Efeu - Die Kulturrundschau

Der Mensch ist nichts, der Staat ist alles

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06.06.2023. In der Berliner Zeitung erzählt der russische Regisseur Artur Solomonow, wie er dem traurigsten Publikum seines Lebens begegnete. Die NZZ liest George Orwell in China. Der Guardian stürzt sich mit Chris Ofilis "Sieben Todsünden" in den reinsten Bilderrausch. Die SZ  erzählt, wie die Schauspielerin Merve Dizdar in der Türkei zur Verräterin gestempelt wird, weil sie in Cannes ein paar feministische Worte wagte. Außerdem schwant ihr, dass Groupietum schon immer Unterdrückung war.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.06.2023 finden Sie hier

Kunst

Chris Offili: The Swing, 2020-2023. Bild: Victoria Miro

Dem Guardian-Kritiker Adrian Searle gehen die Augen über. Die Victoria Miro Gallery zeigt in London den neuen Zyklus "The Seven Deadly Sins" des britischen Künstlers Chris Ofili, und Searle kann sich an den grandiosen Bildern kaum satt sehen: "Wenn man diese neuen Gemälde betrachtet, gleitet der Blick und driftet, er versucht sich festzuhalten, rutscht aber immer weiter und wird unter die Oberfläche gezogen, von Strömungen und Unterströmungen erfasst und herumgeschleift. Ofili fängt den Blick ein und macht den Akt des Sehens bewusst. Bridget Riley tut dies ebenfalls, allerdings auf eine ganz andere Weise. Jede Markierung, jeder Punkt oder jede gewundene Linie in Ofilis Gemälde ist beabsichtigt, das Ergebnis einer bewussten Berührung oder einer Reihe von Berührungen. Jeder Zentimeter schreit nach Aufmerksamkeit. Obwohl reich und dicht, sind die meisten dieser Werke dünn, fast durchsichtig gemalt, bis sich plötzlich in einem Bild, das an Fragonards Rokoko-Schaukel erinnert, der Schwenk zu einer dick aufgetragenen, geronnenen Opazität vollzieht. 'Die Sieben Todsünden' sind Gemälde in ständigem Übergang: zwischen Oberfläche und Tiefe, Figur und Blattwerk, Licht und Dunkelheit, zwischen Mythologie und Religion, dem Sakralen und Profanen."

Weitere Artikel: FAZ-Autor Marc Zitzmann streift in der Nuit blanche durch das Paris der Kunst. In der FR schreibt Ingeborg Ruthe zum Tod des Düsseldorfer Konzeptkünstlers Hans-Peter Feldmann, in der SZ Peter Richter.
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Film

Dass die in Cannes ausgezeichnete, türkische Schauspielerin Merve Dizdar sich in ihrer Dankesrede feministisch äußerte, wird ihr nun in ihrem Land von wutschäumenden Männern krumm genommen, berichtet Raphael Geiger in der SZ: "Ein falsches Wort, und du bist der Feind, eine Verräterin. In Dizdars Fall ... ging es um einen sehr türkischen Vorwurf: Du hast im Ausland schlecht über uns geredet." Die Angriffe "erzählen davon, wie sich die politische Polarisierung inzwischen gegen die Realität richtet. Eine Schauspielerin, die kritische Gedanken ausspricht, kann keine gute Schauspielerin sein. Die Menschen im Erdoğan-Lager schauen ihre eigenen Serien und Filme, abgekoppelt von der türkischen Kultur, zu der Künstlerinnen wie Merve Dizdar gehören. Fern von Regisseuren wie Nuri Bilge Ceylan, von Autorinnen wie Elif Shafak oder dem Pianisten Fazıl Say. All sie sind keine Fans des wiedergewählten Präsidenten. Weswegen ihnen manche von dessen Fans sogar vorwerfen, sie seien keine echten Türken."

Weiteres: Vor 90 Jahren wurde in den USA das erste Autokino eröffnet, erinnert Arno Widmann in der FR. Besprochen werden Laura Citarellas "Trenque Lauquen" (taz, mehr dazu bereits hier), Ti Wests Horrorfilm "Pearl" (SZ, hier unsere Kritik), der ukrainische Animationsfilm "Mavka - Hüterin des Waldes" (Filmdienst, mehr dazu hier), Bettina Blümners und Ronald Vietz' Kuba-Filme "Vamos a la Playa" und "Ernesto's Island" (ZeitOnline) und Saara Saarelas "Memory of Water" (Filmdienst).
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Bühne

