da anfangen, wo die falschen Sachen auf die falsche Weise und vielleicht auch noch in die falsche Richtung transportiert werden.


Attenberg von Athina Rachel Tsangari © Viennale

Für Burch/Sekula beginnt und endet alles mit der Entfremdung, für die der Container als Grundeinheit des Welthandels paradigmatisch steht. Bei mir, der ich mit seinem Grundanliegen halbwegs sympathisiere, hat der Film am Ende eher eine Trotzreaktion ausgelöst. Das Bild eines Containerschiffes inmitten der Weltmeere, mit dem Burch/Sekula ihr Globalisierungspanorama punktieren, ist für mich auch weiterhin eher eine Uto-, denn eine Dystopie.

Jose Luis Guerin hat kein Argument, nur eine Kamera. Mit der begleitet er in Guest seinen eigenen, älteren Film En la ciudad de Sylvia auf dessen Reise um die Welt, von Filmfestival zu Filmfestival. In diesem älteren Film passiert nicht viel mehr, als dass ein Mann in Straßencafes und Bars sitzt und Frauen anschaut; zwei dieser Frauen tauchen noch einmal kurz auf im neuen Werk, sie werden gleich noch einmal angeschaut, Guerins Kamera wird man nicht so ohne weiteres los, aber für derartige selbstreflexive Gesten interessiert sich der Regisseur diesmal nur am Rande. Hauptsächlich entsteht der Film in Lateinamerika, dazu kommen Abstecher nach Asien, Israel und New York, in Venedig, einer der letzten Stationen, fühlt sich die Kamera sichtlich unwohl; auch in Kuba filmt Guerin. Die Bilder die er dort findet, werden aller Voraussicht nach dafür sorgen, dass er vom dortigen Havana Film Festival nicht mehr so schnell wieder eingeladen werden wird.


Svet-ake von Aktan Arym Kubat © Viennale

Guest
dokumentiert einen Weg. Struktur geben lediglich Tagebuchblätter zwischen den einzelnen Episoden. Ansonsten ist der Modus das Sammeln und die Form die Skizze. Manchmal folgen auf ein Kalenderblatt nur impressionistische Aufnahmen aus einem Fenster, aus der Eisenbahn, aus dem Flugzeug, manchmal filmt Guerin den Fernsehbildschirm in seinem Hotelzimmer, manchmal Begegnungen mit Kollegen (Jonas Mekas, Chantal Akerman), manchmal entstehen aber auch ganze kleine Dokumentarfilme. Was in Guest fast gar nicht vorkommt ist das Event selbst. Und gerade, weil die Festivals selbst nicht gezeigt werden, wird der Film zu einer alternativen Topografie des Kinos. Zu Gast ist der Regisseur in der jeweiligen Stadt, in der ganzen Stadt, nicht in der Enklave, die der Kulturbetrieb für sich abgesteckt hat. Und seine Kamera interessiert sich konsequent für die Menschen, die gerade nicht vom Festival adressiert werden. Zunächst sucht sie das Leben auf der Straße: Straßenmusiker/händler/prediger/verkäufer/sänger, Demonstrationen, freie Gespräche mit Passanten. Wo der öffentliche Raum wenig preisgibt (in Macao, in Cuba), geht Guerin mit der Kamera auch in die Wohnungen.

Was ein narzisstischer Film sondergleichen hätte werden können, ist das Gegenteil geworden. Schon im fiktionalen En la ciudad de Sylvia hatte sich ein nur scheinbar voyeuristischer Blick von der Schwere der maskulinen Subjektivität gelöst: Die männliche Hauptfigur wurde zur Leerstelle, lud nicht zur Identifikation ein, sondern hatte Teil an einem rein physikalischen Kräftespiel; Anziehung und Abstoßung. Im dokumentarischen Nachfolger (eigentlich ganz wörtlich: im Begleitfilm) Guest ist das Blicksubjekt noch weniger definiert. Einige wenige Male hört man Guerin zu seinem jeweiligen Gegenüber sprechen, ein einziges Mal sieht man seine Hand, wie sie eine Horizontlinie nachzeichnet. Aber es gibt nichts, was auf ein klassisches Individuum hinter der Kamera verweisen würde, auf einen Autor, dem daran gelegen wäre, die jeweilige Blickrichtung oder die Bewegung zu plausibilisieren. Der entkörperlichte Blick hat eine Richtung, eine Tendenz, eine Vorliebe und sogar, vielleicht sogar zuallererst, eine moralische Haltung, aber keine Agenda. Manche haben das Unfertige nicht nur an dem Film, sondern an jedem einzelnen Bild bemängelt. Aber damit übersieht man, dass sich gerade in der Entscheidung, das Unfertige unfertig stehen zu lassen, eine Form von Vertrauen in die Möglichkeiten des Bildes artikuliert, die einem Film wie The Forgotten Space vollkommen fremd ist.


