Essay

Imre Kertesz über den neuen europäischen Antisemitismus

Von Imre Kertesz, Eszter Radai
16.08.2006. Ein Gespräch mit Imre Kertesz über seinen neuen autobiografischen Roman in Gesprächen "Dossier K.", die Freiheit des Irrenhauses und den europäischen Antisemitismus nach Auschwitz.
"'Dossier K.' ist mein einziges Buch, bei dem mich äußere Motive zum Schreiben bewegten: es ist eine Autobiografie, wie es sich gehört", schreibt Imre Kertesz im Vorwort zu seinem neuen Roman. In Deutschland erscheint "Dossier K." im September bei Rowohlt.

Eszter Radai: Wollen wir zuerst über die Form reden? Warum haben Sie einen Dialogroman geschrieben? Und warum eine Selbstbefragung, statt sich auf die Fragen Zoltan Hafners, Ihres ursprünglichen Gesprächspartners, einzulassen?

Imre Kertesz: Nach dem Nobelpreis wurde so viel Unsinn über mich geschrieben; Biografien wurden veröffentlicht, in denen nichts stimmte, das Gesamtbild war so falsch, dass mein ungarischer Verleger, Geza Morcsanyi, und ich beschlossen, die Irrtümer durch einen Interviewband richtigzustellen. Zoltan Hafner, ein Freund von mir, befragte mich ein Jahr lang. Als ich das dicke Manuskript irgendwo auf einer Reise, in einem Hotelzimmer bekam und meine erste Antwort las - aber wem sage ich, was für einen Quatsch Interviewte erzählen können -, schob ich das ganze Buch beiseite und begann sofort, "Dossier K." zu schreiben. Die Arbeit hat sehr gut begonnen, was bei früheren Werken selten der Fall war: eine Frage ergab sich nach der anderen, aus den Antworten resultierten immer neue Fragen.

Und Sie haben das Manuskript wirklich nicht gelesen?

Nein.

Das heißt: Alle Fragen sind Ihre Fragen.

Die Figur, die die Fragen stellt, ist Zoli Hafner gar nicht ähnlich. Wer ihn, den sanften Literaturwissenschaftler kennt, weiß es. Ich brauchte einen nervigeren, "draufgängerischen" Zoli, der die Antworten skrupellos aus mir herauskitzelt.

Sie haben Ihren eigenen Gegenpol aus sich selbst heraus geschrieben?

Er ist eigenmächtig, von selbst unter meinem Stift beziehungsweise auf meiner Tastatur entstanden.

Und wer ist es? Ein Über-Ich?

Ob er ein Über-Ich ist, weiß ich nicht. Er ist plötzlich in meinem Computer aufgetaucht, auf einmal konnte das Spiel beginnen, das Pingpong der Fragen und Antworten. "Ich" konnte ruhig vom Tisch zurücktreten, ich musste nur noch auf den Spielfluss achten, dass es uns nie an neuen Bällen, Schlägern und Spiellust mangelt ...

Schon wieder ein neues "Ich": das dritte, wenn ich mich nicht verzählt habe. Ist ein echtes unter ihnen?

Keines von ihnen ist echt. Genauer gesagt, alle drei sind echt. Gerade das musste ich verhindern, dass ein Ich dominiert, dass es "gewinnt", dann wäre das Spiel zu Ende gewesen.

Aber ist es letztendlich ein Roman oder eine Autobiografie? Wie stehen bei Ihnen Fiktion und Wirklichkeit zueinander? Im "Dossier K." schreiben Sie, aber auch sonst ist es bekannt, dass Sie nur ungern eine scharfe Grenze dazwischen ziehen.

Das kann man gar nicht. Auch wenn man sich um eine "treue" Wiedergabe der Wirklichkeit bemüht, verändert man sie genau dann, wenn das Erzählen beginnt. Den chaotisch brodelnden oder in den Winkeln unseres Bewusstseins verborgenen Erinnerungen und Erfahrungen gibt man eine Form, und je genauer man sie "wiedergeben" möchte, desto mehr muss man sie verändern. Alles ist eine Fiktion, das Leben, vor allem der Mensch selbst, ab dem Moment, in dem er sich selbst erfindet. In einem gewissen Sinne entscheidet dieser Moment alles im Leben. Mir ist das ungefähr 1955 passiert, als ich beschlossen habe, Schriftsteller zu werden. Die Fiktion begann, weil ich mich als Schriftsteller erfunden habe. Damals hatte es absolut keinen Sinn, es war eine ausgesprochen unvernünftige Entscheidung.

