Efeu - Die Kulturrundschau

Grün Reden und grau Bauen

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10.05.2023. In der taz erinnert der türkische Künstler Viron Erol Vert an jenen fatalen Moment, als Recep Tayyip Erdogan die Wirkung der Kunst verstand. Die taz empfiehlt auch dringend die Ausstellung zu ukrainischer Kunst im Dresdner Albertinum. Die SZ würde nach Eröffnung des Hamburger Architektursommers am liebsten einen Baustopp verhängen, und zwar für immer. In der NZZ betont Sergei Gerasimow, dass es die russischsprachigen Städte im Osten der Ukraine waren, die die russische Armee aufhielten. Und die taz windet sich bei Roger Waters' Konzert in Hamburg, das auf billigsten Plätzen über hundert Euro kostete.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.05.2023 finden Sie hier

Kunst

Man weiß gar nicht, was man zitieren soll, so spannend ist das Gespräch, das Sophie Jung in der taz mit den KünstlerInnen Silvina Der Meguerditchian, Viron Erol Vert und Pinar Öğrenci über die Kunst in der Türkei führt, über die harten Repressionen und die Zerstörung alter Stadtviertel durch Investoren. Meguerditchian etwa erinnert immer wieder an den inhaftierten Mäzen Osman Kavala, dessen Kunsthaus Depo kritischer Kunst Raum gab. Vert erzählt dagegen von einem aufschlussreichen Moment: "2013 nahm ich an einer Parallelausstellung zur Istanbul Biennale teil und wollte meine Arbeit im Garten einer griechisch-orthodoxen Kirche zeigen. Aber aus Furcht vor Repressalien wurde mir abgesagt und ich installierte sie dann als eines von wenigen Kunstwerken während der Biennale in einem (halb-)öffentlichen Raum auf dem Schulhof des Zografiyon Gymnasiums in Galata. Ich glaube, die Politik hatte, wie viele Menschen außerhalb der Kunstszene, bis 2013 nicht verstanden, was es bedeutet, wenn Kunst an einem öffentlichen Ort stattfindet, dass sie ihn verändern kann. Jetzt reagieren die Leute harsch."

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Dringend empfiehlt Julia Hubernagel in der taz auch die erste große Ausstellung zu ukrainischer Kunst in Deutschland im Dresdner Albertinum, die Dystopisches, Widerständiges und Feinfühliges von 1912 bis heute versammele: "Das seltsamste Bild der Ausstellung ist auch das einzige, das nicht genau datierbar ist. Vermutlich 1986 oder -87 aquarellierte der Gründer der Odessaer Konzeptualisten Serhiy Anufrijew einen 'Agenten' auf Stoff, auf allen drei Plätzen eines Treppchens gleichzeitig sitzend. Mit einem spitzbübischen Lächeln wringt er Wolken aus. Obwohl Anufrijew seinen Agenten nur wenige Jahre in die Zukunft versetzt - mit 1998 ist das Bild signiert - lässt er ihn unwissentlich in einer neuen Weltordnung auferstehen. In den 90er Jahren schlüpft aus der zerspringenden Hülle der Sowjetunion das neue Russland."
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Architektur

Wirklich inspirierend findet SZ-Kritiker Till Briegleb den Hamburger Architektursommer, der in diesem Jahr ganz unkuratiert sein eigenes Thema gefunden hat: Erhalten und umnutzen. Schon zur Eröffnung verkündete Benjamin Foerster-Baldenius vom Berliner Büro raumlabor: "Meine Damen und Herren, Sie müssen alle aufhören zu bauen. Nicht nur eine Zeit lang, sondern für immer." Und so ging es weiter, freut sich Briegleb: "Nicht spektakuläre Architektur oder raumgreifende Stadtentwicklung dominiert den Chor der Beiträge, keine Fortsetzung des grün Redens und grau Bauens. Die überwältigende Mehrheit der Programmpunkte befasst sich mit dem Sichtbarmachen bestehender Stadtqualitäten, der Erneuerung durch vorsichtige Eingriffe oder der besseren Verwendung öffentlichen Eigentums. Die Verwandlung brach gefallener Kaufhäuser, Parkhäuser und Kirchen sind die Themen, die das bürgerliche Engagement reizen, oder das Verteidigen identitätsstiftender Orte gegen absurde Großprojekte von Stadt, Bahn und Privatinvestoren."
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Literatur

