Efeu - Die Kulturrundschau

Melancholie eines nächtlichen Grabstättenbesuchs

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2024. Die taz sucht auf der Biennale nach dem iranischen Pavillon und findet nur ein Phantom. Backstage Classical beäugt skeptisch die Entourage der Klassiklegende Justus Frantz, der wohl kein Problem hat mit Rechts- wie Linkspopulisten das Glas zu heben. Die FAZ singt "Es lebe der Zentralfriedhof" - allerdings findet sie bei Herbert Fritschs neuem Stück in Wien keine makabre Friedensutopie wieder. Die NZZ fragt, ob wir uns dank KI bald mit Romanen unterhalten können.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Jonathan Guggenberger begibt sich bei der Biennale in Venedig mal etwas abseits der zentral liegenden Pavillons, weil er wissen will: Was ist eigentlich mit dem Iran? Statt der geplanten Ausstellung "Of One Essence is the Human Race" mit Malereien der "hier unbekannten iranischen Künstler Abdolhamid Ghadirian, Gholamali Taheri oder Mostafa Goudarzi, findet man dort nur eines: Protestplakate. Auf Farsi, Englisch und Italienisch ist zu lesen: 'Die Islamische Republik Iran entschuldigt sich bei der Biennale für die verspätete Eröffnung des Pavillons. Wir haben unseren Flieger verpasst, da Israel uns bombardiert und wir sehr beschäftigt sind damit, das iranische Volk zu verfolgen.'" Die Plakate stammen vom iranischen Kollektiv "Woman, Life, Freedom", das die Biennale auch zum Boykott der Islamischen Republik aufrief, weiß Guggenberger, die Leitung der Biennale kam dem nicht nach. Überhaupt weiß niemand so richtig, was jetzt eigentlich mit dem Pavillon los ist, zur offiziellen Eröffnung findet der Kritiker nur verwirrte Gäste, aber keinen Pavillon: "Der Iran scheint in Venedig ein blinder Fleck zu sein. Während seit Tagen über den aus Protest geschlossenen Pavillon Israels berichtet wird, will von der dubiosen Präsenz und dann wieder Nicht-Präsenz des theokratischen Regimes auf der Kunstbiennale niemand Kenntnis nehmen. Die Aktivisten von ANGA rufen lautstark zur 'Intifada' gegen ihren Erzfeind Israel auf, zum Iran aber schwiegen sie."

Außerdem: In der Berliner Zeitung macht sich Ingeborg Ruthe auf die Suche nach Jean Ipoustéguys Skulptur "Ekbatana", dem "eisernen Maschinen-Menschen" vor dem Berliner ICC. Ebenfalls dort schreibt Mathias Bertram einen Nachruf auf den Galeristen Norbert Bunge. Im Tagesspiegel gratuliert Christiane Meixner dem "Gallery Weekend" Berlin zum Zwanzigjährigen Jubliäum. Besprochen wird die Ausstellung "Michael Wesely. Berlin 1860-2023" im Museum für Fotografie Berlin (FAZ).
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Literatur

Mal eben ein Schwätzchen mit Ishmael über Herausforderungen beim Walfang halten? Auf die Schnelle Tipps für eine Soirée beim großen Gatsby einholen? Oder den nächsten Survivalurlaub gemeinsam mit Robinson Crusoe planen? KI soll's wohl möglich machen, schreibt Adrian Lobe (online nachgereicht) in der NZZ über die Versprechungen, mit denen das Startup YouAI von sich reden macht. "In Zukunft, so die Vision, liest man Bücher nicht, sondern spricht mit ihnen." Dieses "Format könnte über die bloße Wiedergabe von Inhalten hinausgehen. So wäre es vorstellbar, über die Chatfunktion hinaus bezahlpflichtige Elemente auszuspielen: Leser, die ein Abo abschließen, könnten dem Helden der Geschichten Fragen stellen, die im Buch nicht beantwortet werden: Was ging dir in der Situation durch den Kopf? Liebst du sie wirklich? Dies könnte das Schreiben verändern: Der Autor müsste Cliffhanger einbauen oder ausreichend Material zurückbehalten. Das Buch wäre nicht mehr das Endprodukt, sondern lediglich ein 'Vorabdruck', eine vorläufige Version, die durch Dialoge und Reflexionen fortgeschrieben würde."