Hatte das eine Vorgeschichte?

Ganz und gar nicht.

Und Sie haben begonnen, Ihr eigenes Leben zu schreiben...

... zu leben und zu schreiben. Mein Leben in das eigene Leben zu verwandeln. Wie der Baron Münchhausen mich selbst aus dem Morast der Geschichte, der Massenschicksale, an den Haaren herauszuziehen. Später habe ich entdeckt, dass mich dieser Weg, der Prozess, die Fiktion am meisten interessiert, deshalb habe ich das zum Thema gewählt.

Verstehe ich Sie richtig? Sie haben sich eine Rolle in Ihrem eigenen Drama geschrieben? Nach der Entscheidung, Schriftsteller zu werden, haben Sie eine Geschichte begonnen, Ihre eigene Geschichte, und eine Figur erfunden - sich selbst -, die Ihre Werke schreibt?

So klingt es ziemlich kompliziert. Über diesen Prozess habe ich im "Galeerentagebuch" geschrieben: "Ich hatte immer ein geheimes Leben, das das echte war". Um beispielsweise den "Roman eines Schicksallosen" schreiben zu können, musste ich vorher dreizehn Jahre lang, von 1960 bis 1973, mit ihm zusammenleben. Ich habe diesen Roman dreizehn Jahre lang nicht geschrieben. Bevor ich ihn zu schreiben begann, musste ich die Lektionen lernen, die mir das Zusammenleben bereitete. Ich musste zum Beispiel über drei grundsätzliche Fragen des modernen Romans - Sprache, Zeit und Geschichte -, entscheiden. Erst nachdem ich die Sprache geschaffen hatte, war klar, dass als Form der Geschichte nicht die "Erzählung", sondern die ständige, intensive Gegenwärtigkeit geeignet ist. Die Geschichte habe ich mir als eine Art Passionsspiel mit Pflichtorten und -ereignissen vorgestellt: man wird verhaftet, ins Ghetto gesperrt, nach Auschwitz deportiert, man geht durch die übliche Selektion, kommt in ein Arbeitslager. Das sind gemeinsame Geschichten, Leidensgeschichten. Allen Opfern ist das Gleiche passiert. Die Geschichte durfte durch zufällige, einmalige, individuelle Erlebnisse nicht entstellt werden....

Im "Dossier K." schreiben Sie: das sei kitschig. Warum?

Weil Schicksallosigkeit nicht nur Titel, sondern auch Thema des Romans ist. Jede individuelle Geschichte ist kitschig, weil sie sich der Gesetzmäßigkeit entzieht. Jeder Überlebende legt Zeugnis ab von einer Betriebsstörung im Einzelfall. Ich wollte einen sachlichen, nicht gleichmütigen, aber gleichmütig scheinenden Roman schreiben. Dies trifft für all meine Romane zu: sie betrachten ihren Gegenstand mit einem gewissen Abstand. Sie sind eine als 'Autobiografie' getarnte pure Fiktion.

Ich zitiere eine Ihrer sachlichen, den Abstand wahrenden Äußerungen über Judentum und Kindheit, die für Sie "ein großes Elend" gewesen sei: "Ich wurde per Befehl Jude, ich hatte nichts, zu dem ich mich hätte bekennen können, man hat mir das Gefühl der Verantwortung geraubt"...

... ja, das wunderschöne Gefühl, selbst verantwortlich zu sein. Es war unklar, was man auf sich nimmt. Nur die alltägliche Praxis war da, und jedes erlittene, unerträgliche Unrecht nahm man als Banalität, als natürliche Begleiterscheinung des Lebens, als Tag für Tag zu lösende Aufgabe wahr. In der Grundschule musste ich Klassenbester sein, ein "1A-Zeugnis" nach Hause bringen, "sonst kannst Du nicht aufs Gymnasium", hieß es. Wie Sie wissen, war es aufgrund der damals schon lange rechtskräftigen "Judengesetzen" für jüdische Schüler sehr schwer, einen Studienplatz zu bekommen. Nur die besten Schüler durften sich in einer "B-Klasse" auf das Studium vorbereiten. Diese jüdische Pflichtverhaltensnorm habe ich erlernt beziehungsweise eingeübt, aber nicht verstanden, zum Teil, weil meine Eltern gar keine gläubigen Juden waren. Wenn ich in einer orthodoxen oder einfach nur religiösen Familie aufgewachsen wäre, hätte ich meiner sinnlosen Situation von Anfang an Sinn geben können. Wenn ich ein Zyniker wäre, würde ich sagen: alles in der Welt ist eine Frage der Perspektive.