Die NZZ bringt ein Update aus Sergei Gerasimows Kriegstagebüchern aus Charkiw. Der Schriftsteller verzweifelt schier am Hass, den Russen auf Ukrainer, den Ukrainer auf Russen haben. Dabei ist die Lage viel komplizierter, schreibt er: "Die meisten Menschen, die in Charkiw leben, sprechen Russisch - ganz gleich, was die Propaganda darüber faselt -, und dennoch sind sie bereit, der Ukraine bis zum Tod die Treue zu halten. Viele haben das bewiesen, indem sie an der Front starben. Es waren die russischsprachigen Städte Charkiw, Odessa und Mariupol, die 2014 die russische Plage aufhielten. Dieselben Städte, und natürlich Kiew, haben die russische Pest 2022 zum zweiten Mal zum Stehen gebracht. Wenn wir sagen 'Ukraine oder Tod', dann meinen wir nicht 'Nation oder Tod', wir meinen etwas ganz anderes. Für mich ist es gleichbedeutend mit 'Freiheit oder Tod'. ... Unsere Revolution von 2014 hieß 'Revolution der Würde', nicht 'Revolution der Nation' oder etwas in der Art. Würde und Freiheit haben eine größere und umfassendere Bedeutung als eine Nation, weil sie global sind; sie gehören der Menschheit als Ganzem."

Weitere Artikel: Für die Welt porträtiert Elmar Krekeler den Diogenes-Verleger Philipp Keel. Adrian Kasnitz empfiehlt im Tagesspiegel das Lettische Literaturfilmfestival in Berlin. Aida Baghernejad wirft sich für die taz in die Welt von #BookTok.

Besprochen werden unter anderem Teresa Präauers "Kochen im falschen Jahrhundert" (NZZ), Verena Keßlers "Eva" (FR), Anthony McCartens "Going Zero" (FR), Ralf Rothmanns "Theorie des Regens" (SZ) und Angelika Overaths "Unschärfen der Liebe" (FAZ).
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Bühne

Manuela Infantes "Wie alles endet" beim Heidelberger Stückemarkt. Foto: Ingo Höhn

Echte Begeisterung weckt der Heidelberger Stückemarkt in diesem Jahr bei FAZ-Kritiker Jan Wiele, der die "Rohfassungsästhetik" der Lesungen ebenso genoss wie Diskurstheater. Besonders begeisterte ihn Manuela Infantes Basler Inszenierung "Wie alles endet", das er als groteskes Metatheater voller Anspielungen auf die Theatergeschichte preist: "Wie Elmira Bahrami, Marie Löcker und Gala Othero Winter darin perfekt eingespielt Sprechtheaterpointen abfeuern, mitunter auch tänzerisches und pantomimisches Talent offenbarend, ist an sich schon stark; wie sie dann noch an Mikrofonen ihre Sprache in durch 'Autotune' erzeugten Harmoniegesang verwandeln, ist angesichts der drastischen Weltuntergangstexte so überraschend wie überwältigend."

Besprochen werden die Autor:innentage am Deutschen Theater in Berlin (die FAZ-Kritikerin Irene Bazinger Unterkomplexes und Überkandideltes bescherten), Christopher Rüpings Verbindung von Monteverdis "Ulisse" und Joan Didions Bestseller "Das Jahr des magischen Denkens" beim "Ja, Mai"-Festival in München (FAZ) sowie die Ausstellung zu Sarah Bernhardt im Musée du Petit Palais (NZZ).

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Unglücklicherweise ist uns gestern der Tod der großen Grace Bumbry durchgerutscht. Dabei trauerten die Opernkritiker aufrichtig um die große Sängerin, die 1961 als erste Schwarze in Bayreuth sang, die Venus in Wagners "Tannhäuser", was Jürgen Kesting in der FAZ auch Wieland Wagner hoch anrechnet: "Dem Zetern der Zeloten hielt der Herr des neuen Bayreuths entgegen: 'Mein Großvater hat für Stimmfarben geschrieben, nicht für Hautfarben.'" Bumbry war eine Sensation war, sie sah brillant aus und spielte hinreißend, schwärmt Reinhard Brembeck in der SZ. Selbst ihr Wechsel vom Mezzo zum Sopran gelang ihr: "Das Strahlen ihrer Stimme wurde noch beeindruckender, die Dringlichkeit ihrer Menschenporträts noch intensiver." In der NZZ gerät heute Michael Stallknecht über ihre erotische Ausstrahlung ins Schwärmen: "Etwas von einem Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann, liegt in der unverkennbaren Mischung aus üppigem Schillern und kontrollierter Linienführung, kraftvoller Tiefe und erstaunlich leichter Höhe."