In der Berliner Zeitung interviewt Aleksander Polozov den russisch-israelischen Regisseur Artur Solomonow, dessen Stück "Wie wir Josef Stalin beerdigten" jetzt auch im Berliner Theater im Palais gezeigt wird. Es geht darin um eine Theatertruppe, die verzweifelt versucht, ihr Anti-Stalin-Stück vor den Eingriffen des Präsidenten zu retten. In Moskau hatte es zu Kriegsbeginn Premiere, wie Solomonow erzählt: "Alle Beteiligten - die Schauspieler, der Regisseur, die Theaterleitung - waren schockiert, deprimiert, verwirrt. In diesem Moment war nicht klar, ob es moralisch richtig wäre, die Premiere stattfinden zu lassen. Wir entschieden uns, zu spielen. Am Tag der Premiere war der Saal gefüllt mit dem traurigsten Publikum, das ich je gesehen habe. Als die Aufführung zu Ende war, sprachen Zuschauer die Schauspieler an und sagten, sie seien schockiert gewesen, als sie von der Bühne hörten: 'Der Staat braucht Leichen! Er will die Toten! Der Mensch ist nichts, der Staat ist alles!' - Diese Sätze waren nicht die wichtigsten im Stück, als wir mit den Proben begannen. Aber das Leben selbst hat diese schrecklichen Akzente gesetzt."

Weiteres: Beglückt berichtet Jan Brachmann in der FAZ, dass ein Berliner Antiquar auf acht bisher unbekannte frühe Arien des Komponisten Christoph Willibald Gluck gestoßen ist. In der Nachtkritik erkundet Dorte Lena Eilers, Professorin für Kulturjournalismus, die Lage an den Münchner Kammerspielen und beantwortet jede Aussage von Intendantin Barbara Mundel zu stadtpolitischen Interventionen, Diversity und Klassismus mit einer Frage. "Dennoch scheint es, als würden sich die Kammerspiele in den Widersprüchen derzeit eher noch verhaken, anstatt sie auf die Bühne zu bringen. In die Konfrontation, sagt Mundel, könne man ja nur gehen, wenn man ganz genau wisse, worin sie besteht. Muss man es so genau wissen? Oder lässt es nicht gerade das Theater zu, Beobachtungen, Haltungen, Diskurse offen zu lassen?"

Besprochen werden die Bühnenfassung von Nino Haratischwilis Variation "Phädra, in Flammen" am Berliner Ensemble (die zum Ärger von FAZ-Kritikerin Irene Bazinger Euripides' Drama zur Geschichte einer privilegierten Frau in der Midlife-Crisis vereinfache), von Hengameh Yaghoobifarahs Roman "Ministerium der Träume" am Staatstheater Kassel (FR), Ewelina Marciniaks "Tove-Projekt am Frankfurter Schauspiel (das SZ-Kritiker Egbert Tholl zufolge Tove Ditlevsens Autobiografie verheerend glättet), René Polleschs Bühnensause "Mein Gott, Herr Pfarrer!" an der Berliner Volksbühne (taz) und Auftritte unter anderem von Lise Davidsen bei den Festspielen in Bergen (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Matthias Sander traut in der NZZ seinen Augen nicht, als er in Shenzhen eine Buchhandlung besucht: George Orwells "1984" ist dort nicht nur nicht verboten, sondern gilt für viele gar als Klassiker und Buchläden bieten es mitunter meterweise an. Ins Chinesische übersetzt wurde das Buch 1979, allerdings nur zu internen Zwecken. Erst 1988 kam es in den Handel. "Natürlich ist China heute nicht der düstere Terrorstaat aus '1984', dem keine Regung seiner Untertanen entgeht. Wenn man genug Geld hat, viele Dinge ignoriert oder sich gefallen lässt, und wenn man überdies noch einen ausländischen Reisepass als Rückversicherung hat, dann kann man hier materiell gut leben. Ein solcher chinesischer Freund sagte mir denn auch, '1984' habe überhaupt nichts mit China zu tun, schließlich habe Orwell das Buch als Kritik an der Sowjetunion geschrieben. Diese Begründung erklärt teilweise, warum das Buch nicht verboten ist. Es gehe ja gar nicht um China, sondern um die imaginäre Diktatur Ozeanien, können chinesische Verleger gegenüber den Zensoren argumentieren." Dabei begegnen Sander "fast täglich mehr Parallelen zwischen '1984' und China."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Auf den durch einen euphorischen Tweet ausgelösten Bestseller-Hype um Amal El-Mohtars und Max Gladstones Science-Fiction-Roman "Verlorene der Zeiten" ist auch Nele Pollatschek reingefallen, gesteht die Schriftstellerin in der SZ: Das Buch entpuppte sich als "leider sehr extrem schlecht". In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein daran, wie Alessandro Manzoni 1810 in Paris in eine Massenhysterie geriet. Tilman Spreckelsen schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Germanisten Heinz Rölleke.