In "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" habe ich gelesen, das Wort "Jude" bedeutete für Sie lange: kahle Frau vor dem Spiegel im roten Morgenmantel.

Ich war bei Verwandten auf dem Lande zu Besuch und bin eines Morgens ins Zimmer meiner Tante gestürzt. Damals wusste ich nicht, dass orthodoxe Frauen ihre Haare rasieren und Perücken tragen. Der Anblick schockierte mich, es war wie eine Entlarvung. Da ich nicht wusste, was entlarvt wurde, hütete ich den Anblick lange wie ein großes Geheimnis, wie eine plakative Metapher des rätselhaften Wortes "Jude". Für mich war es seltsam, es hatte sozusagen keine Substanz.

Im "Dossier K." schreiben Sie: "Mich machte der Holocaust zum Juden." Viele Menschen empfinden es ähnlich, ich habe schon oft gehört: "Ich bin ein Jude, weil meine Großeltern in Auschwitz ermordet wurden." Auch Sie sagen, Sie seien "ein Jude, der nichts mit den jüdischen Lebensformen vor Auschwitz gemeinsam hat: weder mit dem archaischen noch mit dem assimilierten Juden, noch mit dem Zionisten oder mit Israel." Würden Sie mehr darüber sagen?

Das ist nicht einfach. Um meine Situation klar sehen und beschreiben zu können, musste ich zuerst die innere Freiheit erfechten, durch die das Denken über mich selbst nicht nur möglich, sondern auch unausweichlich wurde. Ich halte mich für einen Menschen mit europäischer Erziehung, wenn ich so sagen darf: mit europäischer Überzeugung, den eine tiefe Solidarität mit dem Judentum verbindet. Mit Jean Amery gesprochen: "Ich bin nur in dem Sinne Jude, dass ich zwar ... keiner bin, aber das Welturteil über die Juden kenne und anerkenne und im historischen Berufungsprozess mitwirke - erst dann darf ich das Wort 'Freiheit' aussprechen". Ich habe ziemlich früh erkannt, dass ich nicht frei werde, wenn ich meine jüdische Herkunft verleugne, das wäre eine Lebenslüge. Meine Erfahrungen in Auschwitz mit extrem religiösen oder zionistischen Ansichten zu kompensieren, wäre für mich auch inakzeptabel. Es gab viele Hintertüren und Fluchtwege, die mich alle nicht in die Freiheit geführt hätten. Der offenkundig beste Weg schien eine Zeit lang, als Mitglied der Arbeiterbewegung abzuwarten, bis das Judentum in der "klassenlosen" Gesellschaft verschwindet. Man kann viele Wege ausprobieren, aber am einfachsten ist es, wenn man die Verantwortung und die Konsequenzen seiner Herkunft auf sich nimmt.

Sie meinen, dass es den Antisemitismus immer geben wird? Sie hegen nicht die Hoffnung, dass dieses Problem irgendwann aus der Welt verschwindet?