Hier Grace Bumbry als Carmen, ebenfalls eine ihrer Paraderollen:

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Film

"Wie wurde aus einem mittelmäßig talentierten Schauspieler einer der einflussreichsten Menschen im Filmgeschäft", fragt sich Florian Schoop in der NZZ mit Blick auf die Karriere von Til Schweiger. Swantje Karich ärgert sich in der Welt, dass alle Christian Petzolds "Roter Himmel" feiern, bei dessen Kinovorführung sie allerdings im Saal laut lachen musste. Katrin Nussmayer gibt in der Presse einen Überblick darüber, welche Filme und Serien derzeit vom Streik der Drehbuchautoren in den USA betroffen sind. David Auer erklärt, wer eigentlich James Gunn ist, dessen dritter "Guardians of the Galaxy"-Film gerade im Kino läuft und der künftig das filmische DC-Comicuniversum lenken wird. Besprochen wird die Netflix-Comedy-Show "Something Special" (Tsp).
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Stichwörter: Petzold, Christian, Netflix

Musik

Mit ziemlich mulmigem Gefühl kommt tazler Dirk Schneider von Roger Waters' Tourauftakt in Hamburg nach Hause. Den Aufritten vorausgegangen war eine Kontroverse, inwiefern der frühere Pink-Floyd-Mastermind mit antisemitischem Gedankengut zündelt und ob man seine Konzerte nicht verbieten lassen sollte. Auf der Bühne war nun zu erleben, wie Waters "seinen 'White Saviour'-Komplex in eitelster Weise auslebt: Bilder von Bombenexplosionen und hungernden Kindern flimmern über die Leinwand, während er in die Gitarrensaiten greift und Pink-Floyd-Songs spielt" und schließlich auch die Gier der Reichen anprangert. "Man fragt sich, ob der Multimillionär sein Publikum für so dumm hält, dass es nicht einmal auf die Idee kommt, eine Parallele zu ihm zu ziehen, der für die billigsten Plätze noch über hundert Euro verlangt. Am Auffälligsten ist, was für totalitäre Züge die Bühnenshow selbst trägt. Waters haut nonstop Slogans raus" und sortiert sein Publikum: "'If you are one of those 'I love Pink Floyd, but I can't stand Roger's politics' people, you might do well to fuck off to the bar right now.' Wer Waters' Musik will, hat gefälligst zu denken wie er."

Außerdem: Ane Hebeisen vom Tages-Anzeiger lässt sich von dem Rapper Emicida Brasilien nach Bolsonaro erklären. Gregor Dotzauer porträtiert für den Tagesspiegel die in Berlin lebende Jazzpianistin Marie Krüttli. Karl Fluch freut sich im Standard auf Early James' Wiener Konzert am Wochenenende. Cora Wucherer schreibt im ZeitMagazin über Taylor Swifts Beziehungsleben und ärgert sich darüber, dass Taylor Swifts Beziehungsleben so ein großes Thema bei den Fans und in den Boulevardmedien ist. Klemens Patek (Presse) resümiert die ersten Veranstaltungen des Eurovision Song Contests und lässt hier die Songs der Halbfinalisten Revue passieren. Marco Schreuder interviewt für den Standard die schwedische Contest-Favoritin Loreen. Evan Minsker schreibt auf Pitchfork einen kurzen Nachruf auf den legendären Illustrator Frank Kozik, der mit seinen Konzertplakaten und Schallplatten-Covern dem Alternative-Rock- und Punk-Underground der Achtziger und Neunziger sein visuelles Gepräge verpasst hat.

Besprochen werden Konzerte von Elton John (Tsp), Roy Ayers (Tsp) und Sol Gabetta mit der Bremer Kammerphilharmonie (FR) sowie von den Arctic Monkeys (FR) und der Berliner Staatskapelle unter Thomas Guggeis (Tsp).
Archiv: Musik