Besprochen werden Olga Tokarczuks "Empusion" (Standard), Peter Sloterdijks Essay "Die Reue des Prometheus" (Standard), Anne Berests "Die Postkarte" (taz), José-Luis Bocquets und Catel Mullers Comic "Alice Guy - Die erste Filmregisseurin der Welt" (Filmdienst), Nell Zinks "Avalon" (FR), Ivna Žics Essays "Wahrscheinliche Herkünfte" (NZZ), eine Neuauflage von Matthias Schultheiss' Bukowski-Comicadaption aus den Achtzigern (Tsp), Hans Joachim Schädlichs Erzählungsband "Das Tier, das man Mensch nennt" (FAZ) und eine Ausstellung der französischen Comic-Zeichnerin Catherine Meurisse im Museum Tomi Ungerer in Straßburg (FAZ).
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Musik

Die aktuellen Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann mit ein paar Beispielen aus der komplexen und uneindeutigen Geschichte der Groupies wegzuwedeln, die gezielt mit Rockstars ins Bett gegangen sind, geht an der Sache völlig vorbei, meint Joachim Hentschel in der SZ: "Es gibt eine sehr banale und eine etwas kompliziertere Entgegnung darauf. Die banale: Die Beispiele, in denen alles gutging, wiegen niemals die Fälle auf, in denen jemand verletzt oder zerstört wurde. Die komplexere: Die Historie des Groupietums war in Wahrheit immer auch eine Geschichte der Unterdrückung. Daran ändern auch all die Lichtgestalten und Hippie-Prinzessinnen nichts, aus deren Selbstbewusstsein man den Opfern nun den metaphorischen Strick zu drehen versucht."

Bereits im Jahr 2020 nutzte Lindemann für seine Solo-Shows Videos einschlägigen Charakters, die offenbar in jenem Raum unter der Bühne entstanden sind, in dem sich der Sänger vor Konzerten und in Pausen angeblich von dazu bestellten Fans oral befriedigen ließ, schreiben Julia Lorenz und Dirk Peitz auf ZeitOnline. Ihre Recherchen unter Frauen, die hinter und unter die Bühne geladen wurden, zeichnen derweil ein uneindeutiges Bild: Einige sprechen von einvernehmlichem Sex, andere lehnten ab, was Lindemann respektiert habe. Doch "auch wenn die schwersten Vorwürfe gegen Lindemann sich nicht bestätigen sollten, werfen die Schilderungen selbst der Frauen, die Spaß auf den Partys gehabt haben wollen, komplizierte Fragen auf. Wie plausibel ist hier der Vorwurf des Machtmissbrauchs - wenn es doch genau das Spiel mit Dominanz und Unterwerfung ist, das viele Fans von Rammstein offenkundig anzieht? Kann es ein Spiel zwischen solch ungleichen Parteien, wie es der Rockstar und seine Fans nun mal sind, überhaupt geben? Und wie viel von dem, was Lindemann nun vorgeworfen wird, hätte sich vorausahnen lassen, durch klassische Exegese seiner Texte als Musiker und Lyriker - oder auf anderem Wege?"

In einem eindrücklichen und intensiven Youtube-Video erzählt die Influencerin Kayla Shyx von ihren mulmigen Erfahrungen bei einem Rammstein-Konzert:



Jürgen Kaube amüsiert sich im FAZ-Kommentar darüber, dass der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der sich nun von Lindemann insbesondere auch wegen eines vor drei Jahren vom Boulevard ausgeschlachteten Porno-Musikvideos getrennt hat, von eben jenem Video all die Zeit nichts gewusst haben will und auf öffentlich geäußerten Zweifel daran mit Anwaltsschreiben reagiert. "Sollte es im weitverzweigten Netzwerk des früheren Verlegers und der jetzigen Verlegerin wirklich niemanden, aber auch gar niemanden geben, der ab und zu in die Bild-Zeitung schaut und ihnen schreibt? ... Sind alle schon so abgebrüht? Und sollen wir glauben, Helge Malchow habe seinen Verlag ganz welt- und prominenzabgewandt geführt, ohne Ohr für den Boulevard, ohne Leute, die ihm Tratsch zutragen, ohne Google-Alert für Neues von Till Lindemann, sondern ganz aufs lyrische und verlegerische Ich konzentriert. So elfenbeinern kam uns der Verlag bislang gar nicht vor."

Besprochen werden das neue Album der Sparks (Es "strotzt wieder vor musikalischem Witz", freut sich Hanspeter Künzler in der NZZ), ein von Michael Tilson Thomas dirigierter Mahler-Abend des Tonhalle-Orchesters in Zürich ("Das Publikum feiert Tilson Thomas und das Orchester für diese Mahler-Sternstunde zu Recht mit Ovationen", jubelt Christian Wildhagen in der NZZ), ein französischer Liederabend in Berlin mit Natanaël Lienhard und Jacob Bussmann (FR) und Lola Youngs Debütalbum "My Mind Wanders and Sometimes Leaves Completely" (taz).
Archiv: Musik