Solange er als Problem betrachtet wird, wird er nicht verschwinden. Die zur Ermordung der europäischen Juden errichteten Todeslager der Nazis, die Gründung Israels waren neue Phänomene - beziehungsweise neue Probleme - in der Geschichte der Juden und des Antisemitismus. Auf Auschwitz gibt es keine antisemitische Antwort außer der Verleugnung des Holocaust. Anfangs war die Verleugnung des Holocaust fast lächerlich absurd; heute gilt sie als "seriöser Wissenschaftszweig". Wenn Antisemitismus in einem Land zum Staatsprogramm erhoben wird, dann wird eine offiziell unterstützte, institutionalisierte Geschichtsfälschung angewandt wie in den Einparteiendiktaturen des 20. Jahrhunderts. In demokratischen Staaten bietet die Kritik an Israel eine neue und wirksame Möglichkeit des Antisemitismus - vor allem, wenn Israel Grund zur Kritik liefert, was übrigens auch andere Staaten tun, die nicht um ihre Existenz kämpfen müssen. Eine Sprache wurde entwickelt, die ich Euro-Antisemitismus genannt habe. Für einen Euro-Antisemiten ist es kein Widerspruch, der Opfer des Holocaust in tiefer Trauer zu gedenken und im nächsten Satz, unter dem Vorwand der Israel-Kritik antisemitische Äußerungen von sich zu geben. Man hat es schon so oft wiederholt, dass es fast zum Klischee wurde: die Erinnerung an den Holocaust ist notwendig, damit er nie wieder passieren kann. Aber seit Auschwitz ist nichts passiert, was ein neues Auschwitz unmöglich macht. Im Gegenteil. Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar, heute ist es das nicht mehr. Da Auschwitz in Wirklichkeit passierte, ist es in unsere Fantasie eingedrungen, wurde ein fester Bestandteil von uns. Was wir uns vorstellen können, weil es in Wirklichkeit passiert ist, das kann wieder passieren.

Ein Zitat in "Dossier K". war sehr wichtig für mich, es trifft für alle Diktaturen zu: "Wo Auschwitz beginnt, dort endet die Logik. Zwanghaftes Denken tritt in den Vordergrund, das der Logik sehr ähnlich ist, weil es den Menschen anführt, doch nicht auf dem Weg der Logik... Absurdität scheint Logik zu sein: in der Falle von Auschwitz bleibt uns keine andere Wahl. Dieses Denken wird vorher schon eingeprägt, wir nehmen aktiv am Lernprozess teil."

Dieser absurden "Logik" zu folgen scheint in bestimmten Situationen die Voraussetzung des Überlebens zu sein. Man merkt es nicht mehr, weil man die Absurdität schon gestern, vorgestern, seit längerem für Logik gehalten hat, die Absurdität von heute folgt logisch aus der Absurdität von gestern. Man kollaboriert, in Grenzsituationen kann man gar nicht anders, aber später will man es nicht wahrhaben, später betrachtet man es, aus verständlichen psychischen Gründen, nicht als Kollaboration. In Auschwitz war es beispielsweise meistens nicht möglich zu kollaborieren. Man will leben und man hofft, obwohl die Zukunft unklar ist; und solange man hofft, geht man den einzigen Weg, der die Chance zum Überleben verspricht. Das sind auch heute herausfordernde Fragen.

In "Fiasko" beschäftigen Sie sich nicht nur mit den Opfern, sondern auch mit den Tätern...

Beide zusammen beschäftigen mich zur gleichen Zeit.

... und zitieren Baudelaire: "Ich wäre nicht nur als Opfer glücklich; auch den Henker zu spielen missfiele mir nicht." In "Fiasko" wird einem Mann die Arbeit als Wärter zuteil. Im Gefängnis schlägt er einen wehrlosen Gefangenen ins Gesicht: ist das Fiktion oder Wirklichkeit?

Das ist Fiktion, die auf Wirklichkeit beruht. 1951 wurde ich zum Kriegsdienst einberufen. Nach der "Allgemeinen Grundausbildung" wurde unsere Einheit als Wache zur Militärstaatsanwaltschaft bestellt. Wir mussten die unter Anklage stehenden Gefangenen aus dem Gefängnis zum Gericht oder zum Arbeitsplatz bringen, morgens rauslassen, abends einlassen und so weiter. In der Wirklichkeit bin ich von hier entkommen, indem ich einen Nervenzusammenbruch vortäuschte, ins Krankenhaus kam und von dort ins "Filminstitut" der Armee, wo ich Diafilme für die Weiterbildung anfertigen musste. Jahrzehnte später, als ich mich in "Fiasko" mit der "ästhetischen Vermittelbarkeit der Gewalt" beschäftigte und mich nicht nur für die Psychologie des Opfers, sondern auch des Täters, des "Henkers", interessierte, forderte die Romanhandlung von mir, dass ich meinen Protagonisten einer extremen Situation aussetze. Ich musste die Vorgeschichte der ersten Tat eines Massenmörders schildern, den Anfang eines Lebenswegs vorstellen, der - in einem totalitären Staat, in einer Diktatur - zur Ermordung von dreißigtausend Menschen führt. Dieser Mensch ist kein Monster, kein geborener sadistischer Mörder, im Gegenteil: er wurde in der humanistischen Tradition der europäischen Kultur erzogen, aber in einer bestimmten Situation widersetzt er sich seinem inneren Gefühl, er verleugnet sich selbst und tut etwas, was er aus eigener Überzeugung als freier Mensch nie tun würde. In einer Situation, in der er sich nicht mehr zurechtfindet, in der sich die natürliche Kontinuität seines Lebens auflöst, überlässt er seine ihm zur Last gewordene Persönlichkeit der totalitären Macht.