Benjamin Quaderer erzählt auf Zeit Online die Geschichte des Bergmanns und begeisterten Büchermenschen Bruno Schröder, der sich Zeit seines Lebens in seinem Einfamilienhaus gemeinsam mit seiner Ehefrau eine etwa 70.000 Bücher umfassende Privatbibliothek aufgebaut hat. Quasi einen ganzen Schrein hat er seinem Lieblingsautor Arno Schmidt gewidmet, der ähnlich in Büchern einsiedelte wie er. "Schmidt hat seinen idealen Leser einmal als gebildeten Handwerker beschrieben. Ein Handwerker ist Bruno Schröder zwar nicht, aber er kommt diesem Ideal schon sehr nah. Es scheint fast, als wäre der eine für den anderen nicht nur der perfekte Autor, sondern der andere für den einen auch der perfekte Leser gewesen. Bruno Schröder hat Bargfeld weder besucht noch hat er versucht, in irgendeiner Form mit Arno Schmidt in Verbindung zu treten. Die Verbindung war auch ohne direkten Kontakt da. Ohne mit jemandem darüber zu sprechen, hat Bruno Schröder seinem Lieblingsautor in aller Stille ein Denkmal gebaut. Ich maße mir an, zu sagen: Arno Schmidt hätte sowohl das Ausmaß der Bewunderung als auch das Ausmaß der Zurückhaltung Bruno Schröders sehr gut gefallen."

Weitere Artikel: Für die Welt spricht Marie-Luise Goldmann mit der Schriftstellerin Andrea Palluch über die TV-Verfilmung des Romans "Hauke Haiens Tod", den sie gemeinsam mit ihrem Mann, Wirtschaftsminister Robert Habeck, geschrieben hat. Besprochen werden unter anderem Pirkko Saisios "Gegenlicht" (taz), Guillaume Apollinaires "Briefe an Lou" (NZZ), Natasha Tretheweys "Memorial Drive" (SZ) und Susan Sontags Essaysammluzng "Über Frauen" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Axel Brüggemann, dem schon in der Vergangenheit einige wertvolle Recherchen zu verdanken waren, setzt sein neues Online-Magazin BackstageClassical mit einer neuen Recherche auf die Karte: Bei den Hamburger Salons des Pianisten und insbesondere in den Achtzigern berühmten Klassiklegende Justus Frantz heben Rechts- wie Linkspopulisten samt Putintreuen gemeinsam das Glas. Fotos davon teilt Frantz freimütig auf Social Media, Brüggemann hat genau hingesehen, wer da mit wem im Zeichen von Kunst und Kultur am Klönen und Netzwerken ist. "Was viele der Anwesenden verbindet ist ihre Sympathie für Russland und Vladimir Putin und ihre Kritik an der aktuellen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ist das die neue Normalität der deutschen Bürgerlichkeit? ... Zwischen Rechtspopulist Roger Köppel und Linkspopulistin Sahra Wagenknecht sitzt Alexander von Bismarck." Der Großneffe Otto Bismarcks "war Gast beim Geheimteffen zur 'Remigration' in Potsdam mit dem rechtsradikalen Zahnarzt Gernot Mörig in der Villa Adlon und steht damit der Identitären Bewegung nahe." In der Mitte des Bildes sitzt Kulturmanager Hans-Joachim Frey, dessen "Netzwerk heute Wirtschaftsführer und AfD-Bundestagsabgeordnete vereint. ... Inzwischen hat er sich ganz für eine Karriere in Russland entschieden. 2021 nahm er die russische Staatsbürgerschaft an und leitet heute das Konzerthaus in Putins Ferienressort Sotschi. Der deutsche Kulturmanager ist gern dabei, wenn westliche Künstlerinnen oder Künstler - auch nach Ausbruch des Krieges - in Russland auftreten."

Weitere Artikel: Die Ästhetik des Spiritual Jazz feiert in jüngsten Jahren ein erstaunliches Comeback, beobachtet Ljubiša Tošić im Standard, sodass ihm "scheint: In spirituell angehauchten Jazz verschmelzen Sinn- und Gottsuche abseits der etablierten Weltreligionen mit der Absicht, die eigene Identität auch durch Entdeckung afrikanischer Wurzeln zu finden." Corina Kolbe porträtiert in der NZZ das Jewish Chamber Orchestra Munich. Jean-Martin Büttner geht in der NZZ der auch über 30 Jahre nach seinem Tod anhaltenden Faszinationskraft von Freddie Mercury nach. Nicholas Potter stimmt in der taz auf die Deutschlandtour der Berliner Punkband ZSK ein. Taylor-Swift-Fans feiern ihren Star als "Business-Genie", berichtet Mathis Raabe in der taz. Für Zeit Online porträtiert Tobias Lentzler den Entertainer Bernd Begemann, der einst die "Hamburger Schule" gegründet hat, und sich nun nach neun Jahren Albumpause mit "Milieu" zurückmeldet.



Besprochen werden das neue Album von Sbabazz Palaces ("jenseits von jedem und radikal eigensinnig", schwärmt Benjamin Moldenhauer im ND), ein Konzert des Bayerischen Symphonieorchesters unter Simon Rattle in Frankfurt (FR), Konzerte des Kyiv Symphony Orchestra in Berlin (SZ) und das neue Album "Ghosted II" des Experimenta-Trios Oren Ambarchi, Johan Berthling und Andreas Werliin (tazlerin Luise Wolf gibt sich der "flimmernden Weite" darauf hin).