Leslie, My Name is Evil von Reginald Harkema © Viennale

Ein Tag und drei, vier Filme später und eine neue Verbindungslinie wird sichbar: Festivalfilme über Filmfestivals. Guerins Guest kommuniziert nicht nur mit The Forgotten Space, sondern auch mit Jean-Claude Rousseaus experimentellem Spielfilm Festival. Diesmal sind die Filme keine Antagonisten hinsichtlich ihres Bildkonzepts, sondern hinsichtlich der Blickrichtung. Auch Rousseaus Film ist ausschließlich auf Filmfestivals entstanden, genauer gesagt auf unterschiedlichen Ausgaben desselben Festivals in Turin und auch in Festival kommt das Festival selbst nicht vor. Dem Regisseur ist allerdings nicht an der Aufhebung der eigenen Subjektivität im dokumentarischen Blick gelegen, sondern er arbeitet an einer radikalen Selbstfiktionalisierung, die auf ihre Weise auch eine Aufhebung darstellt: Der Film spielt hauptsächlich in anonymen Hotelzimmern, deren einziger Bewohner Rousseau selbst ist. Dort wartet er auf etwas, das sich nie realisiert, er blickt aus dem Fenster, zappt sich durchs Fernsehprogramm, onaniert.


Kaboom von Gregg Araki © Viennale

Eine denkbar spröde, aber nicht ganz humorlose Metafiktion ist Festival. Blicke auf Hotelzimmer, Blicke aus den Fenstern von Hotelzimmern, die Zusammenhänge zwischen einzelnen Ausschnitten entstehen nur über die Montage, nie gibt es eine Totale, die Überblick gewährt oder eine Kamerabewegung, die Kontinuität stiftet. Starre, flache Einstellungen, irritierende Ton / Bild-Scheren, Betonung des Rahmens und des visuellen Off, das Schwarzbild als konstitutives Element einer sehr privaten Poetik. Fiktion und Witz dringen über fast zwanghafte Wiederholungen von Einstellungen und Einstellungsfolgen in den Film ein, über Variationen und Serien: Die Frau als Blickobjekt auf dem Nachbarbalkon wird langsam abgelöst durch einen Mann, der seinerseits einen langen, leeren Kontrollblick in Richtung Kamera wirft.

Wie weit sich der Festivalbetrieb vom Rest der Kinowelt abgesondert hat, das zeigen wenige Filme so deutlich wie die von Guerin und Rousseau: Festivalfilme über Filmfestivals, die trotz allen anderweitigen Beteuerungen nur allzu oft einen geschlossenen Kreislauf etablieren, an dem der Alltagsbetrieb des Kinos nicht mehr Teil hat.


The Telephone Book von Larry Cohen © Viennale

Aber die Viennale wäre nicht die Viennale, wenn sie nicht Gegenpositionen zu derartigen selbstreflexiven Modellen bereitstellen würde. Auch das leisten die zahlreichen Nebenreihen und Sonderprogrammen, die zurück in die Filmgeschichte führen. Eine große Retrospektive war dieses Jahr dem unlängst verstorbenen Eric Rohmer gewidmet, eine kleinere ehrt einen noch lebendigen und für seine 72 Jahre unglaublich agilen Meister des populären Films: den amerikanischen Genrefilmer Larry Cohen. Der dreht, schreibt und produziert seit den sechziger Jahren spielerisch subversive, anarchische Reißer, meistens Horrorfilme und Thriller, in jedem einzelnen stecken Ideen und Energie für zehn. Filme wie Ambulance, Q - The Winged Serpent oder sein Meisterwerk God Told Me To sind fest im kommerziellen Studiosystem verankerte Attacken gegen die ideologischen Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft.


Bone von Larry Cohen

Seine erste Regiearbeit Bone ist eine besonders wilde Angelegenheit. Die Ausgangssituation ist denkbar simpel: Ein schlecht gealtertes, reiches kalifornisches Ehepaar wird am heimischen Pool mit einem Schwarzen konfrontiert, der im weiteren Verlauf als Beruf und Selbstbeschreibung "Vergewaltiger" angibt. Als er die Frau als Geisel nimmt und vom Mann Lösegeld fordert, scheint klar zu sein, wohin die Reise geht. Aber Cohen stellt alle Erwartungen auf den Kopf. Kleider werden getauscht, Bettgefährten werden gewechselt, die Machtverhältnisse ändern sich im Minutentakt. Die hysterische Handlung bleibt dabei in der sozialen Wirklichkeit geerdet, der Film spannt, oft nur nebenbei, durch einen Seitenblick oder kleinen Dialogsatz, einen gewaltigen diskursiven Rahmen auf: von Auschwitz bis Vietnam, von Pornokinos bis Scientology. Cohens Filme sind grundsätzlich kommunikativ und halten wenig von falschen Subtilitäten. Alle Figuren haben Ansichten über Gott und die Welt und behalten dieselben ungern für sich. In jedem Film gibt es einige haarsträubende Auseinandersetzungen, in denen meistens sehr viel mehr auf dem Spiel steht, als nur die Bekämpfung des jeweiligen Ungetüms.


Q - The Winged Serpent von Larry Cohen © Viennale

"None of us is behaving normally", erklärt in Bone die Frau an einer Stelle und beschreibt damit nicht nur ihre aktuelle Situation, sondern im Grunde alle Cohen-Filme. Die Helden sind keine souveränen, tatkräftigen Individuen, sondern schief blickende, nervöse Typen wie Michael Moriarty, der in vier Cohen-Werken der achtziger Jahre die Hauptrolle übernimmt. In Q - The Winged Serpent ist Moriarty ein psychotischer Barpianist, der zufällig auf das Nest eines Monsters stößt, das New York aus der Luft terrorisiert. Er versucht dann auch gar nicht, die Stadt zu retten; lieber möchte er sein Wissen zu Geld machen. Die Polizei ist - auch das hat bei Cohen System - noch unsympathischer. Q ist ein Monsterfilm, der zumindest implizit die Frage stellt, ob das Monster nicht irgendwie recht hat.