Das nennen Sie Zustand der Gnade?

Ja, im Zustand der Gnade ist man bar der Verantwortung, die man für seine eigene Person trägt. Als Teilstück eines geschlossenen Machtsystems muss man seine Taten, sein Leben nicht mehr interpretieren. Es bedarf einer längeren Analyse, hier kann ich nur so viel sagen: Die Wende zeigte, dass geschlossene Gesellschaften eine bestimmte Anziehungskraft haben. Die Weite der Freiheit löst erst einmal Höhenangst aus.

Im "Dossier K." schreiben Sie: "Ich weiß nicht, ob der Druck, unter dem ich leben und schreiben musste, für mein Werk nützlich war. Bücher wie der 'Roman eines Schicksallosen' oder 'Fiasko' hätten unter gesunden Verhältnissen vielleicht gar nicht geschrieben werden können." Um den bekannten Begriff aus dem "Roman eines Schicksallosen" zu zitieren: Haben Sie Heimweh?

Heimweh habe ich bestimmt nicht. Aber die endgültige Antwort auf diese ungeheuer schwere Frage - wie viel ich der Unterdrückung zu verdanken habe -, weiß ich immer noch nicht. Es war die Freiheit des Irrenhauses, aber es war Freiheit, in gewissem Sinne, in einer perversen Art und Weise; es war die Freiheit der Unterdrückten und Ausgelieferten, ein Zustand, in dem man ganz andere, in der echten Freiheit unvorstellbare und unmögliche Bemerkungen und Erfahrungen gemacht hat. Das verlangte nach einer spezifischen Darstellungsweise der Wirklichkeit - der man ausgeliefert war, die man niemals bewegen, nur ertragen konnte. Der enorme Druck ließ die Phantasie und die Sprache frei, ließ eine neue Anschauungsweise entstehen, die da drin, im Irrenhaus als wahr und authentisch zu sein schien. Aber was passiert, wenn der Druck nachlässt, wenn man nicht mehr von Mauern umgeben wird? Ich musste den Versuch unternehmen, ob ich auch ohne Druck existieren kann, das heißt: ob ich an den Diktaturen erkrankte, deformiert wurde, ob mir die Fähigkeit des freien Atmens abhanden gekommen ist, oder im Gegenteil: vielleicht haben mir diese Terrorsysteme gerade geholfen, weil sie mich gezwungen haben, meine schöpferische Kraft, meinen Stil, die Lust zu Schreiben zu entfalten. Es war wichtig, in Erfahrung zu bringen, ob ich auch als freier Mensch Romane schreiben kann.

Vor drei Jahren haben Sie mir über das Leben eines Schriftstellers gesagt: "Ein bisschen verloren muss man dazu schon sein."

Man schafft es nicht, ohne ein wenig verloren zu sein. Meine letzten beiden Romane haben viel mehr Frohsinn, Humor und Spiel, als ich mir in der Diktatur erlaubt hätte. Es war sehr wichtig, in Erfahrung zu bringen, bis wohin die Wurzeln meiner Kunst reichen, worauf sie Halt finden. Diese ziemlich skrupulöse Rechenschaftslegung war notwendig, um mich überhaupt an den Schreibtisch setzen zu können. Mit diesen zwei letzten Büchern, "Liquidation" und "Dossier K.", habe ich zumindest für mich selbst bewiesen, dass ich - mit Laurence Sterne gesprochen - "von meinen Leiden Gebrauch gemacht habe".

Das Gespräch erschien erstmals am 28. Juli 2006 in der ungarischen Wochenzeitung Elet es Irodalom.

Aus dem Ungarischen von Gabriella Gönczy.