Archiv: Musik
Stichwörter: Populismus

Film

Das Internationale Frauen Film Fest widmete sich in Köln in diesem Jahr dem Thema "Rage & Horror", berichtet Silvia Hallensleben in der taz. Die "Re-Aktivierung der dem Weiblichen entweder per Natur abgesprochenen, sozial abtrainierten oder als unangemessen sanktionierten und pathologisierten negativ aufbrausenden Gefühle ist unter FrauenrechtlerInnen schon seit dem 17. Jahrhundert ein Topos. Im Kino wurde es besonders lustvoll und unverblümt im frühen von Konventionen noch ungeschliffenen Stummfilm der Vorkriegszeit ausagiert ... So setzt sich in 'The Dairymaid's Revenge' von 1899 (Regie: Frank S. Armitage) eine junge Milchmagd gegen die Belästigung durch einen Kollegen oder Chef mit einer erst durch das Ende des Films gestoppten Serie kübelweise über seinen Kopf gekippter und zu einem See wachsender Milch zur Wehr. ... In 'La paresse de Polycarpe' (Regie: Ernest Servaès, 1914) knockt eine stattliche Matrone immer wieder ihren untätigen Ehemann aus, der bei jeder der ihm aufgetragenen kleinen Verrichtungen im Haushalt stante pede einschläft. Weibliche Durchsetzungsfähigkeit oder eine invertierte Version häuslicher Gewalt?"



Außerdem: Im Filmdienst spricht Komponist Lorenz Dangel über seine Musik für Matthias Glasners neuen Film "Sterben", in dem eine Komposition selben Namens eine tragende Rolle spielt. In einem Radioessay für den Dlf erinnert Thekla Dannenberg daran, wie Siegfried Kracauer im Kinosaal die Arbeiterinnen entdeckte - so wie auch das Kino selbst die Arbeiterinnen als Thema entdeckte. In der FAZ gratuliert Axel Weidemann Michael Moore zum 70. Geburtstag. Besprochen werden Park Chan-wooks Sky-Serie "The Sympathizer" (Freitag, mehr dazu bereits hier) und die auf UniversalTV gezeigte Serie "The Spencer Sisters" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Zentralfriedhof" am Volkstheater Wien. Foto: Matthias Horn.

"Es lebe der Zentralfriedhof!, singt FAZ-Kritiker Simon Strauß in Einstimmung auf Herbert Fritschs neues Stück am Wiener Volkstheater. Während Wolfgang Ambros damals noch "die Melancholie eines nächtlichen Grabstättenbesuchs auf sympathisch-mitreißende Weise mit der engagierten Utopie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" verband, wie Strauß weiß, zieht Fritsch angesichts politischer Desillusionierung "keine moralischen Schlüsse" mehr: "Deshalb, als letzte Hoffnung: das freie, stumme Spiel. Fritsch hat sich bei seinem Friedhofsbesuch vor allem in die Totengräber verliebt, jene sagenumwobene Berufsgruppe, für die das letzte Geleit zu geben tägliche Verpflichtung ist. Bei Fritsch treten die Bestattungshelfer als komödiantische Combo auf, als elfköpfiges Ensemble, das sich dem Tod so widmet, als wäre er nur eine Seite der Medaille. Und auf der anderen stünden: ausgelassenes Leben, verrückte Zufälle und überbordende Spiellust.Geweint und geschluchzt wird an diesem Abend daher auch kein bisschen, stattdessen hört man viel Gehüstel, Geplapper und Gelächter."

Außerdem: Nachtkritikerin Laura Strack berichtet vom lautstarken Protest der Italiener gegen die undemokratisch entschiedene Einsetzung des umstrittenen Kandidaten Luca De Fusco als Intendant der Stiftung"Teatro di Roma". Tom Mustroph war für die taz beim Theaterfestival "FIND" an der Schaubühne in Berlin, für die Nachtkritik berichtet Esther Slevogt. Ebenda denkt Wolfgang Behrens darüber nach, was es bedeutet, wenn schon produzierte Theaterstücke nicht auf die Bühne kommen. Im Welt-Interview mit Marie-Luise Goldmann unterhält sich Andrea Paluch, die Frau von Robert Habeck, über deren gemeinsames Romanprojekt "Der Schimmelreiter/Hauke Haiens Tod", das bald am Deutschen Theater Berlin zu sehen sein wird.

Besprochen werden eine Kombiinszenierung der Opern "Ohne Blut" von Péter Eötvös und "Herzog Blaubarts Burg" von Béla Bartók am Theater Osnabrück, inszeniert von Ulrich Mockrusch (FAZ), Luk Percevals Shakespeare-Projekt "Rom" am Volkstheater Wien (SZ), Tiago Rodrigues Inszenierung des Stücks "Catarina und von der Schönheit Faschisten zu töten" am Schauspiel Frankfurt (Welt), Reinhard Hinzpeters Inszenierung von Ingeborg Bachmanns "Das dreißigste Jahr" am Freie Schauspiel Ensemble Frankfurt (FR) und Adel Abdessemeds Inszenierung von Olivier Messiaens Oper "Saint François d'Assise" am Grand Théâtre de Genève (NZZ)
Archiv: Bühne